Die Nachkommen der Schweigekinder
Im siebenten Band seines Lebens- und Schreibprojektes „Ortsumgehung“ muss Andreas Maier entscheidende Korrekturen an seiner Familiengeschichte vornehmen
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Wir sind die Kinder der Schweigekinder“ heißt es gegen Ende von Andreas Maiers Roman Die Familie, dem siebenten Band seines mit Das Zimmer 2010 gestarteten und insgesamt auf elf Bände angelegten Lebens- und Schreibprojekts, dem er den vieldeutigen Namen „Ortsumgehung“ gegeben hat. Es ist eine dem Leser Maiers gut bekannte Figur, nämlich die „Bindernagelsche Buchhändlertochter“ – inzwischen als Geschäftsführerin des traditionsreichen Friedberger Hauses tätig –, die diesen Satz dem Erzähler gegenüber ausspricht, nachdem sie in einem Wetterauer Adressbuch aus dem Jahr 1915 als ehemaligen Besitzer des Anwesens am Friedberger Mühlweg, das Maier immer für den von Generation zu Generation weitergegebenen Stammsitz seiner Familie mütterlicherseits gehalten hat, einen Glacélederfabrikanten namens Theodor Seligmann ermittelt hat.
Die Konsequenzen der ihn so unvorbereitet wie schockartig treffenden Erkenntnis, dass seine Familie viel tiefer in das verbrecherische nationalsozialistische System verstrickt war, als er bisher angenommen hatte, sind enorm und schließen auch das Verhältnis des sich Band für Band der „Ortsumgehung“ an seiner Familie und seinem Leben abarbeitenden Erzähl-Ichs zur eigenen Herkunft und seinem inzwischen auf mehr als 1.000 Seiten angewachsenen Projekt der „Ortsumgehung“ mit ein: „Mein Gott, weißt du, was das für das bedeutet, woran ich die ganze Zeit schreibe? Es bedeutet, dass es mich gar nicht gibt. Dieser Andreas existiert überhaupt nicht!“, lautet deshalb seine Antwort auf die ungeheuerliche Enthüllung, dass „das Gelände, auf dem ich aufgewachsen bin“, bis 1937 in jüdischem Besitz war und erst im Zuge der Arisierungspolitik der Nazis an die mütterliche Familie geriet.
Nach Die Universität (2018), einem mehr anekdotenhaft angelegten Roman über Maiers Frankfurter Studienzeit, kommt Die Familie kompositorisch wieder geschlossener daher. Zwischen einen Prolog („im alten Hallenbad“) und einen Epilog („in Tenniskleidung“) hat der Autor einen in vier Unterkapitel aufgeteilten größeren Erzählabschnitt, eine Art Zerfallsgeschichte seiner Friedberger Familie, und eben jene Episode gepackt, die ihn in seinem Verständnis auf einen Schlag zum Nachkriegsliteraten gemacht hat, der – ohne es bisher bemerkt zu haben – „Entschuldungsliteratur“ produziert. Dieser alles bisher Geschriebene infrage stellende Textteil ist überschrieben mit einem Satz, der im Lichte der neuen Erkenntnisse eine schreckliche zweite Bedeutung bekommt: „Meine Familie ist eine Familie, die immer Grabsteine gemacht hat.“ Am Ende des Abschnitts und nach einer Wiederholung dieser Eingangsphrase wird dann ergänzt: „Auch ihren eigenen.“
Die Familie bewegt sich zunächst auf bekanntem personellen Terrain. Von der Mutter ist die Rede und deren beiden Brüdern, dem geistig behinderten Onkel J. und dem jüngsten der drei Boll-Kinder, Onkel Heinz, von dem man bisher am wenigsten wusste. Der Vater kommt ins Bild samt seinen großbürgerlichen Frankfurter Eltern, dem von den Kindern weniger geliebten Oberfinanzpräsidenten und seiner überkorrekten, autoritätshörigen Gattin, vor der sich die Enkel am Sonntagmittagstisch immer vorkommen wie vor einem strengen Prüfungsausschuss, der über ihre Eignung für das weitere Leben befindet. Und auch die beiden früh das Elternhaus verlassenden Geschwister – der fünf Jahre ältere Bruder, der sich vom Vorzeigekind zum Revoluzzer und Wehrdienstverweigerer entwickelt, und die Schwester, die es nicht schafft, Ordnung in ihr chaotisches Leben, das sich zwischen Deutschland und den USA abspielt, zu bekommen und mit stetig wachsender Kinderschar den Eltern zunehmend auf der Tasche liegt – spielen erneut eine Rolle.
Allein Familie, das merkt der Leser ziemlich schnell, wird diesmal nicht nur über die Beziehungen des Erzählers zu Eltern, Geschwistern, Großeltern und den beiden Onkeln – das Nachdenken über den geistig behinderten Onkel J. stellte einst eine Art Initialzündung für das Schreiben über die eigene Herkunft dar, das im selben Jahr wie der erste Band der Ortsumgehung erschienene Bändchen Onkel J. (2011) darf deshalb durchaus als Prolog zu dem Gesamtprojekt verstanden werden – definiert, sondern vor allem über den mütterlicherseits in die Sippe eingebrachten Besitz, jenes „Grundstück am Usa-Ufer“, das „so riesig [war], daß auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Mühlweg mindestens zehn Häuser Platz hatten.“
Vor allem das Aufteilen dieses urgroßväterlichen Erbes in vier Parzellen, je eine für die Mutter des Erzählers und die beiden Onkel J. und Heinz sowie das vierte Stück, das das eigentliche Firmengelände des Bollschen Steinmetzbetriebes umfasste, zu gleichen Teilen an die drei Geschwister, sorgt immer wieder für Ärger. Dem Vater verursachen die Streitereien vor allem mit dem jüngsten Bruder der Mutter Migräneanfälle – als hintertriebenem Juristen sind ihm die immer wieder an den Einwänden von Onkel Heinz und dessen Ehefrau scheiternden Verhandlungen über den Verkauf der gemeinsamen vierten Grundstücksparzelle anvertraut worden.
Die Mutter andererseits umgeht alle Nachfragen nach den Verwicklungen der Familie in das nationalsozialistische System mit der lapidaren Auskunft: „Aber wir haben den Juden doch sogar Brand gegeben.“ Womit das Brennholz gemeint ist, mit dem der Großvater in schlimmen Zeiten seine Mitmenschlichkeit bewiesen haben soll. Oder hat ihn nur das schlechte Gewissen gequält, muss man sich nach der Lektüre des vorliegenden Bändchens unwillkürlich fragen. Darüber, ob Familienmitglieder der Nazipartei angehörten oder ob die Firma in jenen Jahren an dem staatlichen Unrecht partizipierte, wird jedenfalls in der Familie eisern geschwiegen.
Den endgültigen Zerfall der Sippe leitet schließlich eine Episode ein, die ein langes gerichtliches Nachspiel hat und für Aufsehen in ganz Hessen sorgt. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion lassen die Eltern eine auf dem Grundstück stehende, denkmalgeschützte Mühle durch einen Bagger einreißen. Schließlich braucht man Bauland und will sein Kapital nicht in die Erhaltung eines Gebäudes investieren, das aufgrund seines maroden Zustandes unverkäuflich scheint. Also simuliert man einen Einsturz und hat nach Jahrzehnten tatsächlich Glück: das Oberlandesgericht in Gießen entscheidet, dass das Mühlengebäude zur Zeit seines Abrisses gar nicht unter Denkmalsschutz gestanden hat. Damit ist man – wenigstens vor den Augen der Öffentlichkeit – rehabilitiert und das Gelände kann mit Gewinn für alle Familienmitglieder verkauft werden.
Mit dem siebenten Band seiner Familien- und Lebensgeschichte ist Andreas Maier an einem entscheidenden Wendepunkt angekommen. Der scheinbar „unter einem Destruktionsgebot stehenden Familie“ wird die Idylle ausgetrieben. Wo es um den Besitz geht, sind Sentimentalitäten fehl am Platz. Und jedes – auch das verbotenste – Mittel scheint legitim, wenn man dem, was man hat, immer noch ein weiteres Stückchen hinzufügen kann. Geradezu ein Schock ist es für den Erzähler zu erfahren, woher all das stammt, was die Familie zeit seines bisherigen Lebens unhinterfragt ihr Eigentum genannt hat. Und es legitimiert im Nachhinein den Prozess der Entfremdung zwischen Kindern und Eltern, der bereits mit dem frühen Aufbegehren des älteren Bruders begann, mit dessen Hang zum Diskutieren, mit dem er, der der Familie als Erster den Rücken kehrte, „jedwedes erhoffte Sonntagsidyll“ erfolgreich hintertrieb.
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