Das Johlen im Hintergrund

Deutsch-sowjetische Freundschaft im Spätsommer 1939: Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ und andere musikalische Klänge in der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Dreimal lässt Peter Weiss Jakob Rosner als singenden Redakteur und Deuter der aktuellen politischen Lage in seinem monumentalen Roman Die Ästhetik des Widerstands auftreten. Eingeführt wird er als „grauhaariger Gnom“, „wienerisch vor sich hinsummend und flötend.“ Der ehemalige persönliche Sekretär Georgi Dimitrows lebt als Kommunist im schwedischen Untergrund in einer „kleinen Kammer“. Der Ich-Erzähler des Romans trifft ihn zum ersten Mal Ende August 1939. Am 24. August war der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt unterzeichnet worden und damit der entscheidende Schritt zur Auslöschung Polens getan. Wie Herbert Wehner, der unter seinem Decknamen Funk ebenfalls im Roman auftaucht, beherrscht Rosner „die Aktensprache, die Funktionärssprache“ der Partei. In dieser Sprache stellt die Rechtfertigung dieses Paktes kein wirkliches Problem dar für einen Schreiber, der, „im Nachthemd hockend hinter den Zeitungen“, noch die absurdesten Beschlüsse der KPdSU zu rechtfertigen weiß.

Rosner suhlt sich geradezu in der Selbstsicherheit seiner ideologischen Überzeugungen. Und er glaubt an das „gedruckte Wort“, dessen Herr und Meister er ist: „Das gedruckte Wort, sagte er, mich strahlend anblickend durch die Brille mit den dicken Gläsern, hat eine Kraft, der keine Mauern gewachsen sind, irgendwo ist immer ein Riß, den sie zu durchdringen vermag.“ Dieser fast blinde Zwerg, dieser Maulwurf in seinem Bau führt seine Leser und Zuhörer, lächelnd und eine Melodie summend oder pfeifend, nahezu elegant durch die unglaublich anmutenden historischen Ereignisse rund um den Kriegsbeginn im Spätsommer 1939.

Das erste Musikstück aus seinem Mund, das sich identifizieren lässt, ist ein Wienerlied von Rudolf Sieczyński aus dem Jahr 1912: „So sah ich Rosners lachendes Gesicht, seinen kurzsichtigen Blick, hörte ihn durch die Zahnlücken singen von der Stadt seiner Träume“. „Wien, Wien, nur du allein / Sollst stets die Stadt meiner Träume sein!“, heißt es in dem weltbekannten Lied, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. 1935 singt der österreichische Tenor Richard Tauber in dem Musical-Film Heart’s Desire das Lied auf Englisch. Tauber war 1933 in Berlin vor dem Hotel Adlon von einem SA-Trupp attackiert und mit den Worten „Judenlümmel, raus aus Deutschland“ beleidigt worden. Rosner, der österreichische Journalist mit jüdischen Wurzeln, hatte lange Zeit in Wien gelebt. Das Wienerlied darf als Symbol einer vermeintlich ungebrochenen Wien-Seligkeit aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg betrachtet werden, doch Rosner singt es ohne erkennbares Zeichen von Heimweh oder Nostalgie. Sein „lachendes Gesicht“ zeugt, banal gesprochen, von guter Laune, die angesichts der historischen Ereignisse kurz vor Ausbruch des Krieges völlig unangemessen erscheinen muss. Ein unüberbrückbarer Graben trennt die volkstümliche Gemütsseligkeit vom tagesaktuellen Geschehen, eine Diskrepanz, die bereits in der englischen Version des Liedes  kaum zu überhören ist.

Hatte Rosner schon den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt mit Hilfe der Parteisprache ohne den Hauch eines Zweifels erklärt, so entspringen, unterstützt durch sein „neues Gebiß“, erneut parteikonforme Formulierungen leicht und mühelos seinem Mund, wenn es nun, nach dem 28. September 1939, darum geht, den Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag zu kommentieren und „die Lage nach der Aufteilung Polens“ zu erörtern. Mittlerweile hat er von der Partei einen Radioapparat zur Verfügung gestellt bekommen: „Halt, konnte er plötzlich rufen, wenn ein Musikstück ihm zusagte, den Kopf legte er zurück, wiegte ihn hin und her, diesmal zur Stimme Edvard Perssons aus Skåne, dessen volkstümliche Lieder er besonders liebte.“ Weiss lässt die Grenze zwischen Gesang und politischer Erläuterung verschwimmen, wenn Rosner, die „geplärrte Melodie mitsummend“, auf die Fragen des Ich-Erzählers antwortet. „Der schmalzige dialektgefärbte Gesang“ Perssons bildete den Hintergrund nicht nur zum Bericht des Ich-Erzählers, sondern er legt sich wie ein schmieriges Geräusch über den absurden Versuch Rosners, die weltpolitische Lage mit den Direktiven der Partei in Übereinstimmung zu bringen.

Am 9. April 1940 schließlich überfällt die deutsche Wehrmacht Dänemark und Norwegen, und auch an diesem Tag ist es Rosner, der es fertigbringt, diesen Kriegsakt als „eine Absicherung der Sowjetunion“ zu deuten. Rosner – „ ein kleiner, vor ihnen geflüchteter Jude, den hätten sie gleich, wären sie seiner habhaft geworden, erschlagen“ – kritzelt „am neunten April, zum Lied von der Erde, aus dem Radio, seltsam Lobendes über sie aufs Papier.“ Gelobt wird das nationalsozialistische Deutschland, der neue Freund und Verbündete der Sowjetunion.

Wir ersparen es uns, die hanebüchene Argumentation Rosners, die sicherlich kein Jota von der damaligen offiziellen kommunistischen Lesart der Ereignisse abweicht, zu referieren. Auch Weiss verzichtet darauf, die Suade des Parteifunktionärs rational ad absurdum zu führen. Vielmehr lässt er diesen, wie bereits zweimal zuvor, erneut als Sänger auftreten. Mehrfach singt Rosner Verse aus dem Lied Der Trunkene im Frühling, dem vorletzten aus Gustav Mahlers Liederzyklus Das Lied von der Erde. „Wenn nur ein Traum das Dasein ist, sang Rosner, und ein Johlen war dahinter zu vernehmen, warum dann Müh und Plag.“ Was hat es mit diesem Johlen auf sich?

Unmittelbar vor dieser Gesangseinlage heißt es:

In Wien war auch Mahler zu Hause gewesen, sein Empfinden und Denken war dort geformt worden, von der Unstetigkeit, dem Wandertrieb, der zerrißnen Tiefe und Geistigkeit seiner Widersacher, zu ihrem Vorsänger war er geworden, viele derer, die jenseits der Grenze standen, hatten ihm gelauscht, vielleicht zu Tränen gerührt, bis sie ihn, lebte er noch, aufs Pflaster gedrückt, ihm den Mund am Stein zerrieben hätten.

Die Rede ist hier wohl von den „Reibpartien“. Der Anschluss Österreichs im März 1938 hatte exzessive antisemitische Ausschreitungen zur Folge: „So wurden sie unter anderem gezwungen, in so genannten Reibpartien Bürgersteige von anti-nationalsozialistischen Slogans zu reinigen. Dieser Ausbruch antisemitischen Hasses erfolgte spontan und war von keiner Seite vorhergesehen worden.“ Weiss entwirft eine ans Surreale grenzende Szene. Das Johlen im Hintergrund verweist auf die aufgeheizte Stimmung in diesen Tagen im März 1938, wie sie auch Carl Zuckmayer beschreibt: „Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte.“ Ähnlich die Schilderung bei Stefan Zweig in seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern: „Mit nackten Händen mußten Universitätsprofessoren die Straßen reiben, fromme weißbärtige Juden wurden in den Tempel geschleppt und von johlenden Burschen gezwungen, Kniebeugen zu machen und im Chor ‚Heil Hitler‘ zu schreien.“ Rosner, der Trunkene im Frühling, hört dieses Johlen nicht, er hat sich ganz seinem Gesang hingegeben. Zweimal noch lässt der Autor ihn singen: „Ich fülle mir den Becher neu, und leer ihn bis zum Grund.“ Und, etwa eine Seite später: „Er stemmte sich in die Papiere, was geht denn mich der Frühling an, summte er, laßt mich betrunken sein.“ Vorher bereits hat er das Lied zum Anlass genommen, sich und dem Ich-Erzähler Wein einzuschenken: „Schwer atmete Rosner auf, erhob sich vom Stuhl, wobei er kleiner wurde, zog, aus Zeitungsbündeln, eine Flasche hervor, holte ein Paar Gläser, schenkte Wein ein.“

Zwei, ja drei Klangwelten prallen hier aufeinander, vermischen sich und bilden ein im wahrsten Sinne des Wortes unerhörtes Klanggebilde: die Musik Gustav Mahlers im Radio, der Gesang Rosners und das Johlen der fanatischen Volksmassen im März 1938 in Wien. Um auch nur annähernd begreiflich zu machen, was es mit dem Lied von der Erde als Klangerlebnis auf sich hat, zitieren wir die Stimmen der Soziologen Alphons Silbermann und Theodor W. Adorno: „Trotz mancher kaum erklungener, auch schon wieder versinkender, aufjauchzend-lichter Stellen wird die das gesamte Werk schmerzvoll durchziehende Tragik des Dunkels des Lebens und des Todes in das unsichtbar verhauchende Ewige geführt“ (Silbermann). „Aber die sich selber ferngerückte Erde ist ohne die Hoffnung, die einst die Sterne verhießen. Sie geht unter in leeren Galaxien“ (Adorno). Diese kurzen Zitate lassen erahnen, wie sehr die Sprache, will sie die Musik Mahlers mit ihren Mitteln beschreiben, an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stößt. Jede nüchtern-wissenschaftliche Beschreibung dieser Lied-Symphonie würde verhindern, was Silbermann vom Zuhörer fordert, nämlich sich ganz „dem Wohl- und Schmerzensklang der Musik“ hinzugeben.

Wie verhält sich dazu Rosners gesangliche Interpretation? Weiss präsentiert ihn erneut als begeisterten Sänger, dem Form und Inhalt dessen, was er singt, völlig gleichgültig zu sein scheinen. Wie den Trunkenen in Mahlers Lied der Frühling nichts angeht, so Rosner die Absurdität seiner Verkündigungen. Er singt voller Inbrunst und Lust am Gesang, ist aber außerstande, die Tragik des Gesungenen nachzuempfinden. Schon gar nicht vernimmt er das Johlen im Hintergrund. Weiss drängt, was zeitlich wie räumlich voneinander entfernt liegt, zu einem Ereignis zusammen. Damit gelingt es ihm, das Nacheinander eines erzählenden Textes aufzuheben zugunsten einer Gleichzeitigkeit, in der erst die Tiefenstruktur der geschilderten historischen Ereignisse sichtbar werden kann. Nachvollziehen lässt sich dieser Kunstgriff für den Leser allerdings nur, wenn er in der Lage ist zu begreifen, was es mit dem Johlen auf sich hat. Und wenn er in einem weiteren Schritt den Kontrast erkennt zwischen dem hohen Ton der feierlich-melancholischen Musik Mahlers und dem Gesang Rosners.

Die hier geschilderten Treffen zwischen Rosner und dem Ich-Erzähler dürften die einzigen Stellen im Roman sein, in denen Musik die Rolle einnimmt, die ansonsten der bildenden Kunst oder der Literatur zugesprochen wird. Während die ersten beiden eher trivialen Musikstücke wie beiläufig erwähnt werden, versinnbildlicht Mahlers anspruchsvolle Musik durchaus den Gesamttenor des Romans. Denn einmal mehr wird deutlich, dass Weiss jeden Versuch, der Kunst einen festen Platz im politischen Kampf zuzuweisen, abwehrt. Diese Musik hat die Herzen derer, die Mahler „aufs Pflaster gedrückt hätten“, wäre er nicht bereits 1911 im Alter von 51 Jahren gestorben, ebenso gerührt wie die von Silbermann oder Adorno. Sie rückt an die Seite der Natur, wie Bertolt Brecht sie in seinem Gedicht Von der Willfährigkeit der Natur in den Blick nimmt: „Ach, dem Mann, der das Kind mißbraucht hinterm Dorfe / Neigen sich die Ulmen noch mit schönem schattigem Laub.“

Gustav Mahlers Musik ist eine des Todes. „Dunkel ist das Leben, ist der Tod“, heißt es im ersten Lied mit dem Titel Das Trinklied vom Jammer der Erde, wobei zwischen einem natürlichen Tod und dem gewaltsamen Sterben, wie Weiss es in seinem Roman in all seiner Drastik schildert, unterschieden werden muss. Dennoch legt sich mit Mahlers Musik ein resignativer Schatten über die unübersehbaren Bemühungen des Romans, die Möglichkeiten eines besseren, humaneren Lebens auszuloten. Denn wie könnte ein solches Wirklichkeit werden, wenn die, die es auf den Weg bringen sollen, verblendet, ja fast blind und taub sind – wie Rosner in seinem Wahn, Stalins Pakt mit dem Teufel in der hölzernen Sprache der Partei zu rechtfertigen?

Bei Mahler treffen Schönheit und Schrecken, einander steigernd, aufeinander. „Viele derer, die jenseits der Grenze standen, hatten ihm gelauscht, vielleicht zu Tränen gerührt“ – die Rede ist von den gleichen Menschen, die Mahlers Mund, wären sie seiner Person habhaft geworden, „am Stein zerrieben hätten.“ Wir wiederholen dieses Zitat nochmals, um seine provozierende Botschaft zu unterstreichen: Welche Form von Widerstand leistet eine Ästhetik, deren hohe Qualität auch den sadistischen Menschenschinder zu Tränen rührt?

Die Ästhetik des Widerstands reflektiert die Möglichkeiten einer freien und autonomen Kunst in einer historischen Epoche, in der diese Autonomie von den extremen politischen Kräften links wie rechts radikal in Frage gestellt wurde. Sinnbilder dieser Bedrohung sind die Pavillons der Sowjetunion, Deutschlands und Spaniens auf der Weltausstellung in Paris 1937. Während sich die Gebäude der UDSSR und des Deutschen Reiches in ihrer Monumentalität ebenso ähnelten wie im heroischen Realismus der in ihnen gezeigten Bilder und Skulpturen, präsentierte sich der Ausstellungskomplex der Spanischen Republik im klassisch-modernen Bauhausstil. Im Zentrum des Pavillons war Pablo Picassos Gemälde Guernica zu sehen, das die Zerstörung der gleichnamigen baskischen Stadt durch die deutsche und italienische Luftwaffe im spanischen Bürgerkrieg anprangert.

Dieses Gemälde, seither eines der weltweit bekanntesten, war damals keineswegs unumstritten. Von spanisch-republikanischer Seite etwa wurde dem Werk seine mangelhafte propagandistische Eindeutigkeit vorgeworfen. Weiss kommt in seinem Roman ausführlich auf dieses Bild zu sprechen; im Vordergrund steht dabei allerdings nicht der Bildinhalt, sondern seine Form. Kennzeichnend für die Kontroverse um das Bild ist die Behauptung, man müsse den Kritikern recht geben, „die dem Werk, von dem sie Agitation verlangten, eine Undurchschaubarkeit und Gebrochenheit vorwarfen.“

Wer versucht, die 950 Seiten des Romans auf ihren Kern hin zu hinterfragen, findet in diesem Vorwurf gegen Picassos Guernica eine gültige Antwort. Doch was marxistische Engstirnigkeit zum Mangel der Kunst erklärt, erweist sich bei Weiss letztlich als ihre Stärke. Denn Kunst im emphatischen Sinne dient keinerlei Botschaft, sondern ist Ausdruck eines genuinen Gestaltungswillens, der sich von keiner Seite in Dienst nehmen lässt. Bilder wie Picassos Guernica überbringen eine Botschaft, „die ohne das Bild unformuliert bliebe und über die ohne das Bild auch gar nicht zu sprechen wäre.“ Was der Kunsthistoriker Max Imdahl über das Gemälde sagt, lässt sich auf Mahlers Musik übertragen – und auf den Roman von Peter Weiss, auch wenn viele seiner Bewunderer weiterhin glauben, ihn ideologisch vereinnahmen zu dürfen.