An Gottes Stelle der Widersacher

Die Veröffentlichung von zwei älteren Werken führt zu den Ursprüngen des dokumentarischen Schreibens von Emmanuel Carrère

Von Christian MariotteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Mariotte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als am 10. Januar 1993 in der französischen Provinz ein fünffacher Familienmord und seine seltsamen Begleitumstände öffentlich wurden, war das Medienecho wie zu erwarten groß. Trotzdem hätte wohl niemand gedacht, dass diese unerhörte Begebenheit auch die Koordinaten der französischen Literatur verschieben würde. Innerhalb eines Wochenendes hatte der freundliche, allseits beliebte Jean-Claude Romand das Gesicht seiner Frau mit einer Teigrolle zerschlagen, bevor er eben den Karabiner auf seine zwei jungen Kinder richtete, der nach einem besinnlichen Sonntagsessen auch dem Leben der hochbetagten Eltern ein Ende setzen sollte.  Ebenso fingiert wie der anschließende Selbstmordversuch erwies sich in den Folgetagen die gesamte soziale Existenz des vermeintlichen Arztes. Keineswegs bekleidete er, wie Familie und Freunde geglaubt hatten, eine Führungsposition bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf. Nach einem schon früh abgebrochenen Studium finanzierte er seinen kostspieligen Lebenswandel an der französisch-schweizer Grenze, indem er nach und nach die Mitglieder seines Umfelds mit vorgetäuschten Investitionen um ihr Vermögen brachte. War diese Hochstapelei achtzehn Jahre lang nicht aufgeflogen, so las oder hörte man plötzlich überall von ihr, und besonders den jungen Emmanuel Carrère musste sie zwangsläufig in ihren Bann ziehen.

Anfang der 1990er Jahre hatte der Schriftsteller und Journalist ziemlich erfolgreiche und für die damalige französische Literatur ganz untypische Romane veröffentlicht: Wie ein Getriebe, dem eins seiner Räder fehle, beschrieb ein sichtlich beeindruckter John Updike den zwischen minutiöser Detailtreue und lässiger Wirklichkeitsfremde oszillierenden Plot des Schnurrbarts (frz. 1986). Bei der Geschichte eines anscheinend höchst banalen Architekten, dem durch das Abrasieren des titelgebenden Schnurrbarts seine Identität entgleitet und Abgründe auftun, fühlte sich der Rezensent sowohl an Erkenntnisse der Quantenphysik wie an das Werk Nikolai Gogols erinnert.

Auch im Fall des falschen „Docteur Romand“ geht es um das Unheimliche, das den gewöhnlichen Alltag nicht einfach ablöst, sondern ihm wohl schon immer seine trügerisch beruhigende Form gab. Die auf den ersten Blick reizvolle Idee einer literarischen Verarbeitung führte Carrère jedoch nach einigen Monaten zu einer ernüchternden Einsicht: Entgegen allen Erwartungen passte diese Geschichte nicht wirklich in seine Welt. Der Versuch, einen Roman zu schreiben und „die Namen, Orte und Umstände [zu] ändern oder nach Belieben neu [zu] erfinden“, misslang. Vermutlich waren schon allein die harten Fakten zu unglaubwürdig, als dass man obendrein noch spielerisch mit ihnen hätte umgehen können. Es reichte, das kleinste Element fiktional zu überhöhen, um das ganze Erzählgebäude zum Einsturz zu bringen. Als True-Crime-Novel nach dem Vorbild des Jahrhundertromans Kaltblütig von Truman Capote (1966) funktionierte der Stoff aber auch nicht. Sehr früh hatte Carrère sich um eine Kontaktaufnahme mit dem fünffachen Mörder bemüht, doch der nach zwei Jahren tatsächlich einsetzende Briefwechsel brachte ihn nicht wirklich weiter.

Eigentlich wollte er gerade aufgeben, als er plötzlich seinen grundlegenden Fehler erkannte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er immer geglaubt, es Capote nachmachen zu müssen, der seinerseits nur durch peinliche Befolgung eines bekannten Flaubert’schen Grundprinzips den literarischen Olymp erklommen hatte : Es ging darum (so fasste es Carrère im Rückblick zusammen), „ein objektives und unpersönliches Buch zu schreiben, ein Buch in dem der Autor gleichzeitig allgegenwärtig und abwesend wäre und sich die Geschmacklosigkeit verbieten würde, selbst als Figur oder gar als Ich-Erzähler aufzutreten.“ Während der junge französische Schriftsteller nun für den eigenen Gebrauch ein paar abschließende Wörter über sein gescheitertes Projekt schrieb und dabei auch seine persönlichen Befindlichkeiten nicht aussparte, fiel die Last von ihm, die er sich jahrelang selber aufgebürdet hatte. Endlich war er da, der Zugang zum Fall Romand : Indem Carrère anfing, „ich“ zu schreiben, konnte er über „ihn“ und dabei auch über „es“ – das Böse oder vielleicht auch nur „eine armselige Mischung aus Verblendung, Not und Feigheit“– reflektieren.

In dem Text, den der Berliner Matthes & Seitz Verlag den deutschen Lesern nun in einer Neuübersetzung vorlegt (die Erstausgabe erschien bereits 2001 bei S. Fischer), sind die ursprünglichen Selbstzweifel des Autors denn auch kein literarisches Hindernis: Vielmehr werden sie für die Verarbeitung des Falles fruchtbar gemacht. Weil er zumindest teilweise die Frage beantworten will, wie ein Mensch derart aus dem gesellschaftlichen Rahmen fällt, dass er schließlich die Auslöschung seiner Angehörigen als einzigen Ausweg betrachtet (vom alten Ehepaar Romand heißt es:  „Sie hätten Gott schauen sollen und stattdessen hatten sie, mit den Gesichtszügen ihres geliebten Sohnes, denjenigen gesehen, den die Bibel Satan nennt. Den Widersacher“), führt Carrère den Leser erst einmal ins dünn besiedelte Département du Jura. Seit Generationen erfreut sich die Sippe der Romands dort eigentlich des makellosen Rufes von gottesfürchtigen, arbeitsamen Förstern. Allerdings ordnet sich der junge Jean-Claude in eine Tradition ein, die durchaus ihre dunklen und paradoxen Seiten aufweist : „Einerseits hatte man ihm beigebracht, nicht zu lügen – und das war ein absolutes Dogma: Das Wort eines Romand ist bare Münze wert  –, andererseits durfte man gewisse Dinge nicht sagen, auch wenn sie wahr waren.“ Um den rätselhaften Zustand seiner Mutter nicht zu verschlechtern, muss der im Vergleich zu seinem späteren Werdegang noch eher durchschnittliche junge Mann stets eine zufriedene Miene aufsetzen und die eigenen Depressionen verheimlichen. Die angeblich engen Freunde, die er während seines Studiums kennengelernt hat, sind bei aller Zuneigung darauf bedacht, ein Bild von ihm zu bewahren, das zu ihren eigenen bürgerlichen Lebensentwürfen passt.

Mit herrlichem Sinn für Understatement führt uns Carrère das geistig nicht immer sehr aufregende Leben der internationalen Beamten vor, die in Genf arbeiten und mit viel Liebe alte Bauernhöfe auf der französischen Seite der Grenze renovieren. Bisweilen mag man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, manches von Romand vernichtete oder beschädigte Leben sei in den Augen des französischen Autors sowieso wertlos gewesen. An der einsamen und verzwickten Lage, in die sich Romand ohne irgendeinen persönlichen Nutzen nach und nach hineinmanövriert hat (wie Carrère betont, kostete das Aufrechterhalten der Lebenslüge nicht weniger Intelligenz und Mühe als die ehrliche Arbeit eines richtigen Arztes), werden wir jedoch mit einer unleugbaren Empathie herangeführt.

Glücklicherweise mündet letztere aber niemals in Leichtgläubigkeit: immer wieder stellt Carrère den Behauptungen Romands lakonisch die Ergebnisse der polizeilichen Untersuchungen gegenüber. Besonders geht es ihm darum, anders als Romand die Verbrechen der letzten Phase nicht mit Worthülsen zu verschleiern und zu bagatellisieren. Die zärtliche Aufmerksamkeit eines nichtsahnenden siebenjährigen Mädchens für den Vater,  der sie in wenigen Minuten von hinten erschiessen wird, gehört zum Traurigsten, was je in einem literarischen Werk dargestellt wurde.

Bei diesem Versuch, aus der Rolle des Anwalts und PR-Beraters zu treten, die ihm der im Gefängnis regelrecht aufblühende Romand wohl gerne zugewiesen hätte, spricht Carrère auch ungemütliche Wahrheiten über seine eigenen Fehler und Widersprüche aus. So bereut er im Nachhinein den „beinahe unterwürfigen, geschwollenen Ton“ seiner ersten Briefe an den Gefängnisinsassen, den „betulichen, mitfühlenden Ernst“ mit dem er sich „bei ihm einzuschmeicheln versuchte“. Darüber hinaus versteht er, dass ein Erzählen aus der Perspektive des Mörders zwangsläufig zu dessen Berühmtheit und narzisstischer Befriedigung beiträgt und für die Opfer eine Zumutung ist.

Das ausgeprägte Bewusstsein des Leids, das der Schriftsteller realen Personen zufügen kann, gehört ebenfalls zu den wesentlichen Merkmalen des 2007 im Original veröffentlichten Folgebuchs Ein russischer Roman, das seit 2017 in einer deutschen Neuübersetzung vorliegt. Trotz des Titels handelt es sich hier erneut um einen nichtfiktionalen Text. Er dreht sich aber diesmal nicht um einen berühmten Kriminalfall, überhaupt ist sein Thema nicht so leicht zu ermitteln. Als Carrère im Hochsommer 2001 sein neues Notizheft einweiht, beklebt er die ersten Seiten mit zwei Bildern: „Auf die linke Seite meinen Großvater, mit gesenktem Kopf, gerunzelter Stirn und finsterem Blick, und auf die rechte Sophie, nackt auf der Terrasse des Ferienhauses in Formentera.“ Was für ihn Familiengeschichte und Liebesleben verbindet, ist das unvermeidbare Scheitern, das ähnlich wie im Fall Romand selbst die scheinbaren Erfolgs- und Glücksmomente des Lebens im Nachhinein ihres Sinnes beraubt.

Angestoßen wird das neue Schreibprojekt durch einen Auftrag, den Carrère am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts bekommt: In Begleitung eines französischen Fernsehteams soll er in eine kleine Stadt 800 Kilometer nordöstlich von Moskau reisen, um den Spuren des „letzten Gefangenen des Zweiten Weltkriegs“ nachzugehen. Im engeren Sinne trifft diese Bezeichnung auf den ehemaligen ungarischen Soldaten András Toma eigentlich gar nicht zu, denn er wurde eher vergessen denn festgehalten. Als jahrzehntelanger Insasse einer russischen Nerven- und Heilanstalt, den man in seiner Heimat nach einiger Zeit für tot erklärt hatte, fiel er in einen wohl noch tieferen Abgrund der Einsamkeit als Romand. Während der falsche Arzt niemals über sein Geheimnis sprechen konnte, war es dem nur seine Muttersprache beherrschenden Toma zwischen dem 23. und 75. Lebensjahr versagt, sich auch nur ein einziges Mal mit einem anderen Menschen zu unterhalten. Anders als seine Kollegen von Iswestija, CNN oder Reuters begnügt sich Carrère aber nicht mit den Klischees, die ihm der Chefpsychiater so routiniert wie selbstzufrieden anbietet. Nachdem er Zugang zur Krankenakte erlangt hat, kann er die „neutralen, platten, monotonen Phrasen“, mit denen das Pflegepersonal den „unerbittlichen Prozess der Zerstörung“ so gewissenhaft  wie desinteressiert festhält, kunstvoll zu einer Allegorie des Verlorenseins und der Heimatlosigkeit zusammenfügen. Besondere Intensität bekommt Carrères Beschäftigung mit dem Stoff dadurch, dass die Geschichte des András Toma stellvertretend für ein ihm viel näheres und trotzdem unergründliches Schicksal steht. In den 20er Jahren führte sein Großvater als georgischer Emigrant ein trostloses Dasein im damals wenig gastfreundlichen Frankreich. Erst die Kollaboration mit den Nazis brachte ihm den ersehnten sozialen Aufstieg, für den er aber nach dem Abzug der deutschen Truppen vermutlich mit seinem Leben büßte: „Seine Leiche wurde nie gefunden. Er wurde nie für tot erklärt. Kein Grab trägt seinen Namen.“ Dieses Trauma trug auch die Tochter des Verschollenen und Mutter des Autors, die als Historikerin berühmt gewordene und zum Oberhaupt der Académie Française ernannte Hélène Carrère d’Encausse, ein Leben lang mit sich.

In der schon erwähnten Rezension sprach John Updike dem Schriftstellerkollegen Carrère seine Bewunderung aus, weil er den „verblüffenden“ Schnurrbart innerhalb von fünf Wochen geschrieben hatte. Genau wie für den Widersacher ging hingegen der Veröffentlichung des Russischen Romans ein quälend langer Reifeprozess voraus. Als er die Geschichte des falschen Arztes erzählte, konnte sich Carrère zumindest auf die 10000-seitige Ermittlungsakte stützen. Was die Bestandteile des Folgewerkes waren und wie sie zusammenpassen sollten, war eine viel schwierigere Frage. Obwohl er doch eigentlich seinen Kontrollverlust dokumentieren wollte, hält der Erzähler schließlich die Fäden meisterhaft zusammen. Auch die Tatsache, dass ihm bei der Beschreibung der eigenen Lebenskrisen ein wenig von seiner wohltuenden Lakonie abhanden geht, fällt dabei wenig ins Gewicht.  Wer diese Szenen in ihrer ganzen Wucht, Originalität und Tiefgründigkeit würdigen will, sollte allerdings bereits ein Kenner des Carrère’schen Universums sein. Es ist also durchaus verständlich, dass Carrères aktueller Verlag das Buch erst nach den etwas leichter zugänglichen Werken veröffentlicht hat, die meistens aus den 2010er Jahren stammen. Mit dem Widersacher ermöglicht es eine Reise zu den Ursprüngen des dokumentarischen Schreibens des französischen Autors.

Als sorgfältige und kompetente Begleiterin steht uns jedesmal die Übersetzerin Claudia Hamm zur Seite. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin, die 2001 die erste deutsche Fassung des Widersachers lieferte, macht sie keine gravierenden Übersetzungsfehler und nimmt sich auch nicht die Freiheit heraus, ganze Satzteile einfach wegzulassen. Nur ganz selten spürt man, dass der französische Kontext der 1990er Jahre ihr nicht ganz geläufig ist, und auch die derbe Sprache, mit der Carrère manche seiner Figuren sprechen lässt, wirkt im Deutschen manchmal blass und ausdruckslos. Trotzdem kann man den Verlag nur dazu ermutigen, Hamm jetzt auch mit der Übersetzung oder Neuübersetzung der Romane zu beauftragen, die in der ersten Schaffensphase des Autors (1983 –1995) entstanden sind und die übrigens aufschlussreiche oder erstaunliche Verbindungen zu den nichtfiktionalen Werken aufweisen.

Was man in Deutschland getrost ignorieren sollte, sind freilich die unzähligen Nachahmungen des Widersachers und des Russischen Romans. Eine der Folgeerscheinungen des riesigen kommerziellen und literarischen Erfolgs der beiden Bücher war nämlich, dass viele französische Schriftsteller plötzlich einen ähnlichen Weg wie Carrère einschlugen. Herausgekommen sind vollmundige, schon oft dagewesene Theorien über den „Tod der Fiktion“ und nur vermeintlich relevante Berichte über Familienferien im Wohnmobil oder über Kriminallfälle, bei denen die Grausamkeit des Mörders die Einfallslosigkeit des Erzählers ausgleichen soll. Carrère selbst hat seine Kunst des autobiographischen und dokumentarischen Schreibens noch weiterentwickelt und verfeinert, was zuletzt zum großartigen Reich Gottes geführt hat (frz. 2014, dt 2016). Wie er es dem deutschen Literaturkritiker Richard Kämmerlings offenbarte, steckt er seit einigen Jahren aber in einer tiefen Schaffenskrise und findet keinen Stoff aus dem wahren Leben, der ihn wirklich anziehen würde. Auch wenn er es im Interview verneint: Vielleicht wäre es an der Zeit, endlich mal wieder eine Geschichte zu erfinden?

Titelbild

Emmanuel Carrère: Der Widersacher. Roman.
Mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Carrère und Claudia Hamm.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Hamm.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
196 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576125

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Titelbild

Emmanuel Carrère: Ein russischer Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Hamm.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
389 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573636

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