Science und Fiction

In „Mond. Eine Biografie“ erhellt Ben Moore auch die dunkelsten Seiten des Erdtrabanten

Von Lea ReiffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lea Reiff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum die Köpfe und Augen der Menschen so geschaffen wurden, dass sie nicht nach unten zur Erde hin zeigen – diese Frage beantwortete John Wilkins 1640: Nur so konnten sie zu Astronomen werden. Dass Ben Moore in seinem neuen Sachbuch Mond – Eine Biografie ausgerechnet diese Stelle aus Wilkinsʼ Discourse Concerning a New World and Another Planet zitiert, muss nicht verwundern, denn sie illustriert eine Beobachtung, die auch aus Moores Werk klar hervorgeht: Der Blick in den Himmel ist so alt wie die Menschheit selbst. Kaum ein anderer Himmelskörper übte und übt noch immer einen ähnlich großen Einfluss auf Kunst und Kultur, Träume, Mythen und Wissenschaft aus wie unser nächster kosmischer Nachbar, der Mond.

Es ist also nur konsequent, wenn der Professor für Astrophysik an der Universität Zürich mehr wagt, als lediglich eine Entstehungsgeschichte des Erdtrabanten zu erzählen. Wer erfahren möchte, aus welchem Material der Mond besteht, wo und wann er seinen Ursprung nahm und welche Auswirkungen er auf die Erde und das Leben darauf hat, kommt zwar durchaus auf seine Kosten – eine Biografie des Mondes im engeren Sinne, wie der Titel ankündigt, ist das Buch jedoch nicht. Jedenfalls nicht ausschließlich. Zu ebenso großen Teilen ist es auch eine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, eine Geschichte von Mensch und Mond und ihrem Verhältnis zueinander. Welche Beobachtungen Menschen vergangener Jahrhunderte am Himmel machten und wie sie sich erklärten, was sie sahen, welche Mythen und Erzählungen daraus entstanden – auch diesen Fragen geht Moore anhand schriftlicher Überlieferungen von babylonischen Tafeln in Keilschrift über Skizzen aus da Leonardo da Vincis Tagebüchern bis hin zu den ersten Science-Fiction-Erzählungen nach. Wo die Rekonstruktion der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte aus schriftlichen Quellen nicht möglich ist, bedient sich Moore selbst der Fiktion, indem er erzählt, wie eine prähistorische Eva der Astronomie den Himmel beobachtet und welche Schlüsse sie daraus gezogen haben könnte.

Immer wieder zeigt sich, dass sich Traum, Fiktion und Wissenschaft gegenseitig inspirierten: So bewies der Russe Konstantin Ziolkowski um 1900 zwar, dass Jules Vernes Vorschlag, mithilfe einer Kanone zum Mond zu reisen, technisch nicht umsetzbar ist. Es war jedoch gerade die Auseinandersetzung mit Vernes Romanen, die ihn dazu veranlasste, sich mit Weltraumreisen zu befassen; bereits 1893 veröffentlichte er einen eigenen Science-Fiction-Roman. Ziolkowski schuf mit seinen Forschungen die wissenschaftliche Grundlage der modernen Raumfahrt.

Rotationsachse des Buches bildet die Mondlandung der Apollo 11 am 19. Juli 1969. Moores Buch ist alles andere als eine linear-chronologische Auflistung von Fakten – eine solche hätte die Konzentration des Lesers überbeansprucht und für Langeweile gesorgt. Dies weiß Moore durch retrograde Erzählbewegungen von der Gegenwart in die Vergangenheit, von physikalischen Erklärungen hin zu antiker Mythologie geschickt zu verhindern. Zum Lesevergnügen trägt auch Katharina Blansjaars flüssige Übersetzung aus dem Englischen beträchtlich bei. Abträglich ist allenfalls Moores gegenwartsorientiertes Fortschrittsdenken, das alte Deutungen des Mondes selten in ihrem Eigenwert als Produkte anderer Kulturen und Wissensordnungen bestehen lässt, sondern an einem heutigen Wissenschaftsverständnis misst. So konstatiert Moore beispielsweise, dass Versuche erster Astronomen, den Kosmos zu verstehen, kläglich gescheitert seien. Claudius Ptolemäusʼ Tetrabiblos, das „mehrere hundert Seiten absoluten Humbug“ enthalte, habe, indem es „die Grundlagen für den Aufstieg der pseudowissenschaftlichen Astrologie“ schuf, „die Wissenschaft um über ein Jahrtausend“ zurückgeworfen. Etwas kritische Aufmerksamkeit ist auch bei Literaturangaben angebracht. So wird eine Homer zugeschriebene Hymne an Selene in das 2. Jahrhundert v. Chr. und damit um drei bis fünf Jahrhunderte fehldatiert.

Ben Moores Beruf(ung) als Astrophysiker entsprechend liegen die Stärken seines erzählenden Sachbuchs in der niederschwelligen Vermittlung aktueller Erkenntnisse über den Mond, aufgelockert durch persönliche Bekenntnisse und amüsante Anekdoten zu berühmten Augenblicken der Geschichte: Während Neil Armstrong seinen kleinen, doch so großen Schritt vom Landemodul auf die Mondoberfläche tat, hatte es Buzz Aldrin mit menschlichen Grundbedürfnissen zu tun. Pech, „dass sein Urinbehälter riss, als er auf die Mondoberfläche hüpfte, und sich einer seiner Stiefel mit Urin füllte“.

Abbildungen und Grafiken erleichtern das Verständnis komplexer Sachverhalte. Angesichts der Materialfülle sind kleine Ungenauigkeiten sicherlich zu verzeihen. Was Moores Mondbuch leistet, ist nicht weniger als ein Rundumschlag, der auch die dunkelsten Seiten des Mondes erhellt und Lust aufs Weiterträumen macht. Moore selbst hält zum Ende seiner „Biografie“ ein Plädoyer für die weitere Erforschung unseres kosmischen Nachbarn und die Errichtung einer Mondbasis als Ausgangspunkt für weitere Erkundungen des Weltraums – idealerweise in internationaler Zusammenarbeit und ohne militärische Motivation. Neben einer überzeugenden Kosten-Nutzen-Rechnung stellt der Autor auch einen charmanten Finanzierungsplan vor: Der Weltraumtourismus der Reichen könnte das nötige Budget von mehreren Hundert Milliarden US-Dollar einbringen. Wenn aber weltweit „etwa zwei Billionen Dollar“ für „sinnlose Kriegsressourcen“ ausgegeben werden – könnte man nicht auch da umschichten? Welches Jahr eignete sich besser zu derartigen Überlegungen als das 50-jährige Jubiläum der Landung von Apollo 11 auf unserem Trabanten? Noch ist die Errichtung eines Monddorfs Stoff von Science-Fiction-Literatur. Wie schnell aus Fiktionen Fakten werden, lässt sich jedoch detailliert in Moores Buch nachlesen.

Titelbild

Ben Moore: Mond. Eine Biografie.
Übersetzt aus dem Englischen von Katharina Blansjaar.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2019.
320 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783036957999

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