Albrecht Classen hat einen Band zu Reisen und Raum und Zeit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit herausgegeben

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einer Reihe von Jahren hat sich das Forschungsinteresse zunehmend auf die Reiseerfahrung im Mittelalter und in der Frühneuzeit gerichtet, wie die mittlerweile fast zahllosen Studien belegen, die sich mit Pilgerfahrten, Kreuzzügen, diplomatischen Reisen, Kaufmannsreisen etc. beschäftigen. Insoweit als die Zahl der bekannten einschlägigen Reiseberichte einen so großen Umfang angenommen hat, ergab sich sogar die Notwendigkeit, eigenständige Bibliographien davon zu erstellen. Ganz im Gegensatz zu manchen liebgewordenen Vorstellungen vom Mittelalter waren die Straßen der Vormoderne voll von Reisenden, auch wenn man ohne Kompass, Karten oder besondere Fremdsprachenkenntnisse unterwegs war. Wer also Reisebeschreibungen studiert, gewinnt wertvollsten Zugang nicht nur zur Kulturgeschichte, sondern auch Alltags-, Emotions- und Mentalitätsgeschichte.

Erschöpfend ist zwar das Thema bisher noch nicht behandelt worden, aber es hat sich jetzt doch eine gewisse Sättigung eingestellt, was nichts mit der vielleicht doch nicht so großen Relevanz dieses Stoffes zu tun hat. Wie der Titel bereits andeutet, geht es hier um ein Bedeutungsgeflecht von Raum, Zeit, Identität und Reise, was Bachtin bereits vor langer Zeit mit dem treffenden Begriff „Chronotop“ umschrieben hatte. Wer reist, muss sich vorbereiten, erfährt beträchtliche Veränderungen in seiner Weltsicht, kehrt als ein anderer Mensch nach Hause zurück, weil er Raum und Zeit durchquert hat und sich mit anderen Völkern, Sprachen und Religionen auseinandersetzen musste. Dies bedeutet u.a., dass in diesem Band Reisen auch metaphorisch und philosophisch verstanden wird, denn hier leisten Vertreter verschiedenster Fachrichtungen Beiträge, die den Begriff des ‚Reisens‘ eben erheblich differenzieren. Zur Sprache kommen daher genauso Segenssprüche für Reisende als auch die Wanderungen von Zimmerleuten zu neuen Bauprojekten, genauso die Bewegung von Texten zu einer Übersetzerzentrale wie Bagdad als auch spirituelle Reisen in die Unterwelt (Katabasis) und in das Innere der eigenen Seele.

Weiterhin werden solche Reiseberichte aufgegriffen, die in bisher weniger beachtete Gebiete führen, etwa von England nach Deutschland (benediktinische Missionare), Deutschland nach Skandinavien (Kaufleute und Diplomaten) oder vom Mittleren Osten an die Wolga und nach Polen (Ibn Fadlan). Literarische Reiseerfahrungen spielen hier genauso eine Rolle wie die Erlebnisse von Gelehrten wie Johann Reuchlin, die sich fast unablässig von Ort zu Ort bewegten, um ihrer geistigen Arbeit nachzugehen. In diesem Band kommen tschechische Reiseberichte genauso zu Wort wie böhmische Unterhaltungsliteratur, in der die Protagonisten viel unterwegs sind. Hinzu kommen Untersuchungen, die sich auf solche geistigen Reisen beziehen, die ein Individuum stellvertretend etwa für Nonnen (stabilitas loci) oder Kaufleute durchführt, die wegen ihrer Tätigkeit unabkömmlich sind.

Dazu finden sich hier Aufsätze, in denen solchen Fragen nachgegangen wird, welche Ernähung Reisende erhielten, ob der ostasiatische Raum überhaupt Europa wahrnahm und ob von dort buddhistisches Gedankengut dorthin gelangte. Etwas überraschend mögen solche Beiträge erscheinen, in denen auf der Grundlage u.a. von Rechtsbüchern (Sachsenspiegel) oder von Mosaikprogrammen (Otranto) Raum-Zeit-Bewegungen nachgegangen wird, womit ein abstrakterer Begriff von ‚Reise‘ verfolgt wird, bei dem es um die Transformation des Individuums in diesen komplexen Gefügen geht, was aber auch in literarischen Texten häufig wahrzunehmen ist (Prosa Lancelot oder Chaucers Canterbury Tales). Es handelt sich also nicht schlicht um Reisen an sich, sondern um die menschliche Erfahrung im Raum und in der Zeit, was durch Bewegung wahrgenommen wird. Wie insgesamt festzuhalten ist, erweist sich das Thema ‚Reisen‘ als ideale Metapher für die grundlegende Lebenserfahrung, wie es etwa Dante in seiner Divina Commedia so wuchtig und bewegend, ja erhebend zum Ausdruck brachte. Für die Moderne scheint aber zuzutreffen, was Coudert hier beobachtet, nämlich dass die Reise durch das zeitgenössische Leben sinnlos zu werden droht und im ennui erstickt, weil die Zahl der Möglichkeiten unendlich wirkt und der Sinn unseres Daseins zu entschwinden droht.

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Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Albrecht Classen (Hg.): Travel, Time, and Space in the Middle Ages and Early Modern Time. Explorations of World Perceptions and Processes of Identity Formation.
De Gruyter, Berlin 2018.
704 Seiten, 138,95 EUR.
ISBN-13: 9783110595031

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