Lob des Authentischen in atmosphärischer Dichte

In seinen Erzählungen „Ein Spiegelbild im Wasser“ analysiert Halldór Laxness die Untiefen der conditio humana

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als es draußen bitterlich kalt ist, hört der Schriftsteller an seiner Tür ein Klopfen. Draußen steht ein Mann, der behauptet, an „Osteopoikilosis“ zu leiden. Unbedingt wolle er dem Schriftsteller, der doch ein realistischer sei, seine Lebensgeschichte verkaufen. Seine Katze sei gestorben, er brauche unbedingt einen Mantel, gegen Schnaps oder Schnupftabak habe er aber auch nichts einzuwenden. Seine Krankheit sei eine ganz außergewöhnliche und wissenschaftliche, sieben Doktoren beschäftigten sich damit seit mehreren Jahren, aber Wissenschaft sei eben nicht alles. Im Übrigen sei das Gefängnis „die am besten organisierte und weitaus kultivierteste Gemeinschaftseinrichtung, die wir haben“. Dort herrsche ein hohes kulturelles Niveau, denn selbst für das Schnupfen von Tabak brauche man eine Genehmigung. Der einzige Nachteil: im Gefängnis gebe es keine Katze.

Von dieser kuriosen Begegnung berichtet Laxness in Besuch im Winter aus dem Jahre 1955, einem Text, der kaum den anderen Erzählungen zuzuordnen ist und als Parabel verstanden werden kann, in der sich Krankheit und Katze als diametral einander entgegengesetzte Pole der Determinierung und der Freiheit herauskristallisieren, zwischen denen das Gefängnis als hoch entwickelte Gemeinschaftseinrichtung liegt. Der Schriftsteller, in diesem Fall recht unverblümt mit Laxness selbst gleichzusetzen, sieht sich mit allen Komponenten konfrontiert, bleibt aber auf Distanz dazu. Seine vornehmste Aufgabe ist es, aus dem Bestehenden eine neue Welt zu konstruieren, Elemente der Realität in der Narration zu justieren, zu verlinken und in eine rhythmische Dauerschleife der Annäherung zu- und der Abstoßung voneinander einzubinden. Für diese Welt trägt er die Verantwortung.

Dass solche ästhetischen Konstruktionen die Macht haben, jedes Elend zu überwinden, konträre Positionen in einem Dritten zu vereinen und sie dennoch fortbestehen zu lassen, verdeutlichen insbesondere die wundersamen Klänge, die am Ende der Erzählung „Und die Lotosblume duftet…“ ertönen. Ein zehnjähriger Junge verdient sich in New York ein bisschen Geld mit dem Aufsammeln von Zigarettenstummeln, während sich am Bett seiner todkranken Mutter ein Priester und ein Materialist heftige Wortgefechte liefern. Der Junge kommt nach Hause, bereitet ein Essen für seine Mutter und spielt danach auf seiner Geige. Damit öffnet er, ein Wunderkind, der „Existenz einer höheren Sphäre […] ihre Pforten“, „der Blick des Vernunftanbeters“ beginnt „unsicher zu flattern“ und „die Rede des Geistlichen“ hört „mitten in einem Bibelzitat“ auf. Zwischen Immanenz und Transzendenz – dort ist der Sitz der Künste, von dort aus schreibt auch Halldór Laxness, dessen Erzählungen nun auf Deutsch in einer Gesamtausgabe vorliegen. Es handelt sich um eine partielle Neuübersetzung für die Halldór-Laxness-Werkausgabe des Steidl Verlags.

Der Band mit den Erzählungen, für den als Gesamttitel Ein Spiegelbild im Wasser (Erzählung aus dem Jahre 1925) gewählt wurde, besteht aus den Sammlungen Einige Erzählungen (1923), Menschenschritte (1933), Sieben Zauberer (1942) und Ein Angelausflug ins Gebirge (1964), die zum Teil bereits einzeln im Steidl Verlag erschienen sind. Besuch im Winter (1955) bildet den zumindest chronologischen missing link.

Für die insgesamt 35 Geschichten, von denen einige, zum Beispiel Sünde (1919) oder Ein trauriges Bild (1920) lediglich ein bis zwei Seiten umfassen, andere, vor allem Das gute Fräulein und das herrschaftliche Haus (1933) die Länge eines kurzen Romans erreichen, lässt sich auf den ersten Blick kaum ein gemeinsamer Nenner oder ein Substrat finden. Allerdings: Egal, ob in den ersten oder in den letzten Erzählungen, es geht immer um das kommunikativ auszugestaltende Aufeinandertreffen von Menschen oder von Menschen und Tieren. Dabei dominiert die Frage nach der Authentizität mit ihren Facetten Selbst- und Fremdbestimmung, Einsamkeit, Gemeinschaft, Loyalität, Aufrichtigkeit und Würde. So durchwandern grundsätzliche existenzielle und ethische Problemstellungen sowohl die ersten als auch die letzten Erzählungen.

Der Dichter und sein Hund (1920, Einige Erzählungen) handelt von einer gerissenen Kaufmannstochter, die einen Sommer lang in den Dichter verliebt ist, sich sogar mit ihm verlobt, dann aber danach trachtet, ihn loszuwerden. Unter dem Vorwand, dass sie „Hundegesabber“ nicht ertragen könne, bittet sie den Dichter, seinen Hund Zeus zu erschießen. Das bringt der Verlobte nicht übers Herz, schickt aber Zeus fort. Als der immer wieder vor seiner Tür erscheint, verschenkt er ihn an einen Kapitän. Schnell findet die junge Frau einen anderen Grund, die Verlobung zu lösen. Während der Dichter im Ausland weilt, wird Zeus von einem Besitzer zum nächsten geschickt, um zuletzt als streunender Hund in der freien Natur zu landen. Als der Dichter wieder in die Heimat zurückgekommen ist, findet er eines Wintermorgens den erfrorenen Zeus vor seiner Haustür.

Zwei sehr unterschiedliche Schwestern geben sich in Das gute Fräulein und das herrschaftliche Haus (1933, Menschenschritte) ein Stelldichein. Rannveig, die jüngere Tochter, wird 30 Jahre alt, ohne dass ein Ehemann in Sicht ist. So schickt man sie im Sommer von der isländischen Provinz nach Kopenhagen, damit sie dort eine weiterführende Schule für Kunst besuchen kann. Doch nach einigen Monaten kehrt sie schwanger zurück. Rannveig, ihre Mutter, ihr Vater sowie die ältere, bereits „in einem herrschaftlichen Haus“ verheiratete Schwester Thuridur beraten, was zu tun sei. Für Rannveigs Verlobten wird aufwändig ein standesgemäßes Zimmer im Haus der zukünftigen Schwiegereltern hergerichtet. Doch als die Hochzeitsvorbereitungen abgeschlossen sind, legt das Schiff aus Kopenhagen an, ohne dass der Verlobte ihm entsteigt. Er sei kurz vor der Verteidigung seiner Doktorarbeit verstorben. Thuridur und ihr Mann sorgen dafür, dass Rannveig das uneheliche Kind weggenommen wird, diese erträgt ihr Schicksal klaglos. Nach einigen Jahren, in denen sie eine kleine Weberei errichtet und sehr wohltätig ist, wird sie erneut schwanger. Der Ehemann in spe ist jedoch, so stellt sich heraus, einer anderen, ebenfalls schwangeren Frau versprochen. Kurzum beschließen Eltern und Schwester, sie mit einem Angestellten ihres Schwagers zu verheiraten. Thuridur lässt nun einen Zaun zwischen ihrem „herrschaftlichen Haus“ und dem Anwesen der Schwester errichten. Nicht nur von ihr und ihrer Familie, sondern von allen anderen im Ort, denen Rannveig zuvor Gutes getan hat, wird die kleine Tochter wie eine Aussätzige behandelt. Im Alter von zehn Jahren erkrankt sie schwer und verstirbt. Nach diesem Schicksalsschlag tritt Thuridur in Rannveigs Haus, „großartig und vornehm“. In einem kurzen Fazit wird Bezug genommen auf die beiden Nornen „Aufrichtigkeit“ und „Wohlanständigkeit“. Diese hätten sich nie zuvor gesehen, aber bei Rannveig, mit dem „Leichnam der kleinen Katrin Hansdottir als Unterpfand“, seien sie sich zum ersten Mal begegnet.

Die Niederlage der italienischen Luftflotte in Reykjavik (1934–1935, Sieben Zauberer) zeigt auf humoristische Weise, wie ein italienischer Faschistenführer in Uniform, der mit seiner Truppe auf Island weilt, von einem jungen Hotelangestellten, ebenfalls in Uniform, im Ringkampf besiegt wird. Stebbi, der Page, hat es sich nämlich nicht gefallen lassen, dass Pittigrilli, der Faschist, ihn nach einer freundlichen Begrüßung und der Bitte um Feuer für seine Zigarette, ins Gesicht schlug. Nun, so die Italiener, sei „la gloria della patria mit Füßen getreten“ worden. Von dieser Aufregung bekommt Stebbi gar nichts mit, denn nach seiner Schicht im Hotel ruht er sich zu Hause aus.

Die letzte Erzählung des gesamten Bandes, Ein Vogel auf dem Zaunpfahl (1964, Ein Angelausflug ins Gebirge) führt an das Totenbett des misanthropischen Knutur. Dort versammeln sich auf Geheiß des Sterbenden der Gemeindevorsteher, der Vorsitzende des Gemeinderates und der Pfarrer. In seinem Testament, so Knutur, solle stehen, dass nach seinem Tod sein Haus niedergebrannt werden solle. Der Hof mit seinen Nebengebäuden solle stehen bleiben, werde aber niemandem gehören. Bei diesem Gespräch versucht der Pfarrer verzweifelt, Knutur zu einem christlichen Glaubensbekenntnis zu bewegen. Dieser entgegnet, dass er an die „Wesen, die zu Vögeln geworden sind“, glaube. Darüber hinaus habe er seine letzten Lebensjahre in dem verbracht, was er als Himmelreich bezeichnet, denn er habe sich immer von den Menschen ferngehalten. Knutur hat nur einen Wunsch: der Pfarrer soll sich um seine Hündin kümmern, damit sie nach dem Tode ihres Herrn nicht heimatlos herumstreunt.

Die vier Beispiele belegen, was dem isländischen Barden schlechthin am Herzen liegt: auszuloten, wie Menschen sich begegnen, inwieweit sie sich selbst verleugnen oder inwieweit sie in ihrer Naivität oder gegen Widerstände von außen ihre Authentizität bewahren können. Sowohl der Dichter, der seinen Hund wegen einer Frau verstößt, ist fremdbestimmt als auch Thuridur, die im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht, um der allem anderen übergeordneten Wohlanständigkeit Genüge zu tun. Alle Sympathien der Leser werden auf Stebbis Seite gezogen. Er, der unter dem Mobbing einer Kollegin zu leiden hat, ist ein naiver Naturbursche mit einfachem Rechtsempfinden. Da er nichts von Mussolini und seinen Schergen weiß, können diese ihm noch nicht einmal egal sein. Knuturs Anliegen schließlich impliziert den Negativbefund, dass Tiere die besseren Menschen sind.

Laut Hubert Seelow, Laxness-Spezialist und Herausgeber des Gesamtwerks, sind „die zentralen Themen, die Halldór Laxness in seinen großen Romanen behandelt […] auch in seinen Erzählungen zumindest ansatzweise vorhanden“ (Nachwort). Seelow listet unter anderem „die Anklage sozialer Ungerechtigkeit“, „die Suche nach religiöser Wahrheit“, „den Gegensatz zwischen Stadt und Land“ sowie „den Konflikt zwischen der traditionellen bäuerlichen Kultur Islands und der modernen Großstadtkultur des Auslands“ auf. Soziale Ungerechtigkeit, Armut, Waisen, die in Pflegefamilien vermittelt werden – meist bleibt es dabei, dass Laxness diese Defizite aufzeigt und damit zum Fürsprecher für die Anliegen der kleinen Leute avanciert. Diese Haltung weitet sich in Der hinkende alte Thordur (1935, Sieben Zauberer) zum unverblümt Kämpferischen und Revolutionären aus. Am 9. November 1932, „jenem wichtigen Tag in der Geschichte der isländischen Arbeiterbewegung“, rafft sich Thordur trotz einer Behinderung auf, um an Demonstrationen gegen die Macht der Kapitalisten teilzunehmen. Nun versteht er endgültig, „dass die Isländer zwei verschiedene Völker im selben Land sind, die Reichen und die Armen“. Das Taubenfest (1964, Ein Angelausflug ins Gebirge) intensiviert die sozialkritische Aussage insofern, als sie diese ins Uneindeutige und Allgemeinere und damit zu ausgeprägterem Engagement steigert. Nach langer Suche trifft der Ich-Erzähler endlich den „großen Gastgeber“. Dieser ist ein Mann, der mit dem Bügeln von Hosen zu Reichtum gelangt ist und daher schlichtweg „das Telefonbuch eingeladen“ hat. Er entscheidet sich zu guter Letzt dazu, mit seinem Geld die Gründung eines Kinderheims zu unterstützen, das aber genauso sein müsse wie die Pflegefamilie, in der er aufgewachsen sei. Außerdem solle verhindert werden, dass eines dieser Kinder solch großen Reichtum erwerbe wie er. Man kann nicht umhin, diesen Text als Pastiche zu Das Gastmahl des Trimalchio zu lesen, gleichzeitig als existenzialistische Parabel um einen Hosenbügler, der in sein Dasein hineingeworfen wurde und seine pekuniäre Freiheit völlig verantwortungslos nutzt.

Wie intensiv Laxness nach religiöser Wahrheit sucht, konkretisiert sich besonders eindrücklich in dem Bericht über eine Kindheitserinnerung in Mein heiliger Stein (1921, Einige Erzählungen), eine der ersten Erzählungen. Ein Stein, in dessen Umkreis der nahe Wasserfall in den Farben des Regenbogens sprüht, triggert die Offenbarung von Christus. Die Abgeschiedenheit, in der ein kleiner Junge steht, der gerade ein Eimerchen voller Beeren gepflückt hat, repräsentiert die traditionelle Kultur Islands, deren Werden und Vergehen nicht ohne die stets präsente Gewalt der Natur zu denken ist. Diese Kultur geht einher mit einer festen religiösen und mystischen Orientierung. Sie leistet der Annahme Vorschub, dass die Natur von vielerlei Wesen beseelt sei. Während der Umgang mit Sturm, Gewitter, Flut, Feuer und Eis quasi zu den operativen Anforderungen des Alltags zählt, versagt diese jahrhundertelang gewachsene Kultur indessen kläglich, wenn sie der menschlichen Gefühlswelt ausgesetzt ist. Als eine Liebesgeschichte einen jungen Bauern, „ein ernsthafter und kalter Mann, den anderen ähnlich, ein Eisriese aus ihren Reihen“ (Kämpfernaturen, 1920, Einige Erzählungen), in den Wahnsinn treibt, werden die anderen noch ernsthafter, erstarren gar in völliger Hilflosigkeit. Solche wortkargen „Kämpfernaturen“ sichern gleichwohl das Überleben, wie Heidbaes (1919, Einige Erzählungen) beweist: Helgi, der einzig und allein „die Saga von Grettir“ vorliest und Heidbaes, ein sehr wortgewandter junger Mann aus Reykjavik, buhlen beide um die Gunst von Asta. Als diese schon fast so weit ist, mit Heidbaes in die Hauptstadt zu ziehen, bricht der Vulkan Ketill aus. Heidbaes flieht überstürzt und lässt Asta zurück, die sich wieder Helgi zuwendet. Aus der Opposition Stadt – Land geht das Land als klarer Sieger hervor. Genauso ist es, wenn der weitgereiste und kosmopolitisch getunte Dichter sich am Heiligen Abend allein in einer Großstadt auf dem Festland befindet (Ein Weihnachtsgedicht, 1920, Einige Erzählungen). Er höre sich „selbst irgendwoher aus der Ferne rufen: Ich komme aus Island und will sterben!“. Er trinkt zu viel, wird überfallen, bleibt in der Gosse liegen. Nur eine Prostituierte kümmert sich um ihn.

Unversöhnbare Gegensätze zwischen alter isländischer und neuer europäisch-festländischer Welt durchziehen das gesamte Werk von Laxness. Die Korruption der Städte macht vor Reykjavik nicht halt, wo Kapitalismus und Ursprünglichkeit hart aufeinanderprallen. Lediglich die Kunst kann eine vermittelnde und relativierende Position einnehmen. Laxness hütet sich davor, die isländische Lebensweise zu idealisieren, denn er setzt genug kritische Akzente, vor allem dann, wenn mit unreflektierter Triebhaftigkeit und dem Festhalten an Traditionen um ihrer selbst willen zu rechnen ist. Zielscheibe seiner Ironie und seines gelinden Spotts scheinen vor allem Frauen zu sein. Oftmals sind sie kinderreich, „wahre Kindermaschinen“, wie etwa die Frau des Thordur in Kalfakot. Acht, neun oder gar zehn Kinder scheinen in vielen Familien an der Tagesordnung zu sein. Wenn manch verheiratete Frau allein auf Reisen geht, wird ihr unterstellt, dass sie ihrem Gatten untreu sein könnte, so etwa bei Thuridur oder Krilons Frau in Der Angelausflug ins Gebirge. Und wenn die Gattin des Nachbarn nachts mit vollkommen lauteren Absichten noch einmal ins Haus kommt und sich selbst als „Erbsünde in Filzpantoffeln“ bezeichnet, so gibt es hier ebenso eine Deutung jenseits des Humors.

Die thematischen Oppositionen äußern sich nicht selten in einem spannungsgeladenen eklektizistischen Textgebilde. Einerseits erfüllen diese das Klischee der typisch isländischen Erzählkunst, andererseits bestehen sie aus einem Mosaik von Prätexten aus Realismus, Surrealismus und Expressionismus. Während viele Themen und Motive über das gesamte Erzählwerk hinweg konstant bleiben, ist im stilistischen Bereich eine ausgeprägte Entwicklung hin zur Differenzierung und Verfeinerung zu erkennen. Laxness war selbst sein schärfster Kritiker, wertete er doch seine ersten Erzählungen „eher als psychologische Dokumente denn als Literatur“ und war er der Meinung, dass es „kaum einen Jungen“ seines „Alters im Land“ gab, „der das nicht genauso gut oder besser hätte schreiben können“. Außerdem habe er, so Laxness, sehr unbekümmert und schnell gearbeitet, ohne sich um literarische Methoden zu scheren. Dennoch ist der Wert der ersten Erzählungen nicht zu unterschätzen. Auch hier leuchten schon literarische Kleinode, insbesondere Mein heiliger Stein mit seinen Anklängen an den Pantheismus und seiner sehr bedeutungsträchtigen, expressiven Sprache.

Die ersten Erzählungen unterscheiden sich insofern von den folgenden, als sie eher statische Tableaus konturieren, ein Leben oder ein Ereignis eher in der Totale erfassen als in Details zu gehen. Obgleich nicht selten, zum Beispiel bei Ein Spiegelbild im Wasser, ein gewisser Tableaucharakter erhalten bleibt, dynamisieren sich die Erzählungen der folgenden Bände. Im Erzählfluss hält Laxness dann inne, wenn er ein sinnliches Fest mit Sprache veranstaltet, dann, wenn er mit Asyndeta Wortfeuerwerke zündet, wie beispielsweise in Das gute Fräulein und das herrschaftliche Haus. Die Pracht des gerade hergerichteten Zimmers für den dänischen Bräutigam wird über fast zwei Druckseiten hinweg in all ihren Einzelheiten aufgeführt. Vor allem aber mausern sich die Küchen zu „infernalisch glühenden Kuchenfabriken und Brotmanufakturen, wo geübte Bäckerinnen Tag und Nacht Teig rühren und in Formen füllten“. Eine kulinarische und sinnliche Jubelfeier wird hier allein mit Begriffen zelebriert: „Königskuchen, grün von Zitronat oder schwarz von Rosinen […], Sandkuchen, gelb von Eiern, mürbe von Zucker und Marmelade, Halbmonde, Judenkuchen, Korinthenbrötchen, gerührte Kuchen, Kartoffelfladen, Prinzesskuchen, Schmalzgebackenes, Apfelküchlein und Waffeln zu Tausenden, schwellende Weißbrote und rötliche, in der Glut gebackene Roggenlaibe“.

In späteren Erzählungen, quasi ausnahmslos in der Sammlung Der Angelausflug ins Gebirge, verdichtet sich die Textaussage, sie wird tiefgründiger und hermetischer, aus der prononcierten Bildlichkeit resultiert die Dopplung von sensus litteralis und sensus allegoricus, damit ein hoher Polyvalenzgrad in der Deutung, der von beiden Ebenen ausgeht. Das Taubenfest spielt sowohl auf die Zeitläufte als auch auf eine Reihe von Intertexten an, es wirkt grotesk und existenzialistisch, so etwa dem Setting aus Jean-Paul Sartres Geschlossener Gesellschaft entlehnt, wenn die Kellner „unbehindert durch die Säle“ schweben, „als ob die vielen Gäste nur Gespenster und Nebelwesen seien“. Ein nachgerade kafkaeskes Erlebnis ist Krilon aus Ein Angelausflug ins Gebirge beschieden. Nach dem Whisky-Zechgelage mit seinem vermeintlichen Freund Grasdal, dem Leiter der nicht näher bezeichneten Filiale, in der er Kassierer ist, wacht Krilon morgens auf und sieht ein Riesen-Insekt auf seiner Chaiselongue sitzen. Es ist „eine Mischung zwischen Schmeißfliege, Hummel, Raubkäfer und Motte“ und tritt nicht allein, sondern gleich in Heerscharen auf. Diese optische Illusion wird ihm von den entlaufenen Regenwürmern beschert, denen er wohl bereits im nächtlichen Rausch mit Angelhaken zu Leibe rücken wollte. Neben die Reminiszenz an Kafka treten surreale Akzente, ebenfalls jedoch nimmt diese Geschichte platonische Züge an, denn Krilon und Grasdal konferieren im Stil antiker Dialoge miteinander. Eine solche Dialogizitiät ist ein Ausnahmefall, denn narrative Experimentierfelder betritt Laxness mitnichten. In diesem Punkt bleibt er traditionell auktorial oder setzt einen Ich-Erzähler ein.

Spätestens mit der Sammlung Menschenschritte publiziert der isländische Nationaldichter Geschichten voller Magie und einer solchen Sprachgewalt, dass man sich voller Freude in diese Fiktionen hineinbegibt, sich mit Worten umfangen lässt und die einzelnen Texte sicherlich mit Gewinn ein zweites oder drittes Mal lesen kann. Ob Seelows Übersetzung ins Deutsche dem isländischen Original nahekommt, dürften wohl nur die wenigsten in der Lage sein zu überprüfen. Wenn man sie „einfach so“ liest, scheint sie dem isländischen Original ebenbürtig zu sein.

Laxness bietet Geschichten, die voller Wärme, Verständnis und Humanität sind. Sie ergreifen Partei für diejenigen, die ihren Mitmenschen und Mitgeschöpfen authentisch und auf Augenhöhe begegnen können. Im Gegensatz dazu halten sie Seitenhiebe für diejenigen bereit, die mit Dünkel, Distanz und falsch verstandener Wohlanständigkeit meinen, die Autonomie ihres Gegenübers unterwandern zu dürfen. In ästhetischer Hinsicht ist jeder dieser Texte eine einzigartige Wundertüte der Fabulierkunst. Alle zusammen ergeben ein Füllhorn an Geschichten, die noch vieler Deutungen harren.

Titelbild

Halldór Laxness: Ein Spiegelbild im Wasser. Sämtliche Erzählungen.
Übersetzt aus dem Isländischen und mit einem Nachwort von Hubert Seelow.
Steidl Verlag, Göttingen 2018.
464 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783958295216

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