Lyrik oder Lyrics?

Die August-Ausgabe von literaturkritik.de beleuchtet das Verhältnis von Musik und Literatur

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Der Lauf riß ab, Elias schöpfte Atem und setzte zu einem noch gewaltigeren Fortissimo an, dieses Mal in Kombination mit einer brüllend hinabstürzenden Pedalbaßlinie. Als er zum dritten Mal Atem geschöpft, ließ er das Figurenwerk abermals aufbrausen, wobei er die Baßlinie auf die Hälfte des vorigen Wertes diminiuierte, also mit einer nahezu unmöglichen Geschwindigkeit über das Pedal hinwegfegte. Der Lauf endete in einer schmerzverrissenen Harmonisierung der ersten beiden Takte des Chorals, dann würgte der Organist die Musik derart unmotiviert ab, als seien ihm die Hände plötzlich vom Manual gerutscht. Elias atmete die unerhört spannungsgeladene Zäsur, griff siebenstimmig in die Tasten, spielte den Choral bis zum 3. Takt, riß ab, atmete, harmonisierte in unaufgelösten Dissonanzen bis zum 4. Takt, riß ab, atmete, riß ab, atmete, und das alles über die Dauer von mehr als fünf Minuten.

In Robert Schneiders Schlafes Bruder wird Musik zu Literatur, werden Klänge zu Buchstaben. Der Leser wird ebenso wie die fiktiven Zuhörer im Text mitgerissen vom Sog des wahnhaft-rasanten Spiels des Protagonisten Elias Alder, der in seinem Choral das Aufbäumen des Menschen gegen das vermeintlich unveränderbare Schicksal und gegen den Tod in musikalische Klänge kleidet. Die ellipsenhafte Beschreibung vermag die aufgestaute Spannung, die sich in der Musik immer wieder eruptiv entlädt, besonders plastisch zu vergegenwärtigen. Schnell wird klar: Alders Spiel hat nichts unbekümmert Spielerisches an sich, es geht in ihm von Anfang an um Existenzielles. Im 1992 erschienenen Roman, der schnell zum Bestseller avancierte, wird nicht nur das musikalische Spiel des Protagonisten geschildert, sondern auch die überwältigende Wirkung, die dieses auf die Zuhörer hat:

Er hatte die Menschen unter Hypnose gebracht. Sie saßen reglos in den Bänken, ihre Augenlieder bewegten sich nicht mehr. Ihr Atmen hatte sich verlangsamt, und die Frequenz ihrer Herzschläge war die Frequenz seines Herzschlages geworden. Im Nachhinein wußte niemand zu sagen, wie lange Elias Alder wirklich gespielt hatte. Sogar Peter wußte es nicht. Auch seine Lider bewegten sich nicht mehr, und hinter der gemeinen Stirn war Frieden.

Die Parallelen bezüglich der Wirkmächtigkeit von Musik und Literatur sind hierbei mehr als deutlich: Beide können die Zeit vergessen machen, in andere Welten entführen, die Fantasie beflügeln, Emotionen auslösen etc. – und beide Künste können sich wechselseitig beeinflussen und (Bestand-)Teil des jeweils anderen Mediums sein. Musik ist ohne Literatur, Literatur ohne Musik kaum denkbar. Das kommt nicht von ungefähr, galten doch in der Antike Poesie und Musik als eine Kunst. Erst im Zuge der Ausdifferenzierungsprozesse in der Frühen Neuzeit sollte sich das grundlegend ändern. Dass allerdings noch immer eine enge Verwandtschaft zwischen Lyrik und Lyrics, zwischen Dichtung und Songtexten besteht, findet seit einiger Zeit auch zunehmend in den Literaturwissenschaften Beachtung – und das nicht erst, seit Bob Dylan der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde. Insofern knüpft die August-Ausgabe von literaturkritik.de direkt an die vorige an, in der es explizit um Lyrik ging.

Dass sich immer mehr Musiker ins Feld der Literatur wagen – in dieser Ausgabe finden sich beispielsweise Rezensionen zu den Büchern von Dirk von Lowtzow, Bela B. oder Patti Smith –, war unter anderem Anregung, einen Themenschwerpunkt zu den Verbindungen von Musik und Literatur zu initiieren. Dies geschah im Zuge einer von mir geleiteten Übung im Masterstudiengang Literaturvermittlung in den Medien an der Philipps-Universität Marburg. In dieser wurden von den Studierenden unterschiedliche Texte (u.a. Rezensionen, Kommentare und Berichte) verfasst, die gemeinsam im Plenum besprochen und anschließend entsprechend überarbeitet wurden. Die zum Themenschwerpunkt passenden Besprechungen fanden zum Teil Aufnahme in diese Ausgabe. Außerdem warben die TeilnehmerInnen der Übung entsprechende Essays zum Thema bei FachwissenschaftlerInnen ein.

Der Schwerpunkt wurde dabei in thematischer Hinsicht bewusst offengehalten, das heißt es finden sich nicht nur Betrachtungen darüber, welche musikalischen Spuren in der Literatur auszumachen sind, sondern beispielsweise auch Beiträge, die eine wechselseitige Beeinflussung thematisieren oder nach Literarischem in Musik Ausschau halten. Vielfältige Überschneidungen zwischen beiden Künsten sind etwa bei ruth weiss auszumachen, wie Hannes Höfer in seinem Essay Literatur und Jazz zeigt, oder auch bei Nora Gomringer, die seit Jahren zusammen mit Philipp Scholz Literatur und Musik performativ zusammenführt. Insgesamt wurde versucht, ein möglichst breites Spektrum abzudecken, wobei der Literatur – keine Überraschung bei einer Zeitschrift namens literaturkritik.de – etwas mehr Raum zugestanden wird.

In der August-Ausgabe wird außerdem ein Autor bedacht, auf dessen bekanntestes Werk auch Bob Dylan in seiner Nobelpreisrede ausführlicher eingegangen ist: Gemeint ist Herman Melville, dessen 200. Geburtstag am 1. August gefeiert wurde. Über Moby-Dick sagte Dylan, es sei “a fascinating book, a book that’s filled with scenes of high drama and dramatic dialogue.” Inwieweit man seinen Aussagen trauen darf, darüber wurde bereits ausführlich diskutiert und soll hier nicht Gegenstand der Erörterung sein. Das Beispiel zeigt jedoch einmal mehr, wie eng Musik und Literatur miteinander verknüpft sind.

In diesem Sinne wünsche ich anregende Lektüre(n) und/oder Hörsessions und bedanke mich bei allen, die zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben!

Stefan Jäger