Im Dazwischen

Marlene Streeruwitz verwebt in ihrem Roman „Flammenwand“ Liebes- und Weltschicksal miteinander

Von Nicole KarczmarzykRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicole Karczmarzyk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es soll ein ganz normaler Tag in Adeles neuem Leben werden – mit Frühstück und einem Lächeln des Geliebten über der Kaffeetasse. Aber von einem kurzen Gang in den Supermarkt kommt sie nicht zurück in das Leben, was sie sich mit ihrem neuen Partner vorgestellt hatte.

Marlene Streeruwitz’ Protagonistin in ihrem neuen Roman Flammenwand befindet sich in ihren 50ern und ist Sprachlehrerin in Wien. Um mit Gustav, der aus Berlin stammt, zusammenziehen zu können, hat sie sich ein Karenzjahr genommen. Die beiden beziehen eine gemeinsame Wohnung in Stockholm, wo er gerade beruflich zu tun hat. Aber als Adele an diesem Morgen aus dem Supermarkt zurückkommt, sieht sie ihren Geliebten die Wohnung verlassen. Statt auf den Kaffee zu Hause zu warten, hat er sich bereits auswärts umgeschaut. Er sitzt in einem Café über sein Handy gebeugt und schreibt eine Nachricht, doch Adeles Handy summt nicht.

Die Zweifel, die nun in ihr aufsteigen, lassen die Protagonistin ziellos durch Stockholm irren und in absurde Situationen stolpern. Auf dem Weg erhält sie durch einen Anruf Gewissheit darüber, dass sie die ganze Zeit über Ziel von Gustavs manipulativem Machtspiel gewesen ist. Seine vermeintliche Impotenz stellt sich als Teil einer männlichen Dominanzphantasie heraus. Ihre Scheu, das Thema anzusprechen, war Teil des Machtgefälles in der Beziehung, denn „sie fürchtete das totale Ende durch das Aussprechen der Tatsachen.“

Während ihres quälend langen Umherziehens durch die schwedische Hauptstadt reflektiert die Betrogene die Beziehung zu Gustav und findet eine Erklärung für ihr eigenes Verhalten sowie in ihrer als auch in seiner Kindheit. Ein dominanter Vater, die Identitätslosigkeit eines Mädchens, das immer nur das Andere vom Mann gewesen ist: „Sie hatte einen Teil in sich, der vorausstürmte und sich in der Welt festlegte, und der andere Teil kam nachgegangen und staunte darüber, was nun wieder alles geschehen war.“ Doch das ist nicht der einzige Grund, den sie findet. Es wäre kein Roman von Marlene Streeruwitz, wenn es hier nur um eine – wenn auch bösartige – triviale Beziehungsproblematik ginge. Die österreichische Autorin holt in Flammenwand zu einem Rundumschlag gegen Kultur und Weltgeschehen aus. Nach und nach entlarven die Überlegungen Adeles immer mehr die subtile Machtdominanz der Idee von Männlichkeit, die sich wie ein schleichendes Gift in allen Alltagsprozessen niedergeschlagen hat. Literatur, die amerikanisch-mexikanische Grenze, der Migrationsdiskurs, österreichisch-deutsche Erinnerungskultur – nichts bleibt von diesem sezierenden Blick verschont.

Flammenwand zeigt auf, wie das politische Umfeld den Alltag beeinflusst, wie eine Frau sich aus dem alten Rollenbild befreien möchte, aber auf ihrer Flucht wieder darin eingepasst wird. Denn Adele versucht eine moderne, unabhängige Frau zu sein. Nur kann auch sie sich nicht von dem weiblich-konnotierten Sehnen nach Erfüllung und Liebe befreien. Zwar macht sie sich selbst über ihren eigenen Wunsch nach dem „Prinzessin-sein“ lustig, aber gerade dieser ist es, der sie zum manipulativen Gustav führt und dort hält. Das unterschwellige Ausgeliefertsein, die Hilflosigkeit, die durch die Rolle als Frau implementiert ist, werden immer wieder verdeutlicht – sei es durch das Nicht-wahrgenommen-werden als Frau in den 50ern oder das immer wiederkehrende Zurückgeworfensein auf das Körperliche.

Adele, die ihr Mitgefühl mit Migranten mehrfach zum Ausdruck bringt, nimmt selbst die Rolle des Flüchtlings ein. Sie flieht aus einem zunehmend rechtsregierten Österreich. In Deutschland verspricht sie sich Liebe, bekommt als Asylsuchende aber nur das Nötigste, was sie zum Leben braucht – nämlich körperliche Befriedigung und gespielte Gefühle von dem stets rationalen Steuerfahnder Gustav. Ihr Weg durch Stockholm macht die Österreicherin schließlich zu einer Heimatlosen, die in die Ärmlichkeit absteigt. Als sie einem kindlichen Gedanken folgt und sich Rock und Tuch einer Roma-Frau anzieht, ignoriert sie die harten Regeln des Migrationsdiskurses. In dieser Welt männlicher Regeln wird jeder als Fremder behandelt, der fremd aussieht. Und wer mit dem Opfer sympathisiert, wird selbst zum Opfer. So wird Adele ihrer Identität vollständig beraubt, weil sie vor einem mehr und mehr unmenschlichen System flieht. Und das, um am Ende in ihrer neuen Heimat doch wieder einer Form von männlicher Überlegenheit zu unterliegen.

Mit dem Titel verweist Streeruwitz auf Dantes Göttliche Komödie. In dieser muss der Held ebenfalls eine Flammenwand durchschreiten, um ins Paradies zu gelangen. Dieses Feuer verspricht die Reinigung der Wollüstigen von ihren Sünden, es kann aber auch das Tor zur Verdammnis sein. Damit ist es wie Adeles Weg durch Stockholm ein Dazwischen-sein, ein Ort der Entscheidung. Doch während Dante mit Vergil einen Führer an der Seite hatte, der ihn weise durch die heißen Flammen führt, bleibt Adele allein und orientierungslos bei -15 Grad in Stockholm. Und wo Dantes Weg klar vorgezeichnet ist und ihn zu seiner Geliebten führt, da bleibt Adeles Weg offen. Denn als Frau kann die Protagonistin nur vom Paradies weggeführt werden, zurück in die harte Realität.

Streeruwitz’ Roman ist sicher keine leichte Kost. Die abgehackten, scheinbar immer wieder steckenbleibenden Sätze des Bewusstseinsstroms machen es dem Leser nicht gerade einfach. Im Gegenteil, das Lesen ist genauso quälend wie Adeles zielloser Weg durch Stockholm. Streeruwitz entwirft ein Panorama diskursiver Verflechtungen, die zusammen ein ewiges Höllenfeuer ergeben: Die einzelnen Passagen sind datiert und spiegeln den Schreibprozess der Autorin von März bis Oktober 2018. Ortsangaben verraten, wo die Autorin sich zu diesem Zeitpunkt befunden hat, außerdem zeigen minutiös gesammelte Fußnoten zu jedem Datum politische Ereignisse vorwiegend in Österreich auf. Der Roman liefert damit seine Interpretationshilfe bereits mit, indem er eine Einbettung in den zeithistorischen Kontext anbietet und damit gleichzeitig auf die enge Verflechtung von Literatur und Gegenwart, von Autor und Umfeld hinweist. Im Mikrokosmos die tragische Liebesgeschichte, im Makrokosmos die immer beängstigender werdenden politischen Entwicklungen in der Realität. Erst die Fußnoten, die durch die nüchterne, beinahe sarkastische Anordnung verstörende ‚Highlights‘ der Regierungspolitik von FPÖ und ÖVP aufzeigen, lassen das gesamte Fegefeuer auch in der Realität erahnen:

Die ÖVP-FPÖ-Regierung meint, dass es keinen Grund mehr gebe, gegen den Zwölfstundentag zu demonstrieren. Die Freiwilligkeit der elften und zwölften Arbeitsstunde soll im Gesetzestext und in den Erläuterungen festgeschrieben sein.

Oder nach Entscheidungen zum „Kopftuchgesetz“ und Kürzungen im Schul- und Migrationswesen: „Der ÖVP-Bundeskanzler stellt Selfies mit Arnold Schwarzenegger ins Netz.“ So zeigt der Text, wie sich der Machtdiskurs der im Großen stattfindet, sich im Kleinen, nämlich in Adeles Erzählung, niederschlägt oder umgekehrt.

Flammenwand ist kein schönes Buch, denn es lässt seine Leser selbst in einem Dazwischen zurück. Aber es ist ein nötiges Buch, denn Streeruwitz bietet hier eine Lupe an, unter der die subtilen Machtverhältnisse der Gegenwart ausgeleuchtet werden. Dieses Buch fordert(e) Autorin und Leser gleichermaßen Mut ab – ein Mut, der aber, wie bei Adele, mit Erkenntnis belohnt wird.

Titelbild

Marlene Streeruwitz: Flammenwand. Roman mit Anmerkungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
414 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973853

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