Die Fraktale des Seins

Ann Cotten entwirft in „Lyophilia“ para-dingsische Zustände in einer Parallelwelt, die unserem Kosmos irgendwie gleicht

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„der bio-adapter bietet in seinen grundzuegen die m. e. erste diskutable skizze einer vollstaendigen loesung aller welt-probleme.“ So beginnt verheissungsvoll Oswald Wieners Grundlegung für ein Gerät, in dem sich Sprache mit Kybernetik verbindet. Der Bio-Adapter setzt eine Entwicklung in Gang, die, so schließt Wieners Text, „freilich voellig von der geisteskraft, vom mut und von der selbstaendigkeit des subjekts abhaengig“ ist. In diese Tradition tritt Ann Cotten mit ihrem Buch Lyophilia. Sie erinnert namentlich an Oswald Wiener und sein Gerät als eine Quelle für ihre „Lyophilisation des Geistes“, deren Entwicklung sie in der zentralen Erzählung „Anekdoten vom Planeten Amore (KAFUN)“ weiter verfolgt.

Cottens Buch ist weder Roman noch Essay noch Poem, sondern vielmehr gekennzeichnet durch eine durch viele Genres mäandernde Prosa, die mit Elementen der Science-Fiction ebenso spielt wie mit philosophischen Denkfiguren; zugleich ist es ein Buch über die Liebe. Es umfasst ein Dutzend Erzählungen von unterschiedlicher Länge, die durch sporadische Querverweise und Ähnlichkeiten auf zarte Weise miteinander verknüpft sind. Das wirkt unangestrengt, aber auch etwas beliebig.

In der ersten, nur eineinhalbseitigen Erzählung „Ishibashi“ heißt es: „Wie soll man das erzählen?“ – gemäß einer Fußnote lautet so eine „klassische Eingangsfloskel der Anekdoten von Ausserirdischen“. Die Frage weitet sich für die Leser und Leserinnen – oder, wie Cotten „polnisch gendert“: die „Lesernnnie“ – sofort auf das gesamte Buch aus. Wie sollen sie das bloß erlesen? Die Frage bleibt bis zum Lektüre-Schluss virulent.

Die zwölf Prosatexte entfalten ein gleichermaßen faszinierendes wie verwirrendes Sammelsurium an Erzählwelten und Gedankenpartikeln, die mannigfachste Codes aufrufen und in ein fragmentiertes, gebrochenes Kontinuum verpuppen. Zwei Texte ragen allein schon wegen ihres Umfangs heraus. In den erwähnten „Anekdoten vom Planeten Amore (KAFUN)“ entwirft Ann Cotten einen sehr sonderbaren Planeten namens Amore, auf dem sich eine Gruppe von Freaks und Dropouts zusammen gefunden hat, offenkundig mittels Lyophilisation dorthin teleportiert. Der Planet ist ihre Rettung und zugleich eine Sackgasse. Letzteres, weil seine Betreiberfirma offenbar Konkurs gegangen ist. Immerhin bietet Amore (KAFUN) – kein Fun? – ein Refugium, in dem die Menschen noch unter sich sind. Auf der Heimerde haben derweil nach der „Zweiten Wende“ (der Singularität?) die Künstlichen das Zepter übernommen. Mögen sie auch „an den Denkweisen ihrer Menschen nostalgischen Geschmack“ finden, brauchen sie dieses Denken doch nicht „andauernd in Feuchtform“ um sich zu haben. So kommt beiden Seiten die Auslagerung zupass, zumal auf Amore Zeit bleibt für ausgiebige Lektüren, denen sich die Bibliothekarin Lore Ipsum und Horatio alias DI Schani ausgiebig hingeben. Die Erzählerin Eien dagegen hat es eher mit dem Schreiben. Sie bezeichnet sich selbst als Autorin einer „polyrhythmischen Chronik von Amore“, die womöglich in der vorliegenden Erzählung aufgehoben ist.

Das alles klingt reichlich verworren und ließe sich fast beliebig weiter fragmentieren. Cotten gibt gar nicht vor, ihre „Lesernnnie“ am zarten Gängelband „easy“ durch die Erzählung zu führen. Vielmehr strukturiert sie ihre Prosa in zeitlich losgelöste Splitter und Situationen, die es der Lektüre erst nach und nach erlaubt, der „notwendig im Sand verlaufenden, also schiefgehenden (fraktalen: also wachsend wie abbrechend so oder so sich verlierenden) Fortentwicklung“ des planetarischen Systems auf die Schliche zu kommen.

Am Ende bleibt nur eine Gewissheit: Alles mündet in die Literatur, beim Lesen wie beim Erzählen. Ob es sich bei den handelnden Personen um Versionen in einem Erzähl-Loop, Inkorporationen in neuen Skins oder fraktale Effekte von Glitches handelt: sie sind Resultat der „Lyophilisation des Geistes“, derzufolge der Geist mitwirkt an der Realität.

Dieses Element verbindet den Amore-Planeten mit der zweiten längeren Erzählung „Proteus“. Zladko und Ganja lernen sich in der Höhle von Postojna kennen, ihre Liebe ist förmlich aus dem Schlamm geboren, in dem sie während einer Höhlenführung sexuell zusammenfinden. Im bürgerlichen Leben haben sie beide verschiedene Rollen und Vorlieben. Die Ex-Punkerin Ganja ist in einer Wurzelpartei politisch aktiv und hat sich die Rettung der Welt vor der kapitalistischen und ökologischen Katastrophe auf die Fahnen geschrieben, derweil Zladko in einer Heurigen-Band namens „Lyophilia“ Trompete spielt und das Bett zwischen Ganja und ihrem pueril-coolen Sohn Igor wechselt. Doch sie lieben sich und geraten abermals in die Höhle von Postojna, wo sie aus der Wirklichkeit wegstürzen und „in eine veränderte Zeitwahrnehmung hineinblühen“. In eine Welt, in der das Wünschen traumlogisch Wirklichkeit wird, sodass es gefährlich ist, „Karamelltsunamii“ zu denken. Auf ihrer magischen Bahn begegnet Ganja zwischen verwitterten Paravents auch einer Frau mit einer schrecklichen Frisur, die an einem Laptop sitzt: „Das muss die Autorin sein“, denkt sie und will nicht weiter stören.

So schließen sich auch hier die Kreise. Das Schreiben wirkt mit an der Konstruktion des Paralleluniversums, der Erzeugung des „Paradoxstrudels“: „Dazu musste ein Paradox so dünn ausgewalkt werden, dass es durchscheinend wurde“, um sich dann selbst mittels Lyophilisator als Füllung in eine Zukunft oder Vergangenheit zu transportieren.

Zu verstehen ist das alles oft bloß intuitiv und spontaneistisch. „Wahrscheinlich haben wir Menschen nicht genug Abwehrreflexe gegen unklare Verhältnisse“, hält Cotten einmal fest – selbst von tastendem Zweifel befangen. Die Utopie ist ein Nirgendwo, wir selbst produzieren sie. Wer sich in ihr Buch vertieft, muss also ein gehöriges Maß an Ratlosigkeit und Verwirrung in Kauf nehmen. Doch je mehr diese Prosa in Teile, Splitter und Variationen: in Fraktale des Seins zerfällt, je wilder filmische, literarische oder technische Referenzen heranzitiert werden, umso stärker kann die Lektüre daran wachsen. Lyophilia bewahrt allen Einwänden zum Trotz etwas lustvoll Widerspenstiges und Gebrochenes, das Geduld abfordert, zugleich aber stets reizvoll und faszinierend bleibt.

Vielleicht ist die erste Lektüre die mühseligste, danach gewinnt jedes weitere Lesen und Stöbern an Freiheit, um funkelnde Details und bewusstseinserweiternde Querverbindungen zu entdecken. Zitate aus John Donnes Ekstase sowie H.G. Wells Zeitmaschine in der abschließenden Erzählung „Eine Zeitreise“ dürften so gesehen im Verbund mit einer „dissoziativen Droge“ zur Beruhigung beitragen. Die Verwirrung, die Ann Cotten unter dem Signet der Zukunft stiftet, bleibt der stets eigenen Gegenwart geschuldet.

Titelbild

Ann Cotten: Lyophilia.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
461 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428696

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