Die Ungleichheit der Gleichheit

Die Briefwechsel von Corinna Bille und Maurice Chappaz ist ein schlagendes Beispiel für die unterschiedlichen Lebensbedingungen von weiblichen und männlichen SchriftstellerInnen

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch ist ein Kompromiss – gewiss. Vielleicht hätte man auf die Übersetzung dieser Korrespondenz ganz verzichten und darauf vertrauen sollen, dass die sowohl literarisch wie auch kulturgeschichtlich hochinteressanten Texte des Walliser Schriftstellerpaars Corinna Bille (1912–1979) und Maurice Chappaz (1916–2009) im Laufe der Jahre schon noch ihren Weg zu einer breiteren deutschsprachigen Leserschaft finden würden – auch ohne detaillierte biografische Hintergrundinformationen. In der Schweiz gehören die Bücher von Bille und Chappaz längst zum Kanon, werden in Schulen und Universitäten gelesen und erforscht. Doch ohne den vorbildlichen, jahrzehntelangen Einsatz kleiner Literaturverlage, zuerst in der französischsprachigen, dann zunehmend auch in der deutschsprachigen Schweiz, sowie den philologischen Bemühungen des Schweizerischen Literaturarchivs und der Universität Lausanne wären diese Werke, insbesondere das der früh verstorbenen Corinna Bille, heute vermutlich nahezu vergessen. Dieses Engagement zeigt nun seine Früchte. Zwar ist das Gesamtwerk der beiden noch immer nicht vollständig publiziert, ja nicht einmal ganz erschlossen, doch erscheinen seit über zwanzig Jahren immer wieder Texte aus dem Nachlass von Bille, seit zehn Jahren verstärkt auch in deutscher Sprache. Chappaz hatte am Ende seines Lebens genügend Zeit, sich um seinen und den Nachlass seiner Frau zu kümmern, viele Texte erschienen noch kurz vor seinem Tod.

 Doch die Rezeption des Werks, das im Fall von Bille in erster Linie aus Romanen und Erzählungen besteht, im Fall von Chappaz vor allem aus Gedichten, Essays und Pamphleten, läuft seit Jahrzehnten auch über die Biografie der beiden. Dies hängt zum einen mit der verstärkten Personalisierung des Literaturbetriebs zusammen, dem sensationslüsternden Verlangen nach „Sex and Crime“, nach möglichst intimen und glamourösen Details des Privatlebens, das aus der nachgelassenen Korrespondenz des Ehepaars eine Art postume Homestory macht, bei der Bille und Chappaz zum „verrücktesten, schönsten und wildesten Liebespaar der Schweizer Literaturgeschichte“ (NZZ 26.4.2019) verklärt werden. Zum anderen liegt die Faszination für die Lebensumstände des Paars an dem allgemein zunehmenden Interesse für zeitgeschichtliche und literatursoziologische Konstellationen, die sowohl Fragen zu den Arbeitsbedingungen von Schriftstellern wie auch zum Verhältnis der Geschlechter aufwerfen.

Über genau solche Aspekte aber informiert der Briefwechsel des Ehepaars auf ungewöhnlich konkrete und persönliche Weise. Die Briefe sind ein ebenso genaues wie bewegendes Zeitzeugnis der 1940er bis ’70er Jahre. Sie tangieren die Situation der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs, erwähnen dabei auch kaum bekannte historische Tatsachen, beispielsweise die Existenz jüdischer Arbeitslager im Kanton Wallis, thematisieren die ökonomischen Engpässe der Nachkriegszeit, die Reaktionen auf die Atombombe, die kulturellen Umbrüche im klerikal dominierten Kanton Wallis in den 1960er sowie den beginnenden Afrika-Tourismus in den ’70er Jahren. Dabei werden auch immer wieder – direkt oder indirekt – Fragen der Frauenemanzipation angesprochen, etwa, wenn Corinna Bille sich Mitte der ’70er Jahre darüber beklagt, dass die Bankangestellten des „Crédit Suisse“ sie auslachen, wenn sie Geld vom gemeinsamen Konto abheben möchte (verheiratete Frauen standen in der Schweiz bis 1981 offiziell unter der Vormundschaft ihres Ehemannes). Ein weiteres zentrales Thema sind die Probleme, mit denen Schriftsteller aus der französischen Schweiz zu kämpfen haben, um sich in Frankreich durchzusetzen.

Das ist spannend zu lesen und eröffnet auch LeserInnen, die das Werk noch nicht kennen, aufschlussreiche historische und psychologische, bisweilen literatur- und kulturgeschichtliche Perspektiven. Die vollständige, von einem Herausgabeteam um den Lausanner Romanisten Jérôme Meizoz besorgte Korrespondenz erschien 2016 unter dem Titel Jours fastes (zu deutsch in etwa: „Glanzvolle Tage“). Correspondance 1942–1979. Sie umfasst 1184 Seiten. Davon sind in der deutschen Übersetzung 383 geblieben. Ein guter, da notwendiger Kompromiss. Denn die LeserInnen des gesamten Briefwechsels sind Spezialisten, Kennerinnen des Werks der beiden Autoren und höchstwahrscheinlich in der Lage, das französische Original zu lesen. Die deutsche Übersetzung hingegen wendet sich an ein anderes, breiteres Publikum. So weit, so gut und akzeptabel. Allerdings führt die Kürzung der Korrespondenz um fast zwei Drittel immer wieder zu ungewollten Cliffhängern, manchmal sogar in biografische Sackgassen. Denn die großen Lücken in der Korrespondenz, denen bei einer so umfangreichen Kürzung zwangsläufig auch direkte Reaktionen und Antworten zum Opfer fallen, können durch die zahlreichen Anmerkungen der Herausgeberin und Übersetzerin Lis Künzli, die sich Mühe gegeben hat, dem fragmentarischen Konvolut die größtmögliche Kohärenz zu geben, nicht immer geschlossen werden. Stellenweise bleiben wichtige Fragen offen, etwa wenn es um Billes Herzkrankheit geht oder um das Schicksal der deutschen Haushälterin ihrer Eltern, die 1943 offenbar entlassen wurde und bei ihrer Rückkehr nach Deutschland in eine lebensbedrohliche Lage geriet; oder wenn Maurice Chappaz auf massive Vorwürfe seiner Frau gar nicht einzugehen scheint, beziehungsweise umgekehrt, sich in seinen Antworten auf Vorhaltungen bezieht, die man nicht gelesen hat. Hier fragt man sich bei der Lektüre immer wieder, was wohl in den fehlenden Briefen gestanden haben mag.

Wer das Werk von Bille und Chappaz kennt, möchte mehr erfahren über die Lebensumstände des Paars im Wallis der 1970er Jahre, als die beiden öffentliche Aufrufe zum Schutz der alpinen Natur lancierten, sich mit dem Schweizer Militär und örtlichen Politikern anlegten, weil sie in Pamphleten den Erhalt des legendären Walliser „Pfynwalds“ forderten, der einem Exerzierplatz und einer Autobahn weichen sollte. Man möchte Genaueres wissen über Freundschaften und literarische Affinitäten, mehr auch über die Entstehung einzelner Texte. Doch auch wer das Werk noch nicht kennt, wird bei der Lektüre ein wenig in die Irre geführt. Denn das, was die beiden auszeichnet, die einzigartige Mischung aus konservativer Naturverbundenheit und radikaler Moderne, die Verbindung von Phantastik und Polemik, von lyrisch-magischen und sachlich-essayistischen Sprachformen, rückt im Briefwechsel naturgemäß in den Hintergrund. Hier geht es in erster Linie um ihre Beziehung, um Liebe, Eifersucht, Einsamkeit und Sehnsucht, um den Ehealltag, die Probleme mit Eltern und Verwandten, um Krankheiten, Geldsorgen und die Erziehung der gemeinsamen Kinder.

Stellenweise blitzt das Erzähltalent der beiden dennoch auf, insbesondere in den Briefen von Corinna Bille, beispielsweise wenn sie von ihrem Fernweh schreibt, ihre Träume erzählt oder ihre Erlebnisse in Afrika schildert: den Flug über die Wüste, den Duft von Abidjan, die Begegnung mit afrikanischer Kunst. Da hört man ihn auf einmal dann doch: den speziellen Bille-Sound, jene aus ihren Erzählungen bekannte, plötzliche Intensität eines unerhörten Bildes, die die Autorin selbst „das Bizarre“ ihres Stils nennt: „Heute Nacht hat mich der grelle Mondschein geweckt. Ich dachte, es sei eine neue Sonne, stärker als die andere.“

Trotz dieser eher gemischten Eindrücke, der offenen Fragen und des grundsätzlichen Problems der Privatsphäre ist die Lektüre dieses Briefwechsels zu empfehlen. Und zwar aus einem ganz speziellen Grund: Hinsichtlich der Geschlechterfrage sind diese Briefe von frappierendem dokumentarischem Wert. Wir haben hier den literaturgeschichtlich seltenen Fall einer über Jahrzehnte reichenden Korrespondenz eines verheirateten Schriftstellerpaars, das trotz anfänglicher gemeinsamer Ablehnung der bürgerlichen Lebensformen und Automatismen der Rollenzuweisungen sich nach und nach mit diesen arrangiert, teilweise sogar um den Preis ihrer Liebe. Es wäre gewiss interessant, den Briefwechsel Bille/Chappaz unter diesen Aspekten mit dem von Eva und Erwin Strittmatter oder Christa und Gerhard Wolf zu vergleichen.

Mitte der 1940er Jahre stehen beide am Beginn ihrer Karriere. Während von Bille ganz selbstverständlich erwartet wird, dass sie sich um Haushalt und Kinder kümmert, beansprucht Chappaz seine kreativen, bisweilen auch erotisch genutzten Freiräume und Rückzugsmöglichkeiten. Immer wieder wird diese Ungleichheit zum Thema der Korrespondenz. Bille fühlt sich einsam, sehnt sich – wie einst Virginia Woolf – nach einem eigenen Raum, nach Zeit, um zu schreiben, der Tätigkeit, die sie von allen Tätigkeiten im Leben am meisten beglückt. Sie leidet an Depressionen, wenn sie ihre Sehnsucht nach Freiheit und kreativer Selbstverwirklichung zu lange unterdrücken muss. Bei Chappaz ist es umgekehrt: Ihn belastet die (selbst gewählte) Freiheit, die Unfähigkeit sich sozial und sexuell festzulegen, die fehlende Selbstdisziplin. Er hat Schreibblockaden, fühlt sich „melancholisch“, auch weil er sich selbst wieder und wieder „beweisen“ muss, „dass ich wirklich ein Dichter bin“, während Bille ihre Schreibprojekte aufschiebt, unter der Enge der Verhältnisse leidet, auch unter der erzwungenen sexuellen Enthaltsamkeit und der Bürde der familiären Verantwortung.

Natürlich lieben sich die beiden. Sie ist gerührt von seiner Schönheit, er beeindruckt von ihrer Klugheit und mysteriösen Phantasie. Doch diese Liebe sei, wie Bille bereits vier Jahre nach ihrer ersten Begegnung ernüchtert feststellt, „erbärmlich menschlich“. Chappaz lebt zu dieser Zeit in Paris, während sie mit dem kleinen Sohn bei Verwandten im Wallis untergebracht ist. Zwar spielt die größtenteils uneingestandene Konkurrenz der beiden mit zunehmendem Erfolg keine Rolle mehr, doch möchte man sich beim Lesen gelegentlich an den Kopf fassen, denn die soziale und ideologische Ungleichbehandlung ist mit Händen zu greifen. Stellenweise fühlt man sich fast als Beobachterin eines soziologischen Experiments, dessen Versuchsanordnung ungefähr so lauten könnte: Man nehme zwei etwa gleichaltrige, höchstwahrscheinlich gleichbegabte, einander liebende, sich gegenseitig wertschätzende und unterstützende Schriftsteller, deren größter Unterschied der berühmte kleine ist. Sodann setze man die Probanden in ein und dasselbe Milieu, hier: das reaktionäre Umfeld des katholischen Nachkriegs-Wallis, und warte, was passiert. Vielleicht könnte man das Resultat des Experiments folgendermaßen zusammenfassen: Chappaz kämpft vor allem gegen sich selbst, erreicht schließlich den seinem Talent angemessenen Erfolg, ohne auf Familie und andere bürgerliche Annehmlichkeiten verzichten zu müssen. Bille dagegen kämpft gegen alle, die sie unterschätzen, einengen, bevormunden. Und sie kämpft gegen ihre eigenen Gefühle, entschuldigt sich bei ihrem oft wochen- und monatelang abwesenden Ehemann für ihre Eifersucht, sehnt sich nach Paris und Brüssel, um „diesem Gefängnis für ein paar Tage zu entrinnen“, beneidet unabhängige Schriftstellerinnen wie Ella Maillart und Annemarie Schwarzenbach um deren Reise nach Afghanistan, zensiert und verbrennt ihre eigenen, zornigen Briefe, von denen man ansatzweise in den Anmerkungen der Übersetzerin erfährt, interpretiert und verklärt ihre nur zu verständliche „Lust, alles zu zerstören“ als romantische „Sehnsucht nach dem Absoluten“.

Im Gegensatz zum genieästhetischen Einsiedler- und Vagabundentum von Maurice Chappaz, das sich am besten in den einsamen Höhen der hochalpinen „Haute Route“ oder auf freizügigen Pariser Boulevards entfaltet, ist das Werk von Corinna Bille der eigenen Gesundheit und der Enge des Küchentischs abgetrotzt: „Mit Venusschuh komme ich recht gut voran. Dafür gehe ich fast nicht aus dem Haus und bleibe bis spätabends auf. Es wäre gesünder, an die frische Luft zu gehen und früh zu schlafen, aber dann hätte ich nicht genügend Zeit, denn tagsüber habe ich nie sehr lange meine Ruhe.“ Diesen Kontrast mitzuerleben, in all seinen banalen, doch überaus beredten Details, all seiner konkreten Alltäglichkeit – das ist gewiss die dramatische Lektion dieses Buches.

Titelbild

S. Corinna Bille / Maurice Chappaz: Ich werde das Land durchwandern, das Du bist. Briefwechsel 1942-1979.
Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Lis Künzli.
Rotpunktverlag, Zürich 2019.
399 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783858698308

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