Jedes Leben birgt verschiedene Geschichten

Zum Tod der ungarischen Philosophin Ágnes Heller (1929–2019)

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Ágnes Heller war in ihrem Leben Schicksalen und Schrecknissen ausgesetzt und zugleich überrascht ihre produktive Schaffenskraft, die bis zu ihrem Tod anhielt. Am 12. Mai 1929 in Budapest geboren, hatte sie als Kind die Schrecknisse der Deportationen ungarischer Juden unmittelbar miterlebt. Im Unterschied zu ihrem Vater und vielen ihrer Verwandten war sie mit viel Glück zusammen mit ihrer Mutter der Vernichtung entkommen. Nach ihrem Studium promovierte Heller 1955 bei Georg Lukács, der damals auch international zu den führenden Köpfen der marxistischen Philosophie zählte. Heller avancierte zu seiner brillantesten Schülerin. Erste Risse im ideologischen System hatten sich jedoch längst gezeigt. Die Monate des ungarischen Volksaufstandes von 1956 zählte sie stets zu den intensivsten ihres Lebens. Umso einschneidender hatte die junge Philosophin die gewaltsame Niederschlagung durch sowjetische Truppen empfunden. Ihre Illusionen über die Reformierbarkeit des „real existierenden Sozialismus“ waren mit der Invasion im August 1968 endgültig zusammengebrochen, als das tschechoslowakische Experiment eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ von Panzern des Warschauer Paktes zermalmt wurde. Gemeinsam mit anderen jungen Intellektuellen wie ihrem Ehemann Ferenc Fehér, György Márkus oder Mihaly Vajda bildete sie Ende der 1960er Jahre die sogenannte „Budapester Schule“, die in Anregung von Georg Lukács den Marxismus weiterdenken und nicht zuletzt der Parteiorthodoxie eine anspruchsvolle Alternative entgegensetzen wollte. Das Regime reagierte jedoch mit Berufs- und Publikationsverboten und drängte die unangepassten Akteure gegen Ende der 1970er Jahre in das westliche Exil. Seit 1977 lehrte Heller als Professorin für Soziologie im australischen Melbourne. 1986 trat sie die Nachfolge von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School für Social Research in New York an.

In einem ihrer letzten Bücher, Eine kurze Einführung in meine Philosophie (2017), gibt Heller Auskunft über ihre philosophischen und politischen Lehr- und Wanderjahre. Zu ihren Stärken gehörte neben ihrer Redlichkeit, die eigenes Unvermögen nicht ausklammerte, eine ausgeprägte Lust an der Philosophie und eine lebenslange Bereitschaft, sich neuen denkerischen Herausforderungen auszusetzen. Vom ursprünglichen marxistischen Paradigma ausgehend hatte sich Hellers Denkbewegung hin zu offenen Feldern ausgerichtet; sie scheute sich nicht, zuzugeben, dass reflektiert aufgeworfene Fragen oft wichtiger sein können als scheinbar feststehende Antworten.

Seit den 1980er Jahren bezeichnete sich Heller nicht mehr als marxistische Philosophin. Zugleich leugnete sie ihre ursprüngliche Prägung und Beziehung zur politischen Bewegung der Linken nicht, auch wenn sie gerade seit ihrer Zeit im Westen politische Erfahrungen gemacht hatte, die sie verstörten. Vor allem war sie von der Naivität gegenüber einer aggressiven sowjetischen Politik irritiert. Heller scheute sich nicht, gegen den Strich zu bürsten, und so lassen manche ihrer Einwürfe, beispielsweise in Bezug auf die westliche Friedensbewegung, aufhorchen. Klar distanzierte sie sich vom Pazifismus: Dieser „wäre gewaltige Heuchelei von jemandem wie mir, die ich, seit ich zehn Jahre alt war, den Kriegsausbruch kaum erwarten konnte – als einzigen Weg, den Nazismus zu vernichten“. Vehement kämpfte sie dafür, „Frieden“ und „Freiheit“ nicht gegeneinander auszuspielen.

Bereits als junge Philosophin hatte sich Heller eher marginalisierten Themen wie etwa einer marxistischen Interpretation des Alltags gewidmet. Ihre Theorie der Gefühle (1980) hatte zudem weithin Aufmerksamkeit erregt. In ihren jüngsten Büchern wie etwa in Ist die Moderne lebensfähig? (1995) oder Von der Utopie zur Dystopie: Was können wir uns wünschen? (2016) verknüpfte sie Komplexe wie „Freiheit“ und „Leben“ vor dem Hintergrund der Herausforderungen einer globalen Moderne. Hellers Abschied vom universalen Fortschritt ist einem „Bahnhof der Gegenwart, in dem wir uns niederlassen sollten“, gewichen.

Ágnes Heller ist im Juli 2019 beim Baden im ungarischen Plattensee im Alter von 90 Jahren ertrunken.