Versuchte Nähe

Marion Tauschwitz sammelte alte und neue Erinnerungen an Hilde Domin

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Englischen gibt es für „Biografie“ die umstandslose Übersetzung „Life Writing“. Life Writing hat mit dem Auf- und Weiterschreiben von Leben zu tun. Wenn man dieses Konzept auf Dichterbiografien bezieht, ist Hilde Domin ein gutes Beispiel. Sie hat mit ihren Gedichten, ihren autobiografischen Essays und Gesprächen die Grundlage für ein Selbstbild gegeben, das nach ihrem Tod  (2006) ergänzt und mancherorts auch korrigiert wurde. Daran hat Marion Tauschwitz einen nicht unerheblichen Anteil. Sie hat eine mehrfach wiederaufgelegte, umfangreiche Biografie über Hilde Domin vorgelegt, einen Band mit Erinnerungen herausgegeben und nun auch über die fünf Jahre, die sie in wachsender Nähe zu der Dichterin verbracht hat, ein Buch geschrieben. Tauschwitz war Domins Privatsekretärin, Reisebegleiterin, Freundin und manchmal fällt es schwer, zwischen diesen Rollen zu unterscheiden.

Das Life Writing in den Erinnerungen von Tauschwitz an Domin beginnt 2001 in einer fast schon klassischen Situation, bei einer Autorenlesung. Aus der Bewunderung für die Dichterin erwächst bald eine persönliche Nähe, die das Anekdotische nicht scheut. Domins Wünsche sind von merkwürdiger Präzision (die Besucherin hat sich auf eine krumme Uhrzeit einzustellen), ihr Ordnungssinn ist schonungslos (eine kostbare Kuchengabel, die vermisst wird, findet sich dann doch in dem kühlgestellten Reststück des Kuchens), ihr Verhandlungsgeschick legendär (eine Taxifahrt drückt sie um fast die Hälfte herunter). Tauschwitz ist bei der Dichterin auf deren letzten Lesungsreisen nach Spanien und England und holt auch hier aparte Geschichten aus dem Nähkästchen.

Niemand hat gesagt, dass es leicht ist, eine preziöse Dame in ihren Neunzigern zu betreuen, sich ihren Ansprüchen und Eigenarten zu stellen, aber Marion Tauschwitz vermag es, leichthändig, unbekümmert und mit großer Sympathie von ihren Erlebnissen mit Hilde Domin zu erzählen. Manchmal aber ist die Nähe zu groß, nicht neugierig, jedoch unnötig rivalisierend wie bei den Berichten über Begegnungen mit Marcel Reich-Ranicki, an dem Tauschwitz kaum ein gutes Haar lässt. Man fragt sich auch, was die zahlreichen Ablichtungen von Widmungsseiten in Büchern, die Domin Tauschwitz hinterlassen hat, in den Erinnerungen zu suchen haben: Selfies aus der Werkstatt der Biografin? Diese Kurve, die für Life Writers immer eine Schikane ist, hat der international erfolgreiche Dokumentarfilm von Anna Ditges Ich will dich – Begegnungen mit Hilde Domin (2007) weitaus besser genommen.

Das trübt das Gesamtbild aber nur unwesentlich. Man liest Marion Tauschwitz’ Buch gerne, weil es von einer großen Dichterin erzählt, die genau, manchmal ohne Vorwarnung, wusste, was sie wollte. Unverlierbar ist die Dichtung von Hilde Domin, zu deren Lektüre diese Erinnerungen einladen. Insofern erfüllen sie das, was Ulrike Draesner zufolge das Life Writing ausmacht: „Life Writing sucht danach, wo wir miteinander verbunden sind. An andere angeschlossen. Wo wir aus Büchern über Menschen lernen. Was wir lernen.“

Titelbild

Marion Tauschwitz: Das unverlierbare Leben. Erinnerungen an Hilde Domin.
zu Klampen Verlag, Springe 2019.
196 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783866745964

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