Auf dem Weg zum Ziel

Die Hirnforschung folgt Buddhas Spur

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Szenerie eines buddhistischen Klosters, dessen Meditationssuchende sich gerade in einer Gehmeditation üben, und der Beschreibung der eigenen Erfahrung, beginnt der Wissenschaftsjournalist James Kingsland, der seit 25 Jahren für renommierte Journale wie New Scientist, Nature und The Guardian schreibt, sein aufschlussreiches und auch für Laien verständliches Buch. Eingebettet in anekdotische Erzählungen führt Kingsland den Leser in Die Hirnforschung auf Buddhas Spuren in die spannende Welt der Interaktion von Geist und Gehirn. Eine zentrale Rolle nehmen dabei die kurzen Geschichten über den Königssohn Siddhartha ein. Kingsland erzählt, wie Siddharthas Vater versucht, der Prophezeiung des Wahrsagers zu entkommen, die in seinem Sohn das Potenzial zu einem großen geistigen Wahrheitssucher sieht oder zu einem der größten weltlichen Herrscher. Das Fernhalten von Leid, Alter und Tod soll den Sohn dem Weltlichen zuführen und einen großen Herrscher aus ihm machen. Des ständigen Genusses im Palast jedoch irgendwann überdrüssig, erkennt Siddhartha die Vergänglichkeit von allem Schönen. Der Same für seine asketische Wahrheitssuche ist gelegt.

Die Wahrnehmung der heutigen Jugend vergleicht Kingsland mit dem Erleben Siddharthas vor dessen Erweckung. Auch sie kennt Vergänglichkeit und Tod meist nur aus der Distanz heraus, so zum Beispiel als Bestandteil von Filmen und Videospielen. Das Faktum der eigenen Vergänglichkeit bleibt dabei jedoch Theorie. Bisweilen mag zudem die moderne Medizin glauben machen, der Vergänglichkeit ein Schnippchen schlagen zu können. Das alles und die ständige Verfügbarkeit von ablenkender Unterhaltung schaffen eine Art „Narrenparadies“, in dem wir leben. Das Buch möchte daher zeigen, „welche wissenschaftlichen Beweise die modernen Neurowissenschaften dafür erbracht haben, dass Menschen durch Meditation gerade nicht zu Zombies werden, sondern eine bessere Kontrolle über ihre Gedanken, Gefühle und ihr Verhalten erlangen“.

Die Entwicklungsgeschichte von Siddhartha dem Königssohn zu Buddha dem Erwachten dient Kingsland als Leitfaden durch sein Buch. Anhand dessen stellt er anschaulich die Missverständnisse oder auch Berührungsängste mit der östlichen Philosophie des Buddhismus aus westlicher Sicht dar. Zudem dient ihm westliche Philosophie – beispielsweise in Gestalt von David Hume –, dazu, aufzuzeigen, wo die Überschneidungen zwischen der östlichen und westlichen Perspektive liegen.

Begleitende Zitate aus der persönlichen Begegnung Kingslands mit dem Mönch Ajahn Amaro machen das Ganze zu einer lebendigen Entdeckungsreise. Zentral ist dabei die Erforschung von Gegensatzpaaren, die im Westen so selbstverständlich sind, wie sie im Osten verschwunden sind. „Es ist so wichtig zu erkennen, dass das Konzept von ,ich‘ und ,mein‘ nichts anderes ist als eine praktische und bequeme Fiktion“, sagt ihm Amaro in einem Gespräch unter vier Augen und attackiert damit Kingslands eigene Haltung, der in Buddhisten „teilnahmslose Betautomaten“ sah. Denn tatsächlich ist es so, dass der Buddhist permanent im Austausch mit seiner Umwelt ist. So wie das Ein- und Ausatmen uns beständig mit der Umwelt verbindet, Sauerstoff aufgenommen und Kohlendioxid ausgeschieden wird, so unmöglich ist es, uns davon wirklich abzukoppeln. Diese allumfassende Perspektive ermöglicht es, Einheit wahrzunehmen – das grundlegende Prinzip im Buddhismus. Ein Ego, also ein „Ich-bin“, macht im Verhältnis zu „du bist“ aus dem Einen zwei. Verschwindet das Ego, wird unbeschränkte Einheit wahrgenommen. Das Leid, das aus der Dualität entsteht, muss in der Folge ebenfalls verschwinden. Das wird auf der Grundlage einer introspektiven Erfahrung entdeckt und ist gerade nicht erlebbar auf der strukturellen Denkebene des „Ich bin“-Egos. Daher wird solch ein introspektives Erlebnis nicht selten als „Blitzschlag“ erfahren. Plötzlich wird etwas erfasst, während der Gedanke nicht mehr ist.

Als Kingsland dem angesehenen Abt des Klosters begegnet, ist er irritiert von der lächelnd vorgetragenen Bemerkung: „Irgendwie sind wir alle verrückt“. Das beständige gedankliche Kreisen um Alltagssorgen und Aufregungen versetzt den Mensch in einen Zustand, der aus meditativer und buddhistischer Sicht alles andere als gesund ist. „Egal wie vernünftig oder geistig fit wir sind: Wir beschäftigen uns viel zu viel mit unserer gesellschaftlichen oder beruflichen Stellung, mit Gedanken an Krankheit und Alter, verzehren uns nach allen möglichen materiellen Dingen oder ärgern uns über unsere Fehler und Schwächen oder die anderer Leute.“ Um sich dieses ungesunden Zustandes bewusst zu werden, bedarf es der Distanzerfahrung von Ich-Handeln und Denken. Um die Lücke zwischendrin aufzuspüren, bietet die Meditation eine Chance. Allerdings suchen die wenigsten den Ort zur Bewusstwerdung freiwillig auf, denn Vergnügungen und Ablenkungen gibt es zuhauf. Oftmals führt ein einschneidendes Erlebnis, ein Verlust, ein intensives Leiden zu einem Knick in der Biografie. Zu diesem Zeitpunkt wird das Leugnen von Leiden als „Dukkha“ trotz Vergnügungen und Ablenkungen unmöglich. Wenn dann alte Programme der Tröstung nicht mehr funktionieren, wird oft erstmals die drängende Frage nach einer Alternative gestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt der „verrückte Zustand“, von dem der buddhistische Klosterabt spricht und in dem bisher agiert wurde, im Dunkeln. Solange der Verstand als einzige Instanz wahrgenommen wird, ist das Gedankenkreisen ein als selbstverständlich hingenommener Zustand. Die Lücke, die zu einer freieren Sicht auf die Gedankenformationen führen könnte, kann nicht vom Verstand erkannt werden. Seine Aufgabe besteht im reibungslosen Ablauf der Analyse von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dingen: Ist es kalt oder heiß? Ist es angenehm oder unangenehm? Ist es schwarz oder weiß? Unser Biocomputer ist ein wunderbares Instrument. Er kann perfekt unterscheiden und auf dieser Basis nützliche Ergebnisse liefern. Das Instrument arbeitet präzise, aber die buddhistische Sichtweise macht klar, dass der Mensch nicht das Instrument selbst ist.

Der laut geäußerten oder latent vermittelten Unterstellung, Meditation würde eine Lebensabkehr erzeugen und der Mensch werde dadurch zu einem willenlosen Wesen, eben einem „Zombie“, wird im Buch nachgegangen. Wissenschaftliche Belege über die positive Wirkung von Meditation und die praktische Anleitung zu Meditationsübungen, die kapitelweise erfolgt, liefern eine Anleitung zur Selbsterfahrung, die negative Vorannahmen entkräften helfen. Die von Kingsland in das Buch aufgenommenen Übungen beginnen klassisch mit der Fokussierung auf den Atem. Dazu gibt er Tipps für eine angemessene Kleidung, Sitzhaltung und Einstellung sowie Informationen zur Übungsdauer und -frequenz. Zudem finden gerade auch die durch Jon Kabat-Zinn bekanntgewordenen Methodiken der „Bewussten Wahrnehmung“ und des „Bodyscan“ Aufnahme in Kingslands Buch. Die Meditationsübungen sind sorgsam in ihren jeweiligen wissenschaftlichen Kontext eingebettet, dessen Inhalte in einem sehr zugänglichen narrativen Stil vermittelt werden. Medizinisch-wissenschaftliche Fachbegriffe werden für den Laien verständlich erklärt, einzelne Schaubilder helfen dabei. Zitate von bekannten Wissenschaftlern und aus alten buddhistischen Schriften geben dem Text Lebendigkeit.

Sehr anschaulich ist Kingslands Beschreibung des nonfokussierten Denkens, das er mit einem Hund vergleicht, „den man im Park von der Leine gelassen hat und der nun anfängt, wie verrückt herumzutollen“. So nötig und praktisch der zielgerichtete Umgang mit dem Denken auch ist, so gehandicapt sind wir mit ihm im sogenannten aktivierten „Zerstreuungsmodus“. Kingsland fragt sogar, ob uns dieser „unglücklich“ macht? Wissenschaftler haben zu den Ablenkungsmechanismen geforscht. Eine App wurde entwickelt, um die Nutzer zu fragen: „Was tun Sie gerade? Wie fühlen Sie sich gerade? Denken Sie gerade an etwas Anderes als das, was Sie gerade tun?“ 47 Prozent lassen sich ablenken von dem, was sie gerade tun, und das nahezu unabhängig von ihrer Tätigkeit. Die Ablenkung wiederum führt zu einem verschlechterten Stimmungszustand. Somit lässt sich aus der Datenerhebung schließen, „dass Zerstreuung die Ursache für Unglücklichsein ist und keine bloße Nebenwirkung“. Zudem kann ständiges Gedankenkreisen Stress auslösen. Die körperlichen Auswirkungen von Dauerstress wie Schlaflosigkeit, Bluthochdruck und Herzkrankheiten sind hinlänglich bekannt und erforscht. Eindrucksvoll beschreibt Kingsland den Erfolg verschiedener Meditationstechniken, die letztlich gemeinsam haben, den Praktizierenden in einen Entspannungszustand zu versetzen. Hierdurch findet eine Aktivierung des parasympathischen Nervensystems statt, das die negativen Auswirkungen der Stressoren ausgleicht und zu tiefer innerer Ruhe führt. Durch die Entspannungsreaktion wird wiederum die „Zellalterung deutlich verlangsamt“, was auf die durch sie ausgelöste „Reparatur und Erhaltung von Telomeren“ zurückgeht.

Im Westen trifft man auf die Annahme, dass der Gedanke aus dem Eigenbesitz des Gehirns stammt, das als „einheitliches, irgendwie hierarchisch strukturiertes Organ“ gesehen wird, in dem es eine Instanz gibt, die ,Bescheid weiß‘. Kingsland leitet anhand der geschilderten neurologischen Defekte des „Alien-Hand-Syndroms“ und des „Split-Brain“ wissenschaftlich ab, dass es solch eine übergeordnete Instanz nicht geben kann. Rechte und linke Gehirnhälfte interagieren zwar miteinander, können aber auch getrennt voneinander Effekte ausleben. Im Anschluss an den Neurowissenschaftler David Eagleman zeigt er, wie das Innenleben des Gehirns eher einem „Ort“ gleicht, „wo sich mehrere rivalisierende Teams um die Vorherrschaft streiten“. Die Gewissheit von einem festen „Selbst“ muss somit infrage gestellt werden. Kingsland geht dem mit der Teilnahme an der beliebten Meditationsübung „Wer bin ich?“ nach. Sein Smartphone schickt ihm als Antwort zunächst seine Adressdaten auf das Display. Er fragt selbstreflexiv weiter. Die aufkommende Antwort „ein Mensch“ kann er gelten lassen. Im Anschluss daran erkundet er wissenschaftlich die Funktion derjenigen Gehirnareale, die bei der Selbstreflexion aktiv sind. Innerer Stirnlappen und Gyrus cinguli reagieren beim Menschen zum einen stärker als bei Primaten und sind zum anderen enger verknüpft. Somit ist die Selbstreflexion ein Indiz für ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Kingsland stellt die bemerkenswerte Beobachtung heraus, dass die Aktivierung der Areale für Selbstreflexion bedingen, dass die Areale für Aufmerksamkeitsübungen ruhen. Nur ein „Netzwerk“ von beiden kann jeweils aktiv sein: „Das eine wird benötigt und ,eingeschaltet‘, wenn eine Aufgabe mit voller Konzentration erledigt werden muss, und ein anderes für Selbst-Reflexion, Nachsinnen über Erlebtes, Tagträumen oder Pläneschmieden für die Zukunft“. Somit ist erklärbar, dass wir uns völlig vergessen können (d.h. nicht mehr über uns selbst reflektieren), wenn wir in einer Aufgabe völlig aufgehen (d.h. aufmerksam und ausschließlich auf die jeweilige Aufgabe ausgerichtet sind).

Bereits eine achtwöchige Achtsamkeitsmeditation lässt sich in ihrer Auswirkung neurologisch nachweisen. Mit Meditation wird „unsere Aufmerksamkeit von selbstbezüglichem Denken“ umgelenkt „zu einer losgelöst-zufälligen, momentweisen Wahrnehmung körperlicher Empfindungen und unserer Umgebung“. Es besteht überdies ein schmerzlindernder Zusammenhang. Bei regelmäßiger Praxis „wird dieser Perspektivwechsel so tief verwurzelt, dass die charakteristischen Änderungen der Gehirnaktivität nicht nur während der Meditationsphasen selbst beobachtet werden können, sondern während des gesamten Wachzustands permanent vorhanden sind“. Einer Studie zufolge aber „beschäftigen sich die Menschen lieber mit allem Möglichen, nur nicht mit ihren Gedanken“ sofern sie sich niemals einer „einschlägigen Übung“ gewidmet haben. So kann man sagen, dass „der ungeschulte Geist […] höchst ungern allein mit sich selbst beschäftigt“ ist und er trainiert werden muss, die Aufmerksamkeit auf den Moment zu richten. Dies ist der Grund, warum die Atemmeditation, die durch ihren beständigen Ein-und-Aus-Rhythmus unablässig mit der Umwelt interagiert, eine der grundlegenden Übungen zur Momentfokussierung ist.

Veränderungen oder Degenerationen im „Zerstreuungsnetzwerk“ des Gehirns stehen nach Kingsland mit einer Reihe von Krankheiten in Verbindung wie zum Beispiel der Depression und Psychose. Es wird vermutet, dass Meditation hier eine positive Wirkung hat, da sie eben darauf zielt, die „Zerstreuung“ bewusst zu regulieren. „Es wurde sogar schon die Vermutung geäußert, Meditieren könne vor Alzheimer schützen, jener Krankheit, die insbesondere durch die fortschreitende Degeneration des Zerstreuungsnetzwerks gekennzeichnet ist, möglicherweise als Folge lebenslänglicher Überaktivität in diesem Bereich.“ Abbildungen des Gehirns von Meditierenden mit viel Erfahrung zeigen, dass die Aktivität des „Zerstreuungsmodus“, insbesondere im sogenannten hinteren Gyrus cinguli, reduziert ist. Zugleich kann der Stirnlappenbereich, der für „Entscheidungsfindung“ und „Gefühlskontrolle“ zuständig ist, aktiviert werden. Mit anderen Worten: Die jahrelange Meditationspraxis erzeugt hirnphysiologische Veränderungen, die letztlich der „emotionalen Selbstregulierung“ dienen. Dabei geht es nicht um Empfindungslosigkeit, sondern um eine äußerst rasche Regulierung von Puls, Cortisolspiegel und anderen messbaren Körperreaktionen auf ein Normalmaß nach stattgefundenen Stresserlebnissen. Mit regelmäßigen Achtsamkeitsübungen schützen wir die Gehirnregion des Hippocampus vor „stressbedingten Schädigungen und bewahren uns dadurch vor geistigen Krankheiten“. Kingsland macht die Meditation „als eine Art Reparaturmodus“ aus: „wie bei einem Fehlersuchprogramm lassen sich Fehlschaltungen, Mängel und Fehler aufspüren, die sich im Lauf der Evolution im Gehirn eingeschlichen haben“.

Wir brauchen einen objektiven, aktuellen und vor allem unverfälschten Informationsaustausch zwischen Körper und Geist. Eine „gesunde emotionale und physiologische Regulierung“ ist dann möglich, wenn keine Beeinflussung durch Gedanken, Vorstellungen etc. erfolgt. Der Fokus des Aufmerksamkeitstrainings liegt genau darin. Gelingt es also, den Modus der Zerstreuung zugunsten der Fokussierung zu minimieren, dann dürfte dies erhebliche positive Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit haben. Neben einer emotionalen Stabilität kann auf ihrer Grundlage auch ein Anstieg rationaler Entscheidungen verzeichnet werden. Kingsland liefert zudem „vorläufige Belege“ aus Wissenschaft und Forschung, die aufzeigen, „dass altersbedingte Gehirndegeneration durch Meditation verlangsamt oder sogar umgekehrt werden kann, dass die Dicke der Großhirnrinde und die Dichte der Nervenzellkerne (,Graue Zellen‘) und der Weißen Substanz (Nervenbahnen oder ,Axone‘) erhalten bleibt“. Wenn das Ziel also „Stabilität und Gesundheit“ heißt, dann liefert dieses Sachbuch wichtige Erkenntnisse aus der Hirnforschung auf einer allgemein verständlichen Basis, die zweifelsohne nahelegen, Buddhas Spur zu folgen und die Wirksamkeit der Meditation anzunehmen sowie als gesundheitsfördernde Zielgrundlage in die Lebenspraxis zu integrieren.

Titelbild

James Kingsland: Die Hirnforschung auf Buddhas Spuren. Wie Meditation das Gehirn und das Leben verändert.
Übersetzt aus dem Englischen von Wolfgang Seidel.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim 2019.
331 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783407864444

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