Der Klang des Alltags

Katharina Mevissen lotet in ihrem Debütroman „Ich kann dich hören“ die Grenzen der literarischen Narration aus

Von Sophie StrahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sophie Strahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie kann man Nicht-Gesprochenes in Worte fassen? Wie beschreibt man Musik literarisch? Wie kann Un-Fassbares greifbar werden? Diese Fragen sind es, die Katharina Mevissen in ihrem Debütroman Ich kann dich hören aufwirft. Sie begnügt sich nicht damit, Worthülsen und unbedeutende Adjektive aneinanderzureihen, sondern sucht im Innenleben ihrer Figuren nach Antworten und beweist Mut zur Lücke.

Der Protagonist des Romans, Osman Engels, spielt sein Cello mit dem ganzen Körper. Sein Gesicht ist verzerrt, er schwitzt. Er gehört nicht zu jenen Musikern, die mit geschlossenen Augen anmutig die Seiten ihrer Instrumente zupfen. Er ist einer von denen, die schon früh angefangen haben. Bevor er lesen, schreiben und rechnen konnte, lernte er die Musik kennen. Als Leser merkt man schnell, dass Osman mit seinem Musikinstrument besser umgehen kann als mit seinen Mitmenschen. Allerdings wird seine Verschlossenheit auf die Probe gestellt, als sein Vater, ein berühmter Violonist, sich das Handgelenk bricht und auf Hilfe angewiesen ist. Die Beziehung der beiden ist allerdings seit seiner Kindheit angespannt. Einer Konfrontation geht Osman deshalb lange aus dem Weg. Die Rolle der Versorgerin muss stattdessen Osmans Tante Elide annehmen, die Schwester seines Vaters. Diese ist schon in Osmans Kindheit nach dem mysteriösen Verschwinden seiner Mutter in die ungewollte Mutterrolle gedrängt worden und hadert nun mit ihrem Schicksal.

Statt sich mit seinem Vater zu treffen, flüchtet sich Osman in Ellas Welt – oder vielmehr in einen kleinen Ausschnitt davon. Ella ist Studentin und hat ihr Diktiergerät verloren, das Osman findet. Er wird ganz von dem Aufgezeichneten, das er zu entschlüsseln sucht, gefangengenommen. Seinen familiären Problemen und Emotionen geht er aus dem Weg, viel lieber lauscht er den aufgenommenen intimen Gesprächen Ellas mit ihrer Schwester beziehungsweise einen kleinen Teil davon, denn Ellas Schwester ist stumm. Ihre Gebärdensprache ist über das Diktiergerät nur schemenhaft zu erahnen: ein lautes Atmen, ein Berühren der Hände, das Gespräch bleibt lange unvollständig. Osman steigert sich beinahe obsessiv in Ellas Leben, in ihre Privatsphäre hinein. Während man das früher vielleicht sogar als romantisch empfunden hätte, wirkt es heutzutage eher aufdringlich. Mevissen ist sich dessen bewusst und verliert sich nicht in einer klischeehaften Romanze. Das Treffen zwischen Osman und Ella wird letztendlich nicht zum verklärten Liebe-auf-den-ersten-Blick-Moment, sondern ziemlich peinlich und unangenehm für beide.

Die Idee zum Buch kam der Autorin, als sie ihren MP3-Player in der Stadt verloren hatte und der Frage nachging, welche Art von Begegnung dadurch entstehen könnte. Was würde ein ahnungsloser Finder über sie denken, nachdem er ihre Aufnahmen und ihre Musik gehört hätte? Die Leiterin der Literaturinitiative „handverlesen“, die sich zum Ziel gesetzt hat, Literatur in Gebärdensprache zu übersetzen und zu vermitteln, hat ihre berufliche Passion in einen Roman gekleidet, in dem sie die Grenzen der Narration auslotet. Mevissen sucht nach neuen, ungewöhnlichen Mitteln, um das Unausgesprochene zu verschriftlichen. Die Musik wird durch Osmans Innenleben lebendig: „Jetzt reibt die Musik über die Haut, es brennt und schürft“. Das geht nicht immer auf, ist aber sehr erfrischend zu lesen und transportiert die Gefühle des Protagonisten auf eine sehr persönliche, greifbare Art. Dass die Autorin nicht versucht, die Gebärdensprache zwischen Ella und ihrer Schwester durch diverse Wortverrenkungen verständlicher zu machen, trägt ebenfalls positiv zum Gesamteindruck bei.

Osman und somit auch der Leser bleiben lange Zeit im Dunkeln. Die Lücken, die im Gespräch entstehen, werden nicht gefüllt. So dauert es ein wenig, bis Osman den Titel des Buches für sich verinnerlichen kann. Die meiste Zeit ist er mit den Dingen konfrontiert, die er eben nicht hören kann. Dabei geht es um mehr als den biologischen Hörprozess, vielmehr um die Fähigkeit, andere zu verstehen und mit ihnen zu kommunizieren. Die Abwesenheit von Sprache veranlasst Osman letztendlich zum Reden.

Doch nicht nur das Hören wird für den Protagonisten zur Herausforderung, auch die anderen Sinne werden auf die Probe gestellt. Der emotionale Wirbelsturm ruft bei Osman immer wieder Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit hervor. Immer häufiger entledigt er sich seiner Kontaktlinsen, um diesen Schmerzen zu entgehen, wodurch alles, was sich nicht in seiner unmittelbaren Nähe befindet, seine Konturen verliert. Halb blind taumelt er nicht nur durch die Stadt und seine Wohnung, sondern auch durch sein Leben. Dabei wird er durchaus als positive Figur gezeichnet, obwohl seine Unverantwortlichkeit gegenüber seiner Tante bisweilen die Geduld des Lesers arg strapaziert. Beim Lesen ist man Osman bei seinem Findungsprozess durch einige gut platzierte Perspektivwechsel stets einen Schritt voraus. Die Probleme, denen er aus dem Weg geht, lösen sich für den Leser schneller als für den Erzähler.

Die Sprache bleibt dabei nah an der Wirklichkeit. Die Dialoge brechen mitten im Satz ab, sind grammatikalisch unkorrekt und unvollständig, Mevissen reizt die Möglichkeiten der Narration, über ein erlebendes Ich zu berichten, aus. Beispielsweise unterbrechen Gedankengänge immer wieder den Lesefluss, so fehlen etwa Elide immer wieder Begriffe und Wörter in der deutschen Sprache, um das auszudrücken, was sie eigentlich sagen will. Im Gespräch mit Osmans Vater, der mit zwischenmenschlicher Kommunikation ebenso überfordert ist wie sein Sohn, wechselt sie deswegen schließlich in die Muttersprache, um zu ihm durchzudringen. Die Autorin hat sich entschieden, die Lücken, die dabei für die nicht türkischsprachigen Leser dabei entstehen, durch eine Übersetzung im Anhang zu füllen. Dieser macht nicht nur die Sprachbarriere verständlicher. Wem die aufwühlenden Beschreibungen der Musik nicht ausgereicht haben, hat außerdem die Möglichkeit, mithilfe eines QR-Codes zu den im Roman erwähnten Musikstücken geführt zu werden – wobei es durchaus eine Überlegung wert gewesen wäre, den Leser an solchen Stellen genauso im Dunkeln tappen zu lassen wie Osman. Um zu erkennen, wie man trotzdem zuhören kann.

Titelbild

Katharina Mevissen: Ich kann dich hören. Roman.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019.
163 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783803133069

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