Löwen, Lügen, Luftballons

Hilaire Bellocs „Klein-Kinder-Bewahr-Anstalt“ vermittelt die Freude am Ungehorsam

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hilaire Belloc (1870–1953), britisch-französischer Schriftsteller und Politiker, streng katholisch und Dreyfus-Gegner, in dessen Werk mitunter antisemitische Züge zu finden sind, war und ist alles andere als eine unumstrittene Persönlichkeit. Ob er seine Cautionary Tales for children (1907) und einige New Cautionary Tales (1930) tatsächlich für Kinder verfasst hat, ist mehr als fragwürdig. Mit den beiden Titeln, hinter denen sich Verserzählungen verbergen, ruft er die Tradition der sogenannten „Mahn- und Warnerzählungen“ beziehungsweise „Warngedichte“ auf, jedoch nur, um diese Architexte auf großartige Weise zu parodieren.

Eine Auswahl von 15 dieser Texte unter dem Titel Klein-Kinder-Bewahr-Anstalt zu subsumieren ist ein kluger Schachzug, denn damit ist einerseits eine zumindest latente Würdigung der ersten offiziellen Kindertagesstätten zu erkennen, die im Lauf des 18. Jahrhunderts sowohl in Deutschland als auch in England ihre Tore öffneten, andererseits ist von Anfang an eine offensichtliche ironische Distanz dazu impliziert. Noch im Abseits der pädagogischen Paradigmen eines Pestalozzi oder Fröbel sollten Kleinkinderbewahranstalten der Verwahrlosung des Nachwuchses entgegenwirken, der Verbrechensverhütung dienen und den christlichen Glauben fördern. Daneben verlangte man von den Zöglingen, heteronom gesetzte Regeln im Hinblick auf korrekte und gezügelte Lebensführung einzuhalten. Das ließ sich mit der Lektüre erbaulicher, doch moralinsaurer Warngeschichten zusätzlich untermauern. Wahr sollten diese Geschichten vor allem sein, Verhaltensmaßregeln etablieren und vorführen, was geschieht, wenn man sich nicht an die Anweisungen der Erwachsenen hält.

Diese Gattungstradition fegt Belloc mit seinen „Einleitenden Worten“ lapidar hinweg: „Was heißt schon wahr? Wahr sind mitnichten die fünfzehn folgenden Geschichten, und das ist gut so“. Anstatt sich mit seinem Unwahren jedoch in märchenhaft-fantastische Gefilde zu begeben, bleibt Belloc realistisch, überhöht allerdings seine Beispiele ins Surreale und Groteske. Seine Texte halten einen stereotypen, meist dreigliedrigen Aufbau ein: auf eine kurze Präsentation des Kindes und seines Umfeldes folgt der Regelbruch beziehungsweise die Tabuverletzung, die fast immer in eine Katastrophe mündet. Die kleinen Übeltäter, um die es hier geht, sind nahezu alle sympathisch. Das, was sie tun, ist vor dem gesellschaftlichen und/oder familiären Hintergrund nicht mehr als konsequent. Die abschließende Strafe ist als kraftvolle Hyperbel zu lesen, die die Welt der Erwachsenen vollends der Lächerlichkeit preisgibt. So etwa bei Jim Tippet, der den Reigen der Ungehorsamen anführt, der „mit Torten und Sahneeis der besten Sorten“ gefüttert wird, dem „Kurzgeschichten von literarischem Niveau“ vorgelesen werden und der dennoch seiner Nanny im Zoo davonläuft und prompt einem gefräßigen Löwen zum Opfer fällt. Ähnlich Henry King, der das Essen seiner Mutter zu verschmähen scheint und lieber auf einer Schnur kaut, die wiederum ein derartig unentwirrbares Knäuel in seinem Magen verursacht, dass er daran zugrunde geht. Matilda stirbt im brennenden Haus ihrer Tante, weil sie einmal aus Spaß „Feuer“ rief und die Feuerwehr umsonst ausrückte. So dient das Mädchen als Exemplum für das Sprichwort „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“. Die kleine Rebecca liebt es, mit Türen zu knallen, einmal so heftig, dass sie damit eine Büste umstößt, die ihr auf den Kopf fällt und sie zu Tode bringt. Sarah Byng, die sich gegen jede Art von Literacy sperrt, ist demzufolge nicht imstande, ein Schild zu lesen, auf dem vor einem Bullen gewarnt wird. Obwohl dieser sie in eine Dornenhecke stößt, stuft Sarah Byng das Alphabet als noch gefährlicher ein.

Dass die Kleinen nichts mehr und nichts weniger als die „Produkte“ ihrer erwachsenen Umwelt sind, dass sie sich dieser widersetzen und ihrer naturgegebenen Ausgelassenheit und Spontaneität folgen wollen, wird an mehr als einer Geschichte deutlich. Franklin Bloom etwa wird von seinem Onkel getadelt, weil er gern im Dreck wühlt. Er solle sich doch bitteschön sauber halten, aber, so die kommentierende Erzählerstimme aus dem Off, „ein jedes Kind im Sande werkelt und überhaupt am liebsten ferkelt“. Satire vom Feinsten bietet Hilaire Belloc, wenn er von Godolphin Horne erzählt, der den Standesdünkel seiner Eltern aufs Extremste ausagiert. Er war „von blauem Blute und hielt sich viel darauf zugute“. Obwohl seine Familie von altem Adel ist, obwohl Godolphin eigentlich die beste Besetzung für die Stelle eines königlichen Pagen ist, erheben sich sofort Proteste. Die Überheblichkeit des Knaben bedingt die Höhe eines Falls, der ihn „als Boy“ nun „Schuhe putzen lässt im Savoy“.

Godolphin Horne, in anderer Weise Tom, der Angst vor einem Auto hat und für den der Vater als eine Art Konfrontationstherapie beschließt, einen „Daimler anzuschaffen“, noch einmal anders Lord Lundy, der von „Kindesbeinen“ anfing zu weinen und es nicht lassen konnte, zeigen das distanzierte Verhältnis, das Belloc zur britischen Upperclass hat. In der Klein-Kinder-Bewahr-Anstalt ist sie genauso Zielscheibe des Spotts wie in den Gedichten, die unter dem Titel Ladys und Gentlemen (2019) erschienen sind. Wie brachial und gleichermaßen absurd diese Damen und Herren Transgressionen zu Leibe rücken, verdeutlicht das Titelbild der Klein-Kinder-Bewahr-Anstalt, eine der Originalillustrationen von Nicholas Bently aus dem Jahr 1930. Maria ist dort zu sehen, denn „Maria konnte es nicht lassen: Sie schnitt den ganzen Tag Grimassen“. Das kann sie richtig gut, denn sie schraubt „Mund und Nase zu einem Ball“. Die Grimasse gefriert im Gesicht, Marias Züge verzerren sich, die Mutter verzweifelt, die Therapeutinnen sind hilflos, denn keiner gelingt es, auch wenn sie noch so stark knetet, die Entgleisung zu beseitigen. Da nimmt es nicht wunder, dass Maria keine Chance auf einen Ehemann hat, allerdings nur so lange, bis ein blinder Anwärter aus dem Ausland kommt.

Bellocs Geschichten, nachgedichtet von Hans Magnus Enzensberger, leben aus der Diskrepanz von beschwingt-heiterem Ton und grundsätzlich ernsthaftem Inhalt. Während der Lektüre machen die ironische Distanz zum Erzählten und die Parodie der gesamten Gattung jeder Ernsthaftigkeit den Garaus. Der ganze Spaß wird erst wieder in der Deutung zu Ernst, denn die verhohnepiepelten Erziehungsmethoden waren zumindest zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch an der Tagesordnung. So geht es hier um eine Distanz, die über Missstände nicht hinwegtäuscht, sondern diese mit den Mitteln der Parodie und Ironie erst richtig stigmatisiert und damit offenlegt, nach welch oberflächlichen Regeln die Gesellschaft funktioniert und wie wenig ihr an der ungekünstelten Entfaltung ihrer Nachkommenschaft gelegen ist.

Ein wesentlicher Prätext für Belloc war ohne jeden Zweifel Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1845), der sehr früh ins Englische übersetzt wurde. Thematische und motivische Nähe fällt auf: das Spiel mit dem Feuer (Paulinchen bei Hoffmann, Matilda bei Belloc), Probleme mit dem Essen (Suppen-Kaspar bei Hoffmann, Henry King bei Belloc), die Überheblichkeit (Ludwig und Kaspar, die den „Mohren“ verhöhnen bei Hoffmann, Godolphin Horne bei Belloc) und Unaufmerksamkeit (Hanns Guck-in-die-Luft), die sich bei Belloc als Widerstand gegen schulisches Lernen äußert (Sarah Byng). Was bei Hoffmann eine oft unterschätzte Interpretationskomponente bildet, nämlich die Parodie auf die Gattung moralisierender Erzählungen und die ironische Distanz zum wohlsituierten Bürgertum der Großstadt, steigert sich bei Belloc zu einer unmissverständlichen Prämisse. Was aber auch heißt, dass weder Der Struwwelpeter und erst recht nicht die Cautionary Tales für ihre im Titel aufgeführten Adressaten, bei Hoffmann „Kinder von 3 bis 6 Jahren“, bei Belloc schlichtweg „children“, geeignet waren oder sind. Nähme man den Struwwelpeter oder Bellocs Geschichten wörtlich, so führten sie in die Irre. Das lässt sich für weite Strecken der Struwwelpeter-Rezeption durchaus behaupten.

Lindgrensozialisierte LeserInnen, die allein das Titelbild der vorliegenden Ausgabe sehen, können gar nicht anders, als an Pippi Langstrumpf und ihre Peinigerin Prusseliese zu denken. So schreibt sich die Parodie als befreite Literatur für Kinder fort, als Feier des Ungehorsams und der Aufsässigkeit, als Plädoyer für Renitenz und Selbstständigkeit, deren Ergebnis Resilienz heißen mag. Es darf angenommen werden, dass Lindgren die Illustration von Bently gekannt hat.

Literarhistorisch sind die Verserzählungen an der Nahtstelle zwischen dem Ende einer Gattungstradition und ihrer beginnenden Parodierung im Struwwelpeter auf der einen Seite und der Darstellung befreiter Kindlichkeit, unter anderem in Pippi Langstrumpf, auf der anderen Seite zu verorten. Enzensbergers Nachdichtung ist zum ersten Mal im Jahr 1998 erschienen. Diese inzwischen vergriffene Ausgabe (Sanssouci Verlag, Zürich) enthielt auch den englischen Originaltext sowie alle Illustrationen von Nicholas Bently und Quentin Blake. Beide hätten das vorliegende Bändchen ebenfalls bereichern können. Doch auch die abgespeckte Klein-Kinder-Bewahr-Anstalt vermittelt die Freude am Ungehorsam und bereitet schon allein damit pures Lesevergnügen.

Titelbild

Hilaire Belloc: Klein-Kinder-Bewahr-Anstalt. Fünfzehn erbauliche Geschichten zur Warnung vor den schlimmen Folgen jugendlichen Überschwanges.
Ausgewählt und nachgedichtet von Hans Magnus Enzensberger.
Steidl Verlag, Göttingen 2019.
62 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783958294332

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