Das Haus an der Straße des Fortschritts 79

Sándor Zsigmond Papps Roman „Der süße Betrug des Lebens“ dreht sich um Rumänien vor und nach der Wende

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bald jährt sich das Ende der kommunistischen Regime im östlichen Europa zum 30. Mal. In Rumänien verlief der Umbruch am blutigsten: Hunderte Menschen kamen um, der Diktator Nicolae Ceauşescu und seine Frau wurden nach einem umstrittenen Prozess an Weihnachten 1989 zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet. Schon bald allerdings sprach man von einer „unvollendeten“ oder gar „gestohlenen Revolution“: Vertreter des früheren Systems hatten es geschafft, sich an den Schaltstellen der Macht zu halten.

Ein bisschen historisches Hintergrundwissen ist von Nutzen, ja sogar notwendig, wenn man Sándor Zsigmond Papps Roman Der süße Betrug des Lebens, der im Original 2011 erschienen ist, gebührend würdigen möchte. Der Autor stammt aus dem nordostrumänischen Radautz und schreibt auf Ungarisch. Papp siedelt seinen Roman in einem Haus an – oder genauer gesagt: einer Wohnung in der Straße des Fortschritts 79 in einer nicht näher benannten Stadt. Diese liegt in Rumänien, nicht weit von der ungarischen Grenze. Hier leben Rumänen, Ungarn und Banater Schwaben. Der Roman umfasst ungefähr den Zeitraum von 1982 bis hin zu den ersten Jahren nach der politischen Wende von 1989.

Die Zeiten sind schlecht: Vom kommunistischen Projekt mit seinen hehren Zielen ist kaum etwas übrig geblieben. Die Versorgung in Rumänien ist katastrophal, vor den Läden und den Tankstellen bilden sich lange Schlangen. Die Regierung will um jeden Preis ihre internationalen Schulden abbauen und verkauft deshalb alles ins Ausland, was irgendwo noch Kunden findet. Der Geheimdienst Securitate ist allgegenwärtig: Einfache Bürger werden als Mitarbeiter angeworben und überwachen als Spitzel ihre eigenen Nachbarn. Zwischen den Menschen herrscht tiefes Misstrauen. Offen geredet wird nur im intimen Kreis. Immer wieder gelangen Gerüchte von erfolgreichen oder gescheiterten Fluchtversuchen über die Grenze nach Ungarn und weiter in die freie Welt in Umlauf.

Papp porträtiert verschiedene Familien, die nacheinander in der erwähnten Wohnung leben. Da ist etwa Rudolf Schiffer, der Schuld auf sich geladen hat, weil er sich mit dem Geheimdienst einließ. Nach Schiffers Selbstmord wohnt hier Mihai Gondru mit seiner Familie. Gondrus rebellischer Sohn Roland macht am Nationalfeiertag während der öffentlichen Feier eine abschätzige Bemerkung über Ceauşescu. Sein Vater muss in der Folge alles daran setzen, den Skandal möglichst klein zu halten. Nach der politischen Wende zieht schließlich Eszter Novák in die Wohnung ein. Auch sie hat ihre Geschichte, die jedoch eng mit den früheren Mietern verknüpft ist. Eine rätselhafte Gestalt, Nicu Zmeură, spielt dabei als Bindeglied eine wichtige Rolle.

In seinem Roman zeigt Papp, dass Täter und Opfer des Systems nicht immer so deutlich auseinandergehalten werden können. Die Bewohner des Hauses, der Straße und der Stadt sind voneinander abhängig und auf vielfache Weise miteinander verstrickt. Das gilt auch auf der Ebene der verschiedenen Volksgruppen. Die meisten Menschen wollen im Grunde bloß irgendwie überleben und halten an ihrem Anrecht auf ein bisschen Glück fest. Daran ändert sich eben auch nach der „Revolution“ nicht allzu viel. Nun herrschen zwar Marktwirtschaft und politische sowie viele andere Freiheiten, doch auch jetzt gibt es wieder Gewinner und Verlierer und neue Abhängigkeiten. Man könnte dies dem Autor und seinem Roman auch zum Vorwurf machen: Papp werfe die alte und die neue Zeit in denselben Topf und differenziere nicht. Doch dem Schriftsteller geht es weniger eine eindeutige Bewertung der neusten rumänischen Geschichte. Ihm ist es vielmehr darum zu tun, den Charakter der zwischenmenschlichen Beziehungen unter schwierigsten Bedingungen zu beschreiben. Gerade hier ist Papps Roman am stärksten. Der Autor zeigt psychologisches Einfühlungsvermögen und stellt seine Begabung für eine präzise Gesellschaftsanalyse unter Beweis. Über Mihai Gondru wird einmal gesagt: „Über ihm arbeiten genauso viele Leute wie unter ihm, das heißt, er musste in genauso viele Ärsche kriechen, wie er Leuten befehlen konnte. Das konnte man nicht lange aushalten. Den Stress, dass er die beiden Dinge niemals vermischen durfte.“

Der süße Betrug des Lebens ist in gewisser Hinsicht auch ein Kriminalroman. Balázs, Rudolf Schiffers Sohn, ist nämlich vor einigen Jahren beim Fluchtversuch ums Leben gekommen. Die genauen Umstände bleiben jedoch lange im Dunkeln. Erst nach und nach können die Leserinnen und Leser die Hintergründe zumindest teilweise erschließen. Oder war vielleicht doch alles ganz anders? Das verleiht dem Roman Spannung und treibt die Handlung voran. Freilich ist die Lektüre mitunter nicht einfach: Manches bleibt ungesagt oder wird höchstens angedeutet. Papp arbeitet außerdem mit Vor- und Rückblenden. Zwar werden hier und da auch reale Elemente wie internationale Sportereignisse oder konkrete politische Geschehnisse erwähnt, welche die zeitliche Orientierung im Text erleichtern. Doch spiegelt all dies letztlich genauso die conditio der Menschen in einer Diktatur beziehungsweise im Chaos der Nachwendezeit wieder: Sie verstehen selbst ebenso wenig, was ihre Äußerungen und Handlungen bewirken können. Die Wahrheit hat einen schlechten Stand, wenn die Kommunikation vornehmlich aus Gerüchten besteht. Gleichgültig, unberührt von allem, unbeteiligt wie ein stiller Beobachter, bleibt dabei letztlich nur das Haus.

Christina Kunze hat den Roman aus dem Ungarischen in ein insgesamt gut lesbares Deutsch übertragen. Manchmal entsteht allerdings der Eindruck, die Übersetzerin sei mit der rumänischen Wirklichkeit nicht immer ganz vertraut. So interpretiert sie den Frauennamen Rodica einmal als männlich. Und der deutsche Begriff „Komitat“ (für die Provinzen des Landes; ungarisch „megye“) war zwar in Siebenbürgen tatsächlich gebräuchlich, jedoch nur solange die Region zu Österreich-Ungarn gehörte. Für das kommunistische und postkommunistische Rumänien wäre im Deutschen deshalb der Begriff „Kreis“ besser angebracht. Ein Anhang mit ein paar Anmerkungen zur neusten Geschichte Rumäniens wäre überdies für den Großteil der Leserschaft hilfreich gewesen.

Ganz unverständlich ist, warum das deutschsprachige Feuilleton diesen Roman bisher fast völlig ignoriert hat. (Möglicherweise folgen die Besprechungen ja noch nach: pünktlich zum Jubiläum der „Revolution“ am Ende dieses Jahres…). Das ist auf jeden Fall bedauerlich, denn Der süße Betrug des Lebens ist ein vielschichtiger, komplexer und eindringlicher Roman. Wenn auch mit den Mitteln der Fiktion, so leistet Sándor Zgismond Papp hier einen bedeutenden Beitrag zur neusten europäischen Geschichte. 30 Jahre nach der Wende kann man nämlich immer noch nicht davon ausgehen, dass wir vom Osten des Kontinents genauso viel wissen wie vom Westen.

Was aber ist der titelgebende süße Betrug des Lebens? – Sándor Zsigmond Papp lässt Rudolf Schiffer darüber räsonieren. Und dessen Erkenntnis gibt sicher nicht nur den Romanfiguren zu denken, sondern uns allen:

Wenn man sich das Glück als einen See vorstellte, wie konnte es dann sein, dass es im Rückblick doch in ein Schnapsglas passte? Aber egal, das könne er […] sowieso nicht richtig erklären, denn darin liege eine finstere Philosophie. Ein unausweichlicher, süßer Betrug des Lebens, dass es auf keine Weise messbar sei, weder mit dem Zollstock noch mit der Waage, dass es keine akzeptable Maßeinheit hätte, nur ein Geheimnis, tausend und abertausend Schattierungen des Dunkels.

Titelbild

Sándor Zsigmond Papp: Der süße Betrug des Lebens. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Kunze.
Heyne Verlag, München 2019.
576 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783453271586

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