Ein humanoides Wesen im England der 80er Jahre stiftet Verwirrung – und mehr als das

Ian McEwans neuester Coup „Maschinen wie ich“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von T.C. Boyle kennt man Bücher, in deren Zentrum berühmte Personen stehen (John Harvey Kellogg, Frank Lloyd Wright, Timothy Leary etc.). Ian McEwan unternimmt in seinem neuesten Buch zum Teil etwas ähnliches – in Maschinen wie ich geht er ausführlich auf den Mathematiker und Informatiker Alan Turing ein. Allerdings weicht der britische Erfolgsautor deutlich von dessen Lebensdaten ab, wie er in seinem Roman überhaupt einen recht freien Umgang mit der Zeit und den Epochen pflegt.

Turing, der als einer der Begründer der modernen Informations- und Computertechnologie gilt und maßgeblich an der Entschlüsselung der deutschen Funksignale im Zweiten Weltkrieg beteiligt war (siehe auch Robert Harrisʼ Roman Enigma), nahm sich 1954 das Leben, weil er sich aufgrund seiner Homosexualität einer Hormontherapie unterziehen musste, in deren Folge er massive Depressionen bekam. In McEwans Buch, das im Jahr 1982 spielt, lebt Alan Turing noch; dem 70-jährigen ist mit seinem Team die Entwicklung einer lebensechten Menschmaschine gelungen. Das Buch ist somit ein in der Vergangenheit angesiedelter Science-Fiction-Roman, was dem Autor auch auf anderen Feldern einen großen Spielraum eröffnet.

Doch zurück zur Maschine: 25 Exemplare wurden hergestellt, zwölf männliche Adams und 13 weibliche Eves. Einer der Adam-Käufer ist der 32-jährige Charlie Friend, der im Londoner Stadtteil Clapham eine kleine Wohnung hat, diverse Studien und mehr schlechte als rechte berufliche Stationen vorweisen kann und nun seinen Lebensunterhalt durch den Kauf und Verkauf von Wertpapieren am heimischen Laptop bestreitet. Charlie ist technikbegeistert und Turing-Fan, außerdem in die zehn Jahre jüngere, einen Stock über ihm wohnende und sehr attraktive Studentin Miranda verliebt. Weil Charlie eine Erbschaft gemacht hat, kann er sich den Luxus leisten, einen der Adams zu erwerben. Am Tag der Lieferung, Adam ist noch nicht vollständig konfiguriert und muss erst einmal komplett aufgeladen werden (sein Kabel steckt im Bauchnabel), entscheidet Charlie, diesen beinahe einem Zeugungs-, wenigstens aber einem Gestaltungsakt gleichkommenden Vorgang mit Miranda gemeinsam zu verantworten – letztlich will er sie damit enger an sich binden, ihr sein Vertrauen und seine Ernsthaftigkeit demonstrieren. Und dann erwacht Adam zum Leben und wird Teil des Paares.

Ian McEwan hat sich viele Lebensbereiche vorgenommen, in die er Adam einbezieht: von der einfachen Haus- und Gartenarbeit über soziale Interaktionen außerhalb der Wohnung bis hin zu emotionalen und sexuellen Verwicklungen. Weder Charlie noch Miranda konnten sich vorstellen, dass der Besitz eines Replikanten oder eines Monsters (nach Mary Shelleys Frankenstein) sich schnell zu einem Zusammenleben mit einer menschenähnlichen Gestalt verändern und dass dieses Leben zu dritt ungeahnte Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Da Adam – siehe Alan Turing und dessen Theorie der Künstlichen Intelligenz und den nach ihm benannten Turing-Test – immer online und mit allen Datenbanken verbunden ist, lernt er schnell, hat einen unglaublichen Wortschatz und drückt seine Liebe zu Miranda mit über 2.000 Haiku aus. Außerdem informiert er Charlie – erst nur angedeutet und nebenbei – über eine offenbar dunkle Geschichte aus Mirandas früherem Leben, was dazu führt, dass Charlie zwar skeptisch wird, aber via Adam dann doch mehr darüber erfahren möchte.

Hier zeigt sich eine weitere Qualität des McEwanschen Schreibens: das Eröffnen eines zweiten Schauplatzes (es gibt derer noch weitere im Roman). Miranda hatte eine beste Freundin, Mariam, die vergewaltigt wurde. Diese wurde dermaßen streng und gläubig erzogen, dass sie ihrer Familie davon nicht berichten konnte. Sie wusste keinen Ausweg und brachte sich um. Daraufhin dachte sich Miranda einen hinterhältigen Plan aus, um den Peiniger zu bestrafen. Zwar ging der Plan auf, der Kerl kam ins Gefängnis, doch Miranda musste dafür das Gericht belügen. Adam weiß davon und legt Miranda, die er liebt, nun nahe, ihre Schuld von damals zuzugeben und ihrerseits ins Gefängnis zu gehen. Diese Entwicklung tritt just zu dem Zeitpunkt ein, zu dem Charlie und Miranda sich entschlossen haben, einen Jungen aus schwierigen Verhältnissen zu adoptieren (die Vorgeschichte dazu ist ebenfalls eine sehr gelungene Binnenerzählung). Wie schon in Kindeswohl (2015) wirft Ian McEwan auch in Maschinen wie ich auf gekonnte erzählerische Weise moralische Fragen auf. Adam kann sich nur an die Gesetze halten – und er kennt sie alle, samt aller Urteile und Kommentare –, außerdem folgt er einem Kantschen Prinzip, dass man noch nicht einmal dann lügen dürfe, wenn Menschenleben in Gefahr wären. Wie sollen sich Charlie und Miranda nun verhalten? Sollte sie Adams Aufforderung folgen, könnten sie ihre Adoptionspläne wohl vergessen. Dürfen sie ihr persönliches Wohl und Glück (und das des kleinen Mark, der es sicher gut bei ihnen hätte) über das Recht stellen?

Maschinen wie ich ist – dabei Martin Suters Elefant nicht unähnlich – ein Roman, der drängende Fragen unserer Zeit, wissenschaftliche Entwicklungen und deren Einfluss auf den Menschen und die daraus sich möglicherweise ergebenden Dilemmata bestechend beschreibt. Darüberhinaus gelingen McEwan großartige Szenen, zum Beispiel ein Gespräch zwischen Charlie und Alan Turing oder ein Schlagabtausch über Shakespeare zwischen Adam (!) und Mirandas krankem Vater, einem Schriftsteller. Und auch der Kniff, die Handlung ins Jahr 1982 zu verlegen, gibt ihm die Möglichkeit, alternative Geschehnisse wie beispielsweise die Wiedervereinigung der Beatles (allerdings mit einem missratenen Album) oder einen anderen Ausgang des Falklandkrieges und die daraus resultierenden Entwicklungen in Großbritannien, die den schnellen Brexit zur Folge haben, zu erzählen. Hier zeigt sich ein Freigeist, der gleichsam politische und gesellschaftliche Phänomene stets im Blick hat. Der Roman als Ganzes hat bedauerlicherweise nicht immer diese Qualität: McEwan wollte vielleicht zu viel im Buch unterbringen, zu viele Themen bündeln und hat darüber die Lesbarkeit, die Straffheit und Spannung des Buches ein wenig aus dem Blick verloren. Nichtsdestotrotz ist Maschinen wie ich, dessen auktorialer Erzähler Charlie ein bisschen blass wirken lässt, einer der wichtigen Romane des Jahres und völlig zu Recht auf Platz 1 der SWR-Bestenliste für Juli und August 2019.

Titelbild

Ian McEwan: Maschinen wie ich. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
407 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070682

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