Gewichtiges, leicht präsentiert

Ece Temelkuran über den Populismus

Von Hannes KraussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannes Krauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Journalistin und Romanautorin Ece Temelkuran gehört zu jenen türkischen Intellektuellen, die hinter der permanenten Medienpräsenz ihres Präsidenten Erdoğan leicht aus dem Blick geraten. Zum Glück gibt es noch Menschen wie sie, und sie werden immer wichtiger – nicht nur für die Türkei (viele mussten mittlerweile das Land verlassen), sondern für ganz Europa. Seit zwei Jahren lebt auch Temelkuran im Exil. Wie schon vor ihrer Emigration ist sie meist in der Welt unterwegs – als Beobachterin und unbestechliche Berichterstatterin. Sie hat über Südamerika geschrieben und über den arabischen Frühling, über die Armenienfrage und über die Kurden in der Türkei. Ihre Bücher und Reportagen handeln von Unterdrückung der ethnischen Minderheiten und der Frauen (in Latein-Amerika, im Mittleren Osten, in Nordafrika, in der Türkei). Ihre publizistischen und literarischen Texte bescherten ihr internationale Anerkennung, zuhause Anfeindung und Diskriminierung. Sie verlor ihren Arbeitsplatz und musste schließlich nach Kroatien übersiedeln. Entmutigen ließ sie sich dadurch nicht. Nachdem sie in der Türkei von einem Rundfunksender und zwei großen Tageszeitungen entlassen wurde, begann sie, Romane zu schreiben. Im Gespräch sagte sie einmal, Journalismus sei für sie eine Form des Ärgers, mit Romanen begegne sie ihrer Furcht und Gedichte entstünden, wenn sie zu verstummen drohe. Verstummt ist sie zum Glück bis heute nicht. Im Gegenteil, mittlerweile hat sie mehr als ein Dutzend Bücher veröffentlicht.

In Deutschland wurde sie durch zwei Romane bekannt: Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann (Atlantik-Verlag, 2014)  beschreibt die abenteuerliche Reise von vier (muslimischen) Frauen durch die Länder des arabischen Frühlings und vermittelt – in einem phantastischen Potpourri aus Politik, Religion, Mythologie, Feminismus, Medienkritik und metafiktionaler Selbstreflektion – Einblicke in Kulturen, die hierzulande meist verschüttet sind unter Ideologien und Vorurteilen. Stumme Schwäne (Hoffmann und Campe, 2017) schildert einen türkischen Militärputsch von 1980 aus der Perspektive zweier Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft und ist kurz nach Erscheinen auf beklemmende Weise wieder aktuell geworden.

Nun überrascht diese Autorin mit einem (im Exil auf Englisch verfassten) Buch über den politischen Populismus. Auf den ersten Blick ein Sachbuch, bei genauerem Hinsehen eine beeindruckende Mischung aus Analyse, persönlicher Erinnerung, Reflexion und Feuilleton. Spannend wie ein Kriminalroman, informativ wie eine wissenschaftliche Studie und nützlich wie Lehrbuch. Am Beispiel der jüngeren türkischen Geschichte wird in sieben Kapiteln der Weg einer scheinbar gefestigten Demokratie in den Despotismus beschrieben und dabei durchaus selbstkritisch auch die Rolle der Intelligenz reflektiert, die durch Zögern und Abwarten diesen Prozess befördert hat. Systematisch zeichnet Ece Temelkuran die Schritte von Erdoğans Machtergreifung nach. Am Anfang stand die ‚Gründung einer Bewegung’, ihr folgten erst die ‚Zersetzung des Vernunftprinzips’ und die ‚Terrorisierung der Sprache’, dann die ‚Abschaffung des Schamgefühls’ und der ‚Triumph unmoralischen Verhaltens’, schließlich die ‚Demontage des Rechtsstaates’, der ‚Entwurf neuer Bürger nach dem Geschmack des Despoten’ und das ‚Gelächter über das Grauen’ – und das Ganze gipfelte in der ‚Neu-Erschaffung des eigenen Landes’. 

Das Buch handelt aber nicht nur von der Türkei, sondern zeigt in Querverweisen und Parallelen, dass das türkische Beispiel exemplarisch ist für ein politisches Modell, das sich in Europa – Ungarn, Polen, Italien, Frankreich, Niederlande, (Ost-)Deutschland, Tschechien – und anderswo – USA, Brasilien, Russland – erschreckend schnell ausbreitet. Temelkuran möchte zum „weltumspannenden Gespräch“ über die Gefahren des Populismus anregen. Mit einem Ratgeber, der keine Ratschläge erteilt und gelegentlich sogar ratlos macht, nie aber mutlos. Seine Qualität liegt nicht nur in der Aktualität, sondern in der Art und Weise, wie analytische Schärfe, Empathie und Phantasie verknüpft werden zu einer Textsorte, die changiert zwischen politischem und poetischem Feuilleton. Die Autorin, zweifellos auch durch die europäische Aufklärung beeinflusst, agitiert nicht. Sie beobachtet, beschreibt und erzählt und hat keine Scheu vor Bildern, die die Grenzen zwischen Politik und Poesie verwischen und deshalb umso treffender sind. Sie verschweigt ihre (Selbst-)Zweifel nicht und gibt nicht vor, Lösungen zu kennen, aber sie stellt unaufhörlich Fragen – an sich selbst und an die Leser. Ihr Ziel, systemübergreifende Muster des Rechtspopulismus sichtbar zu machen, hat sie mit diesem mutigen, ehrlichen und selbstkritischen Buch erreicht. Jetzt liegt es an den Leser*innen, sich nicht mit der Lektüre zu begnügen und ansonsten hinzunehmen, was zur politischen Normalität zu werden droht. Dieses Buch ist ein unüberhörbarer Appell, die öffentliche Debatte über den Populismus noch hartnäckiger zu führen als bisher – und lautstärker.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ece Temelkuran: Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur.
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019.
272 Seiten, 22,00€ EUR.
ISBN-13: 9783455005325

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch