Drahtseilakt der Lügen

Lea Singer erzählt in ihrem Roman „Der Klavierschüler“ von der verbotenen Liebe des Pianisten Vladimir Horowitz

Von Meike LohmeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Meike Lohmeier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang des Jahres stimmte das Europaparlament über das Verbot von Konversionstherapien ab, welche Homosexualität als eine Krankheit behandeln, die es zu heilen gilt. Trotz einer überwiegenden Mehrheit, die sich gegen die sogenannten „Umpoltherapien“ ausgesprochen hat, gibt es auch im Jahr 2019 noch immer Befürworter, die Homosexualität als eine psychische Erkrankung betrachten und sie als therapiebedürftig einstufen. Dass sich solche Behandlungen in erster Linie negativ auf die Betroffenen auswirken, davon zeugen die wenigen Erfahrungsberichte von ehemaligen „Patienten“. Tatsächlich besteht Unklarheit über die Anzahl von Anbietern solcher Therapien, ebenso über die der Betroffenen. Aus diesem Grund hat der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn eine Fachkommission einberufen, die Vorschläge zur Abschaffung der Konversionstherapien erarbeiten will, die noch Ende des Jahres vorgestellt werden sollen.

Die Debatten rund um dieses Thema sind neu, die Problematik selbst jedoch ist alt. Und so wird auch sie zum Dreh- und Angelpunkt des Konflikts, mit denen sich die Figuren in Lea Singers Roman Der Klavierschüler konfrontiert sehen. Bei diesen handelt es sich jedoch keineswegs um Unbekannte, im Fokus stehen vielmehr der berühmte Pianist Vladimir Horowitz (1903–1989), einer der bedeutendsten Klaviervirtuosen des 20. Jahrhunderts, sowie dessen Klavierschüler, der junge Schweizer Nico Kaufmann (1916–1996). Dass dieser weitaus mehr war, als Horowitzʼ Schüler, davon erzählt Singer in ihrem neuesten Roman. Als Grundlage dienten der Münchener Autorin unveröffentlichte Briefe von Horowitz an Kaufmann, die ihr vor sieben Jahren in die Hände fielen. Der Inhalt dieser Briefe offenbart eine Beziehung, die vor allem durch eines geprägt war: eine Lüge.

Als Erzähler fungiert in Singers Roman Nico Kaufmann selbst. Gemeinsam mit der fiktiven Figur des Schweizer Juristen Robert Donati, der mit seinen Fragen und Kommentaren den Leser gewissermaßen durch den Text führt, begibt sich dieser auf eine Reise zu den ehemaligen Schauplätzen seiner einstigen Liebesgeschichte mit Horowitz. In Rückblenden berichtet er seinem Begleiter von den seltenen Höhe- und den vielen Tiefpunkten ihrer Beziehung. Er berichtet von Wut und Trauer, von Krisen und Depressionen und von Horowitzʼ vielen Kämpfen – gegen seine Familie, gegen die Gesellschaft, aber vor allem gegen die eigenen Dämonen.

Als Kaufmann Horowitz kennenlernt, steckt der Pianist wieder einmal in einer seiner vielen Krisen. Der junge Schweizer trifft hier auf einen einsamen und auf den ersten Blick beinahe gefühllosen Menschen, der über Jahre hinweg gelernt hat, sein wahres Ich vor der Außenwelt zu verbergen. Schnell zeigt sich der Grund für dieses Leben im Verborgenen, das erfüllt ist von Ängsten und Unsicherheiten: die heimliche Homosexualität des Klaviervirtuosen. Die Ehe mit der Tochter des italienischen Dirigenten Arturo Toscanini entlarvt sich als Scheinehe und Horowitzʼ Leben als ein großes Versteckspiel. Würde diese pikante Information an die Öffentlichkeit geraten, so stände die Karriere des Pianisten vor dem Aus. Die Beziehung, die Horowitz mit seinem Schüler eingeht, stellt vor diesem Hintergrund ein großes Risiko dar – und doch ist er bereit, es einzugehen. Kaufmann berichtet Donati in diesem Zusammenhang von den heimlichen Treffen und den vielen Briefen, die sie sich schicken. In diesen kann Horowitz zum ersten Mal seit Langem wieder offen sein und sich mit all seinen Schwächen zeigen. Der Klavierschüler wird auf diese Weise zu einem Fluchthelfer aus dem Gefängnis, in dem Horowitz seit seiner Heirat mit Wanda sitzt.

Und doch holt die Realität die beiden immer wieder ein und es wird deutlich, was die ganze Zeit wie eine dunkle Vorahnung über der Erzählung schwebt: dass die Beziehung der beiden zum Scheitern verurteilt ist. Denn letztendlich basiert ihre Liebe auf einer Lüge, die Horowitzʼ Leben bestimmt. Die einzige Wahrheit in seinem Leben ist die Musik. Nur in ihr kann der Pianist wirklich frei sein, nur in ihr kann er der Mensch sein, den er ansonsten so rigoros verstecken muss. Ist er nach seinen Auftritten aber wieder allein, holen ihn seine Dämonen ein und es beginnt ein Kampf, den er vor allem gegen sich selbst führt, denn Horowitz sieht in seiner Homosexualität eine Krankheit. Eine Krankheit, die er bekämpfen möchte. Zu diesem Zweck begibt er sich sogar in psychiatrische Behandlung, um endlich „normal“ zu sein, ein Adjektiv, das jedoch in keiner Weise auf Horowitz zutrifft. Und so ist dem Leser von Anfang an bewusst, dass diese „Therapie“ erfolglos bleiben wird. In aber eben dieser Sichtweise, die ihm mehr oder weniger von seinem sozialen Umfeld auferlegt wurde, liegt die Quelle für viele seiner psychischen Probleme. Die Angst vor gesellschaftlicher Verachtung und vor strafrechtlichen Verfolgungen im Falle eines Outings ist so groß, dass sich Horowitz lieber das Leben mit einer Lüge aufbürdet, als der zu sein, der er wirklich ist. Und so zerbricht die Beziehung zu Kaufmann nach zwei Jahren und alle Versuche des Klavierschülers, sich seinem Lehrer wieder anzunähern, scheitern.

Lea Singer entwirft in ihrem Roman ein Künstlerporträt von Vladimir Horowitz, ohne dass sie seine Biografie schreibt. Der Fokus liegt auch nicht etwa auf seiner Laufbahn als Pianist, sondern auf der Persönlichkeit dahinter. In Der Klavierschüler geht es in erster Linie um einen Menschen, der sein Leben lang um sein Glück und um Liebe gekämpft hat. Dass dies nicht Singers erster Roman rund um eine Künstlerpersönlichkeit ist, wird vor allem daran deutlich, dass sie sich darauf versteht, Fakten und Fiktion geschickt miteinander zu verflechten. Beim Lesen entsteht aus diesem Grund schnell die Frage: Was ist Fiktion, was Realität? Mit Hilfe dieses Kunstgriffs wird jedoch an keiner Stelle des Romans der Nimbus des Jahrhundertpianisten angegriffen. Die ausgebildete Kulturhistorikerin zeigt vielmehr auf, dass sich hinter den offensichtlichen Fakten auch immer etwas Verborgenes, Hintergründiges verbergen kann, das viel mehr über eine Persönlichkeit auszusagen vermag, als dies auf den ersten Blick scheint. Sie will auf diese Weise den Menschen hinter den Fakten sichtbar machen, mit all seinen Stärken und Schwächen, seinen Höhen und Tiefen. Die Autorin schafft es dabei auch, den Drahtseilakt der Lügen, den Horowitz und Kaufmann vollführen, so darzustellen, dass die Gefahr eines Sturzes in die Tiefe für den Leser zu jeder Zeit präsent ist. Dabei behandelt sie die verbotene Liebesbeziehung stets mit viel Respekt und gibt keine allzu pikanten Details preis, was davon zeugt, dass es ihr nicht daran gelegen ist, das Privatleben des Pianisten auszuschlachten. Vielmehr geht es ihr darum, einen neuen Blick auf Horowitz als Person zu werfen.

Der Konflikt mit der Gesellschaft und die daraus resultierenden Ängste und Unsicherheiten schwingen in dem Gesagten, aber insbesondere in dem Nichtgesagten ständig mit. So sind Schweigen und die damit verbundene Stille nicht unwesentliche Bestandteile der Erzählung, die ihre ganz eigene Aussagekraft entwickeln und gleichzeitig den Worten eine größere Bedeutung verleihen. Hier wird ein Raum geschaffen, in dem sich das ganze Ausmaß der scheinbar ausweglosen Situation von Horowitz entfaltet, womit auch eine greifbare Spannung entsteht, die charakteristisch für die Atmosphäre des Romans ist, aber auch für Horowitz` Leben sowie dessen Beziehung zu seinem Klavierschüler. Singer zeichnet einen Menschen, der viele Widersprüche in sich vereint, der von Liebe, aber genauso auch von Hass geprägt ist. Ein Mensch, der wie ein Vogel in einem Käfig sitzt und dem nicht viel mehr übrig bleibt, als die eigene Musik. Die Angst, als der erkannt zu werden, der er eigentlich ist, aber auch die Angst, niemals wirklich glücklich sein und aus seinem Käfig ausbrechen zu können, wurden zu Horowitzʼ ständigen Begleitern. Gerade diese Ängste sind es jedoch, die ihn menschlich erscheinen lassen, obwohl er seine Menschlichkeit so oft zu verstecken versucht. Sie offenbaren den leidenden Menschen, der sich hinter der Fassade des gefeierten Pianisten verbirgt. Dass Horowitz im Roman trotz ständiger Rückschläge noch immer an die Liebe glaubt oder vielmehr glauben will, lässt ihn beinahe wie einen hilflosen Romantiker wirken, doch macht ihn diese Tatsache vor allem zu einer glaubwürdigen Figur.

Titelbild

Lea Singer: Der Klavierschüler. Roman.
Kampa Verlag, Zürich 2019.
224 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783311100096

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