Literarische Versteckspiele
„Die Artur-Knoff-Geschichten“ von Günter Grass
Von Herbert Fuchs
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNeu sind die Geschichten nicht, auch keine literarische Sensation, die der Steidl Verlag jetzt in einem kleinen Büchlein mit dem Titel Die Artur-Knoff-Geschichten veröffentlicht hat. Im gleichen handlichen Format wie die kürzlich publizierten Liebesgedichte von Günter Grass wird das Bändchen auf jeden Fall, beinahe wie eine Erstveröffentlichung, seine Leserinnen und Leser finden. Allein schon aus Neugierde auf einen „neuen“ Grass werden viele zu dem Buch greifen.
Die 14 Geschichten wurden 1968 in der Schriftenreihe des Literarischen Kolloquiums unter dem Pseudonym Artur Knoff veröffentlicht. Einige waren vorher bereits in der literarisch einflussreichen Monatszeitschrift Akzente erschienen. Um das Verwirrspiel um den wahren Autor zu vergrößern, erschien der schmale Band seinerzeit mit dem Bild des, wie man glauben sollte, Schriftstellers selbst auf dem Cover. Es zeigte einen jungen Mann mit Pfeife, Schnurrbart, moderner Brille, Mütze, in elegant-sportlichem Pullover, mit lässig übereinander geschlagenen Beinen, auf einem Schemel oder Stuhl sitzend und dem Leser erwartungsvoll entgegenblickend. Was man damals nicht ahnte: Nicht nur der Name war ein Pseudonym, auch das Foto auf dem Buchdeckel war irreführend; Es handelt sich dabei um Grass’ Ehefrau Anna, als Mann verkleidet und in männlicher Pose.
Die Geschichten verkauften sich damals nicht gut, obwohl sie in die Zeit passten. Kurzgeschichten waren in den 1960er Jahren eigentlich ein populäres literarisches Genre, das eine große Zahl von Leserinnen und Lesern hatte. Grass hat sich 1980 als Autor der Geschichten zu erkennen gegeben, längst sind siein der mehrbändigen Grass-Ausgabe des Steidl Verlags enthalten.
Was Grass, den in den späten 1960er Jahren bereits berühmten Roman-Autor und Lyriker, zu dem Pseudonym-Spiel bewogen hat, ist kaum mehr zu klären, letztlich auch nicht mehr wichtig; man kann darüber nur spekulieren. Die Texte laden dazu ein, in und zwischen ihren Zeilen den Erfinder Oskars und der Trommel zu entdecken, den Erzähler der Hundejahre-Begebenheiten um Eddi Amsel und Walter Matern und den Vogelscheuchen, den Autor, der die Jugendlichen Mahlke und Tulla und ihre Tauch- und Schwimmfreunde auf dem U-Boot vor Danzig so lebendig werden lässt, und den Dichter der phantastischen Windhühner und so vieler berühmter Gedichte aus dem Band Ausgefragt. Ohne den Namen Grass als Autor der Geschichten zu kennen, käme der Leser schwerlich auf die Idee, dass ein weltberühmter Dichter hinter den kleinen Texten stecken könnte.
Spuren Grass’schen Schreibens kann man allerdings durchaus, vor allem aus der heutigen Perspektive, erkennen. Da sind die langen Satzperioden, die eigenartigen Begebenheiten, die überraschenden Schlusssätze und die genauen Beobachtungen gesellschaftspolitischer Erscheinungen der 1960er Jahre und die einmal deutlichere, dann wieder eher unterschwellige Kritik daran. Der bürgerliche Stumpfsinn jener Tage bleibt nicht ungenannt und kommt nicht ungeschoren davon.
In nicht wenigen Texten überwiegen – das kennt man, wie oben angedeutet, aus den Romanen des Danziger Erzählers – die grotesk-skurrilen Begebenheiten und Töne. So handelt die Geschichte Susanne davon, wie ein älterer Mann, offenbar in einem Hotelgarten in Spanien, heimlich hinter einer Zeitung eine Frau beobachtet. Er beschreibt genau ihr Aussehen, ihre Sitzhaltung und vor allem, wie sie langsam 69 Streichhölzer einem Schächtelchen entnimmt und alle nach und nach anzündet und abbrennt. Der Höhepunkt der kleinen Geschichte ist ihr Schluss: Kaum hat sich die Frau aus ihrem Sessel erhoben, um in das Hotel zurückzugehen, springen „von allen Seiten alte Männer aus dem Gebüsch und über das Mäuerchen“ und balgen sich um die „krummgebrannten Hölzchen“, die die Frau achtlos fallengelassen hat. Auch der Erzähler wirft sich in das Gerangel und kann einige der abgebrannten Streichhölzer in sein Hotelzimmer „retten und auf der marmorgedeckten Kommode zu Pulver stoßen.“ Es ist ein vergeblicher absurd-komischer Versuch alter Männer, ein wenig Liebe und Erotik in ihrem Leben zu bewahren. Der desillusionierende Schlusssatz lautet: „Aber es half nur bis Sonnenuntergang“.
Die Idee ist durchaus witzig, auch ein wenig melancholisch und traurig. Interessant wird der Text durch seine vorwärtsdrängende Sprache. Das Abbrennen der Streichhölzer, das ausführlich beschrieben wird, lange Sätze, die mit ganz kurzen wechseln, und anaphorische Wendungen laden den Text literarisch-poetisch auf und suggerieren ein außergewöhnliches Erzählereignis. Der Leser muss am Ende entscheiden, ob seine Lektürewünsche eingelöst werden. Es ist auch ein Spiel des Autors mit Lesehaltungen und bestimmten Leseerwartungen.
Ein weiteres Beispiel für die Absurdität der Texte ist die kurze Geschichte Sophie. Die Titelheldin ist ein Kind, das immer lacht und alles lustig findet, auch eine Beerdigung. So verdirbt und zerstört ihr Gelächter die Trauer eines Freundes des Ich-Erzählers bei einer Begräbnisfeier. Der Schlusssatz ist wiederum Pointe und Höhepunkt zugleich: „Auch als ich dem Kind seinen lachenden Mund mit feuchter Erde stopfte, bis es still war, konnte der Freund nicht weinen und blieb verärgert.“
Texte wie Sophie lehnen sich an absurde Geschichten an, die in den späten 1950er und -60er Jahren in zahlreichen Sammlungen erschienen. Viele Probleme der Nachkriegszeit waren ungelöst, hatten sich aufgestaut und waren so unüberschaubar-komplex geworden, dass sie nur noch als absurde Ereignisse erzählt werden konnten. Grass’ wenige Theaterstücke aus der frühen Zeit seines Schriftstellerlebens sind Belege dafür, dass auch er eine starke Affinität zu einer solchen Schreibweise hatte.
Vielleicht steht der zeitkritische Schriftsteller Grass vielen nach wie vor näher als der überbordende Fabulierer und Lyriker. Diese Leser werden in Geschichten mit gesellschaftspolitischen Anspielungen eher „ihren“ Grass der 60er Jahre entdecken, der bereits seine Danziger Trilogie veröffentlicht hatte, als Wahlkämpfer für Willy Brand durch die deutschen Lande reiste und schon wenige Jahre später seine großen Romane Der Butt (1977) und Die Rättin (1986) veröffentlichen sollte.
Relativ deutlich wird die beißende Kritik an bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen in dem etwas längeren Text Einer unserer Mitbürger: Prinz Karneval. Darin wird die Wahl eines Karnevalsprinzen und seine anschließende Entthronung – „aus politischen Gründen“ – in einer niederrheinischen Kleinstadt „gegen Ende der fünfziger Jahre“ geschildert. Die Satire legt die Verlogenheit bürgerlicher Kreise in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg offen. Denn nicht wegen seiner ehemaligen SA-Mitgliedschaft darf der Radiohändler Boitz nicht Karnevalsprinz spielen, auch nicht wegen einer möglichen Verwicklung in einen Mord an einem Kommunisten zu Beginn der Naziherrschaft, sondern allein wegen des Vorwurfs, er habe als „Sturmführer im Jahre sechsunddreißig Gelder veruntreut“. Das verträgt sich nicht, so der Erzähler, mit den bürgerlichen Vorstellungen von Wohlanständigkeit; für alles andere aus Boitz’ Nazi-Vergangenheit hätte man Verständnis aufgebracht oder Wege gefunden, diesbezügliche Vorwürfe zu entkräften. Mit dem Satz des Erzählers, dass es ihm „keine Freude bereite, dass Herr Boitz aus politischen Gründen nicht hat Karnevalsprinz werden dürfen“, entlarvt Grass die Spießbürgermoral so mancher unbescholtener Wohlstandsbürger, hinter der allzu oft altes, verbohrtes Nazidenken steckte.
Weniger direkt, aber differenzierter, auch beunruhigender ist der Text – vielleicht der gelungenste der Sammlung – mit dem Titel Bikini Atoll. Als Datum wird, als handle es sich um einen Zeitungsbericht, der 12. Juni 1946 angeführt. In wenigen Worten lässt Grass eine Nachkriegslandschaft vor den Augen des Lesers erstehen: „und schaute über das flache, von Hecken, Pappeln, Einzelgehöften, Dörfern, ausgebrannten Panzern und Telegrafenstangen gezeichnete Land“. Der Text handelt vom Spargelbauer Matthias Törne aus „dem Dorf Lötsch, einem Flecken zwischen Breyel und der holländischen Grenze bei Venlo“. Solche realistisch anmutenden Angaben zu Personen, Örtlichkeiten und Geschehnissen sind typisch für die Sprache und die Erzählweise in den Geschichten. Der Leser erfährt, dass Bauer Törne seinen Hof verlässt, über seine Felder schreitet, an einer ganz bestimmten Stelle einen Kompass und eine Uhr aus der Hosentasche zieht und seinen Blick nach Südosten richtet. Aber es will sich offenbar nicht zeigen, was er zu sehen erwartet hat, „was die Radiomeldung versprochen und eine pilzförmige Wolkenwucherung genannt hatte“. Er macht enttäuscht kehrt und geht langsam zu seinem Hof zurück, „bückte sich im Gehen zweimal nach Unkraut und drehte sich auch vor dem Hoftor nicht mehr um.“
Der Text schildert in kargen Worten den Beginn der Atomversuche der Amerikaner auf dem Bikini Atoll, die Neugier und Sensationslust der Menschen und ihre erschreckende Ahnungslosigkeit über die wahren Zusammenhänge. Noch heute ist das Bikini Atoll strahlenverseucht und weitgehend unbewohnbar. Die Amerikaner nutzten es über Jahrzehnte als Gelände für ihre Atombombenversuche. Den älteren Leserinnen und Lesern mögen noch die damaligen Witze in Erinnerung sein: Wenn das Wetter einmal besonders schlecht war, dann, so beruhigte man sich, waren daran – und es lag ein sorglos-frivol-leichtfertiger Ton in solchen Erklärungen – die Atombombenversuche schuld.
Mit der letzten Artur-Knoff-Geschichte schließt sich ein Kreis; sie knüpft inhaltlich an Bikini Atoll- an. Darin irrt ein Sonderling mit einem Geigerzähler durch Läden und Straßen, um zu prüfen, ob er möglicherweise schädlichen Strahlen ausgesetzt sein könnte. Die Schlusssätze – sie lesen sich heutzutage viel bedrohlicher, als das Grass 1968 geahnt haben mag – lauten: „Schauen Sie! Da! Da drüben: zwischen Leineweber und Bilka läuft unser Original. Wie einen Hund führt er seinen Geigerzähler spazieren.“ Das Wort „Original“ ist mehr als verstörend. Es verweist zurück auf den Anfangssatz der Geschichte: „Die Originale sterben nicht aus“. Die Brisanz in dem Ausdruck, so hellseherisch er sein mag, scheint der fiktive Erzähler nicht zu erfassen, will das vielleicht auch nicht und verschiebt alles ein wenig auf die komische Seite. Anfang Juni 1986, nach dem Tschernobyl-Unfall, hat die Wirklichkeit den Text eingeholt und weit übertroffen: Man konnte in Zeitungen lesen, dass mancherorts Geigerzähler ausverkauft waren.
Die Artur-Knoff-Geschichten sind ein „kleiner Grass“, aber einer, der es 1968 in sich hatte, auch wenn die Leser das damals nicht wahrnahmen. Das Büchlein lohnt auch heute noch die Lektüre und lädt zum Schmökern während einer Zugreise etwa oder im Hotelzimmer oder im Wohnzimmersessel ein. Es macht wieder Lust auf die vor vielen Jahren gelesenen Romane des großen Autors und eignet sich als kleines Geschenk für Freunde.
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