Theodor Fontane hat Angst vor dem Judentum

Hans-Peter Fischers neue Studie über „Irrungen, Wirrungen“ bietet provozierende Erkenntnisse

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Studie über Theodor Fontanes Irrungen, Wirrungen (1887) ist mehr als dreimal so umfangreich wie der Roman selbst. Wie bringt Hans-Peter Fischer das zustande? Gewiss, es gibt Wiederholungen in seiner Darstellung, doch vor allem gilt: Er liest genau und entdeckt Geflechte von Feinheiten, die niemand vor ihm wahrgenommen hat. Ein Beispiel: Wenn die junge Käthe, eine der Romangestalten, nach dem Kuraufenthalt mit ihrem Sonnenschirm fuchtelt (leicht überliest man den diesbezüglichen Halbsatz), so zeigt sie damit ihre Freude, eine reiche Bankiersfrau kennengelernt zu haben, denn von dieser hat sie den Schirm geschenkt bekommen, wie Fischer in kluger Weise entschlüsselt. Freilich gilt: Um Fischers Werk gänzlich zu erfassen, muss man Irrungen, Wirrungen gründlich kennen. Etwas feierlich gesagt: In Fischer hat Fontane, der bewusst sehr viel nur knapp andeutet, den idealen aufmerksamen Leser gefunden.

Fischers Werk ist also anspruchsvoll, und leider ist es darüber hinaus schwierig zu lesen wegen einiger Schwächen: Man stößt, wie erwähnt, auf Wiederholungen, die Gliederung, die seine Zwischenüberschriften vorgeben, wird oft nicht eingehalten, es gibt sprachliche Unstimmigkeiten (etwa schreibt Fischer „Anspiel“ statt Anspielung), und die Quellenangaben in den Anmerkungen sind uneinheitlich und unvollständig. Allerdings erfreut immer wieder der packende Stil.

Irrungen, Wirrungen ist nicht nur die Geschichte von der unglücklichen Liebe einer Kunststickerin zu einem Adeligen, sondern auch – wie schon längst bemerkt wurde – ein Roman über den Untergang des Adels. Das letzte Wort im Roman hat zwar der Adelige Botho, aber mit seinem Satz „Gideon ist besser als Botho“ bekennt er, dass jener andere, der Fabrikmeister und Röhrenspezialist, ihm weit überlegen ist. Das nun vom Bürgertum geprägte Berlin, in dem erfunden, produziert und konstruiert wird, braucht den Adel nicht mehr. Botho resümiert die neue Situation in den kaum bewusst dahingesagten Worten: „Die Wirklichkeiten fangen an“, die für Fischer titelgebend geworden sind.

Fischer achtet vor allem auf zweierlei. Zum einen geht es ihm um die Charakterzüge der beiden Frauen Lene, der Kunststickerin, und Käthe, der späteren Ehefrau Bothos. Er weist nach, dass Lene nicht einfach Arbeiterin ist, sondern schon längst vor ihrer Liebschaft mit Botho sich der adeligen Welt genähert hat (sie versteht das Segeln, sie hat ein adelskritisches Theaterstück gesehen, auch ist Botho nicht ihr erster intimer Freund): Ihre Absicht oder vielmehr ihre „fixe Idee“ ist es, den Geliebten aus der „tristen Realität des Adels“ herauszuführen, ihn zu „retten“. Lenes eigentliches Unglück im Roman ist also nicht ihr Liebeskummer, sondern das Scheitern ihrer Rettungsidee. Käthe indes, die der schöne Botho seiner Geldsorgen wegen heiraten muss, ist zwar eine Adelige, aber sie schwärmt für Industrielle und Erfinder und entdeckt ihre Vorliebe für das superreiche Judentum.

Mit diesem Stichwort sind wir beim zweiten Punkt, dem wichtigsten. Fischer beobachtet, dass Fontane acht vermögende Juden auftreten lässt, von Lenes Arbeitgeber bis zu der erwähnten Bankiersgattin in der Kur, stellt sogar fest, dass im Roman Juden „als einzige Vertreter der Bourgeoisie“ agieren. Fischer kennt die antisemitischen und die philosemitischen Äußerungen des alten Fontane und betont insbesondere diese beiden Briefzitate Fontanes von 1895: „Borkum ist judenfrei, das soll aber auch der einzige Vorzug sein“, und: „Die Verjüdelung wächst rapide.“

Der Roman Irrungen, Wirrungen geht scheinbar nicht so weit wie diese Aussagen, Fontane nennt hier die Juden gar nicht Juden. Aber diese sorgfältig dosierte Zurückhaltung Fontanes – genauer: diese Zurückhaltung seiner Erzählerfigur –, die Fischer ein „funkelndes Erzählen“ nennt, hat es in sich: Durch sie will Fontane die Macht der  Juden zeigen. „Die sich ständig vergrößernde Macht der Juden“ ist somit das „verborgene Thema des Romans“. Mehr noch: Der Roman verkünde, dass „die Juden zunehmend als Gefahr“ anzusehen sind; „Fontanes eigene Ängste“, sagt Fischer, „schauen aus jeder Ritze“. Er vergleicht Fontane mit Heinrich Heine, indem er aus dessen Geständnissen zitiert: Karl Marx und Friedrich Engels, „diese Doktoren der Revolution sind die einzigen Männer in Deutschland, denen Leben innewohnt, und ihnen gehört, ich fürchte, die Zukunft“. Ähnlich befürchte Fontane, dass den Juden die Zukunft gehören wird.

Fischers Überlegungen sind gut abgesichert, im Wesentlichen muss man ihm recht geben. Gewiss, dass etwa Käthes Gynäkologe ein Jude ist, ist nicht eindeutig; Fischer argumentiert damit, dass Fontane von „sehr kostspieligen“ Untersuchungen spricht und dass in Fontanes Stechlin der Arzt ebenfalls Jude ist. Übrigens gar nicht von der Hand zu weisen ist Fischers Gedankenspiel, wonach der jüdische Finanzmann nur deswegen Botho plötzlich unter Druck setzt, weil dessen intriganter Onkel diesen Mann dazu veranlasst: Der sture Adelige verbündet sich mit der jüdischen Welt, wenn es dem Erhalt seiner Familientradition nützt. Man erinnert sich, dass der alte Fontane Adel und Bürger oft in einem Atemzug genannt hat, um zu sagen, dass beim Arbeiterstand die größeren Fähigkeiten liegen.

Es ist durchaus neu in der Fontane-Philologie, was Fischer hier entwickelt, von den adelsfeindlichen Taktiken der Figur Lene bis zu Fontanes Ängsten vor dem Judentum. In den Diskurs „Fontane und das Judentum“ muss ab jetzt auch Irrungen, Wirrungen mit eingebracht werden. Seinerzeit, dies sei noch vermerkt, haben erste Interpreten Irrungen, Wirrungen einen naturalistischen Roman genannt, weil sie zwar nicht direkt, aber doch zwischen den Zeilen das Elend der Epoche herauslasen; Conrad Alberti hat 1889 (in Die Gesellschaft, der Zeitschrift des Naturalismus) bewusst provozierend – und dabei lobend – von den „Dreckseelen“ in diesem Roman gesprochen. Fischers Studie, die ja auch Ungeheuerliches zwischen den Zeilen erkennt, schließt in gewisser Weise hier an.

Hans-Peter Fischers Studie beeindruckt nicht nur durch die genannten Thesen, sondern auch durch weitere Erkenntnisse. Er sieht viele intertextuelle Querverbindungen zu den Märchen der Brüder Grimm und von Hans-Christian Andersen und zu Tausendundeiner Nacht, bemerkt sogar Einflüsse der Bibel: Botho als Verlorener Sohn, Lene als eine Maria Magdalena, die das Thema Neustart und Auferstehung für sich verarbeitet. Bemerkenswert ist auch der Abschnitt über Fontanes Namenswahl, der sogar das Auftreten des vornehmen „th“ in verschiedenen Namen erörtert. Am Ende sind zwei Drehbücher zum Stoff von Irrungen, Wirrungen wiedergegeben mit originellen Dialogen, in denen Fischer das aussprechen lässt, was wohl Fontane selbst, hätte er ausführlich sein wollen, gesagt hätte.

Titelbild

Hans-Peter Fischer: „Die Wirklichkeiten fangen an“. Theodor Fontanes ‚Irrungen, Wirrungen‘ als Gradmesser einer sich verändernden Welt.
Mit Ilustrationen von Barbara Grimm.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
499 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783826066931

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