Genies an den Grenzen des Wirklichen

Juliane Tranacher untersucht in ihrer Dissertation Geniekonzepte bei Daniel Kehlmann

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von den herausragenden Mathematikern Carl Friedrich Gauß und Kurt Gödel über den fiktiven Physiker Mahler bis hin zu dem undurchschaubaren Magier Beerholm sind Daniel Kehlmanns Romane reich an genialen Figuren, die bis an die Grenzen des Denkbaren vorstoßen und dabei vorzugsweise die Regeln von Raum und Zeit hinterfragen. Juliane Tranacher sieht in ihrer Dissertationsschrift die Geniefiguren gar als „Generalschlüssel“ zum Werk Kehlmanns, auch wenn sie einräumt, dass das zentrale Problem im Schaffen des Autors „das prekäre Verhältnis von Realität und Fiktion, von Traum und Ratio, von Wirklichkeit und Illusion“ ist. Den Geniediskurs berührt dieses Thema, da gerade Kehlmanns Genies durch ihre genialen Einsichten die Grenzen des scheinbar Wirklichen durchbrechen.

Vor dem Hintergrund eines ausführlich rekonstruierten Geniediskurses arbeitet die Verfasserin in ihrer thematologisch ausgerichteten Studie die Geniekonzeptionen in allen literarischen Texten Kehlmanns heraus, die bis 2016 verfügbar waren. Diese Ausführlichkeit ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass Tranacher ‒ sieht man von den kleineren Studien Joachim Rickes ab ‒ die erste umfassende wissenschaftliche Monografie zu Kehlmanns Werk vorlegt und diese daher offenbar auch als Einführung in dessen literarischen Kosmos begreift.

Die methodische Hinführung ist dabei kenntnisreich und bildet den gegenwärtigen Stand der Forschung ab, wird aber in der nachfolgenden Analyse nicht im vollen Umfang fruchtbar gemacht. So ist die Differenzierung zwischen Motiv, Stoff und Thema lesenswert, für die Auseinandersetzung mit Kehlmanns Werk aber verzichtbar. Umfassend und interessant werden Ursprung und Tradition des Geniegedankens von den antiken Ursprüngen bis ins 21. Jahrhundert dargestellt. Gut gelungen ist dabei besonders der Nachweis über die herausragende Stellung, die Arthur Schopenhauer für Kehlmanns Denken einnimmt. Gerade hier hätte man sich allerdings gewünscht, dass die folgenden Interpretationen diesen Bezug intensivieren. In den Analysen wirkt der Verweis auf die Genietradition aber oftmals eher pflichtschuldig und intensiviert die Lesart der kehlmannschen Texte kaum ‒ als wichtigster Beitrag Kehlmanns zur Geniethematik erscheint vor dem traditionellen Hintergrund die Erweiterung der Geniefiguren um den Naturwissenschaftler. Dabei engt Tranacher ihre ausführliche Hinführung in der Analyse zunehmend auf das Originalgenie ein und kann kehlmannsche Figuren wie den Fälscher oder Gaukler nicht als ironische Erweiterungen oder Brechungen des Geniediskurses sehen.

Insgesamt ‒ im wenig berücksichtigten Kontext postmoderner Literatur nicht sehr verwunderlich ‒ weist Tranacher nach, dass die Geniegestalten bei Kehlmann häufig dekonstruiert werden und es (besonders deutlich in Mahlers Zeit) eine Frage der Lesart bleibt, ob der Protagonist überhaupt als Genie zu verstehen ist. Der diachrone Anschluss an die Tradition des Themas mag besonders dadurch erschwert sein, dass Kehlmanns Werk hier für die Gegenwartsliteratur isoliert betrachtet wird, was auch für die thematologische Ausrichtung merkwürdig ist. Es entsteht der Eindruck, dass Tranacher sich nicht ganz zwischen einer Einführung in Kehlmanns Werk und einer thematologischen Studie entscheiden konnte. Es ist für das Forschungsdesign auch nicht zielführend, ausnahmslos alle Werke Kehlmanns in chronologischer Reihenfolge zu besprechen. Eine stärker synchrone Gruppenbildung und eine Intensivierung der Interpretation im Wechselspiel zwischen den Werken hätte sich angeboten. Wenn die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn etwa in Mahlers Zeit ebenso zentral inszeniert ist wie in der Vermessung der Welt und in Kehlmanns erstem Drama Geister in Princeton, hätten die Ergebnisse sicherlich noch vertieft werden können, wenn man die Werke tatsächlich thematologisch aufgebrochen und parallel besprochen hätte. Alle drei Figuren scheinen, wie Tranacher nachweist, durch ihre Forschung Fehler im Aufbau des Kosmos nachzuweisen und werden ‒ je nach Lesart ‒ dafür von höheren Mächten bestraft.

Als wichtiges Ergebnis der Arbeit lässt sich die Erkenntnis benennen, dass Kehlmanns Geniefiguren häufig als „Kippfiguren“ angelegt sind, die wie die bekannten Bilder aus der Wahrnehmungspsychologie je nach Betrachtungsweise anders erscheinen. Interessant erscheint auch der Nachweis, dass Kehlmann in offensichtlich nicht genialen Figuren oftmals das „Andere der Genialität“ und die damit verbundene Angst vor der Mediokrität darstellt. (Hier wäre es interessant gewesen, Kehlmanns häufigen Rückgriff auf statistische Datenerhebung, die den „Durchschnitt“ überhaupt erst festlegt, näher zu beleuchten.)

Neben der etwas problematischen thematologischen Ausrichtung ist Tranachers Arbeit tatsächlich eine vorzügliche Einführung in das Werk Kehlmanns. (Für diesen Gebrauch erweist sich die umfassende chronologische Auseinandersetzung mit dem Werk freilich als Stärke.) Mit thematisch bedingtem Schwerpunkt auf die Romane Beerholms Vorstellung und Die Vermessung der Welt analysiert Tranacher alle Texte sehr umfänglich, geht immer wieder intensiv auf Kehlmanns Strategie des „gebrochenen Realismus“ ein und deutet mit erschöpfendem Bezug auf die Forschungsliteratur Anlage und Motivstruktur der Texte. Gerade für Beerholms Vorstellung vermisst man die für den Text ebenso wie für die Geniethematik wichtige Unterscheidung zwischen Zauberei und Magie, die Beerholm vornimmt, denn der handwerklich perfekte Zauberer ist eine ganz andere Figur als der die Wirklichkeit tatsächlich verändernde Magier. Der Roman endet mit der Ankündigung Beerholms, von einem Fernsehturm zu springen, um genau diese Differenzierung zu prüfen ‒ denn nur als echter Magier könnte er wirklich fliegen, als bloßer Zauberer wäre sein Leben beendet. Bei Tranacher und in der bisherigen Forschung wird erstaunlicherweise niemals die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass der Illusionskünstler Beerholm am Ende seiner Aufzeichnungen gar nicht springt, sondern diese Klimax am Ende, wo exegetische und diegetische Ebene sich treffen, tatsächlich nur die letzte Volte des Zauberers ist, denn am Ende, wie es das fiktive Motto ankündigt, gewinnt der Taschenspieler.

Insgesamt legt Juliane Tranacher eine äußerst gründlich recherchierte Studie vor, deren einführender Charakter sie wahrscheinlich für eine allgemeine Anwendung brauchbarer macht, als es eine konsequent durchgeführte thematologische Studie gewesen wäre. Somit scheint auch die erste umfassende Monografie zu Kehlmann die Eigenschaft seiner Romane aufzuweisen, dass am Ende alles anders ist, als es zuerst den Anschein hatte.

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Juliane Tranacher: Geniekonzepte bei Daniel Kehlmann.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2018.
304 Seiten , 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826065651

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