Verbrannte Erde

Helene Bukowskis Roman „Milchzähne“ entwirft ein erschreckend realistisch erscheinendes Szenario vom Verrat an den Grundwerten der Menschlichkeit inmitten der Klimakrise

Von Christine EickenboomRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Eickenboom

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es beginnt im Hier und Jetzt, in einer Art Schwebezustand, in dem das Leben noch erträglich erscheint, die Vorboten der Katastrophe aber unverkennbar sind. Die Ich-Erzählerin, Skalde, stellt sich als Protokollantin der Ereignisse vor, die sie und ihre Begleiter in dieses Jetzt gebracht haben. Ihre ersten Berichte stammen aus ihrer Kindheit und orientieren sich an Notizen, die sie gerettet hat, als es keinen anderen Ausweg als die Flucht mehr gab. Diese Notizen bestimmen den Aufbau von Helene Bukowskis Roman Milchzähne: An jede Einzelne sind Erinnerungen gekoppelt, die kapitelartig in unterschiedlicher Länge wiedergegeben werden.

In diesen Erinnerungen kreist das Leben der Menschen um die Befriedigung von Grundbedürfnissen und die Aushandlung von Machtverhältnissen. Zum Schutz hat man vor Jahren die Brücke als einzige Zugangsmöglichkeit in diese Gegend gesprengt und hofft seitdem, so den Folgen der Veränderungen trotzen zu können. Bis zu diesem radikalen Schritt hatten Tiere auf ihrer Flucht vor unbekanntem Grauen die Gegend erreicht, gelegentlich kamen Menschen, Fremde, die als Bedrohung wahrgenommen wurden und die abgewehrt werden mussten. Aus vereinzelten Andeutungen geht hervor, wovor diese Lebewesen fliehen: vor todbringender Dürre, verbrannter Erde. Einzig in der Gegend, in der Skalde lebt, scheint es noch erträglich zu sein. So hat sich eine eingeschworene Gemeinschaft gebildet, die eigenen Gesetzen folgt und Verstöße drastisch ahndet.

Lediglich Edith ist anders. Sie verbringt Tage auf ihrem Sofa, umgeben von Stapeln von Büchern, die den gesamten Boden des Wohnzimmers bedecken, in der Badewanne oder in ihrem mit Meeresbildern ausgekleideten Schrank. Trotz aller Bemühungen der Gemeinschaft um Abschottung ist sie eines Tages aus dem Nichts aufgetaucht und wurde von einem der Ansässigen aufgenommen. Die Geburt des gemeinsamen Kindes, Skalde, hat Ediths Mann Nuuel nicht mehr erlebt. Ob sein Tod Folge eines Unfalls oder Strafe für den Regelverstoß war, ist nicht bekannt. Der entscheidende Unterschied zwischen Edith und den Menschen hier liegt aber darin, dass sie ihre Milchzähne nie verloren hat, im Volksglauben ein Zeichen dafür, dass es sich bei ihr um einen „Wechselbalg“ handelt, eine mit übersinnlichen Kräften ausgestattete Person, die Unheil über ihre Gegner bringen kann.

Gegner sind Edith und die übrigen Bewohner der Gegend zweifellos, und zwischen ihnen steht Skalde verloren und heimatlos:  Als Kind von Edith ist sie von Geburt an genauso wenig willkommen, gehört aber auch nicht zu Ediths Welt, da ihr eines Tages die Zähne ausfallen. Dass Skalde dennoch nicht als eine von ihnen anerkannt wird und unter den Auswirkungen der Ausgrenzung heranwachsen muss belastet das Verhältnis zu ihrer Mutter schwer. Bis kurz vor dem Höhepunkt des Romans scheint die Tochter ebenfalls den abergläubischen Vorbehalten gegen Edith anzuhängen. Gleichzeitig gibt sie sich die Schuld an den klimatischen Veränderungen und deutet das Ausfallen ihres ersten Milchzahns als Auslöser dafür, dass die Welt, wie sie sie kennt, aus den Fugen gerät: Auf eine Zeit des Nebels folgen unbarmherzige und stetig zunehmende Trockenheit und Hitze. Als schließlich das Kind Meisis aus dem Nichts auftaucht und schicksalhafte Ereignisse mit seiner Anwesenheit in Verbindung gebracht werden, wird das Warten auf dessen Zahnwechsel zur Zerreißprobe für die Gemeinschaft.

Alles ist Vorausdeutung und Anspielung: der Kaninchenmantel, von dem Edith glaubt, er könne Schüsse abhalten, die verkohlt vom Himmel fallenden Möwen, vor allem aber die Kommentare der Erzählerin selbst. Diese im Verlauf des Romans dann doch überstrapazierten Verweise sind es, die trotz der erschreckend realistischen Schilderung gesellschaftlichen Versagens vor dem Hintergrund existenzieller Bedrohung und des mit Spannung erwarteten Ausgangs der Geschichte das Lesen zuletzt etwas mühsam gestalten, zumal die Einleitung des Finales im Vergleich zum Vorangegangenen konstruiert wirkt: Eine Figur, die bis dahin geradezu meisterhaft im Verstecken ist, wird nachts ausgerechnet von den zwei Dorfalkoholikern angefahren und so entdeckt.

Dennoch ist Milchzähne ein eindrückliches und unaufdringliches Plädoyer zu vieldiskutierten Reaktionen unserer Zeit:  Die allgegenwärtige Furcht ist spürbar, die Furcht vor der Umwelt, vor allem aber vor den Mitmenschen. Helene Bukowskis Debüt handelt davon, wie eine Gesellschaft versucht, sich durch Abschottung zu schützen und dabei die Grundwerte menschlichen Zusammenlebens verrät. Die apokalyptischen Folgen der Klimakrise werden beschworen, ohne allerdings Ursachenforschung zu betreiben und Schuldzuweisungen zu bemühen, wodurch eine unabgelenkte Sicht auf diesen Verrat möglich wird. Am Ende blickt man auf die ersten Sätze zurück und weiß: Es gibt kein Entkommen.

Titelbild

Helene Bukowski: Milchzähne. Roman.
Blumenbar Verlag, Berlin 2019.
222 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783351050689

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