In 70 Jahren um die Welt

Eine Auswahl kleinerer Schriften zeigt die Universalität Alexander von Humboldts

Von Detlev MaresRSS-Newsfeed neuer Artikel von Detlev Mares

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

70 Publikationen, jede aus einem anderen Jahr und an einem anderen Ort erschienen – nur bei wenigen Autoren lässt sich eine solche Auswahl an Texten zusammenstellen. Sein langes Leben und seine ungeheure Schaffenskraft ermöglichen dies aber im Fall Alexander von Humboldts (1769–1859). Unter dem Titel Der Andere Kosmos versammeln Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich kleinere Schriften des großen Naturforschers aus der Zeit von 1789 bis 1859. Der pünktlich zum 250. Geburts- und 160. Todesjahr Humboldts vorgelegte Band ist ein Extrakt aus der Edition sämtlicher publizistischer Schriften, die fast zeitgleich vom selben Herausgeberteam vorgelegt wurde.

Das Auswahlprinzip des Bandes ist gleich in mehrfacher Hinsicht originell. Zum einen geraten weniger bekannte Schriften Humboldts in den Blick, die teilweise nach ihrem ersten Erscheinen bislang nicht mehr nachgedruckt worden sind. Zum anderen demonstrieren allein schon die Publikationsorte Humboldts globale Reichweite, die durch ausgedehnte Reisen und ein umfangreiches Netzwerk an Korrespondenten gestützt war. Erschienen Humboldts Beiträge zunächst in deutschen und europäischen Publikationsorganen, so weitete sich sein geografischer Wirkungsradius mit seiner Südamerikareise in alle Zentren der Wissenschaft und auf alle bewohnten Kontinente aus. Wissenschaftliche Gesellschaften in Paris, London, Wien, Prag oder Warschau veröffentlichten seine Schriften mit ebenso großem Eifer wie interessierte Kreise in Natchez (Mississippi), Merthyr Tydfil, Auckland oder Pietermaritzburg. Schon während seiner Reisen durch Venezuela und die Anden betrieb Humboldt eine gezielte Informationspolitik, meist in Form von Briefen an europäische Korrespondenzpartner, denen er über seine Beobachtungen und Erkenntnisse berichtete. Dabei waren die Kommunikationsvoraussetzungen alles andere als einfach – wie mehrere Beiträge im Anderen Kosmos zeigen, war sich Humboldt oft unsicher, ob seine Korrespondenzen die Adressaten erreicht hatten, so dass er sich zu gelegentlichen Wiederholungen von bereits Gesagtem gezwungen sah. Nach seiner Rückkehr nach Europa führte die Nachfrage nach Schriften aus seiner Feder dazu, dass er noch Jahrzehnte nach seiner Reisetätigkeit, als er längst am eigentlichen Kosmos arbeitete, kurze Darstellungen zu Einzelaspekten seiner südamerikanischen Erfahrungen veröffentlichte.

Die Zusammenstellung der Texte ist ein Zeugnis der Universalität Humboldts, insbesondere seiner Fähigkeit, natürliche und gesellschaftliche Phänomene im Zusammenhang zu sehen, Theorie und Praxis zu vereinen. Schon vor seiner Reise nach Südamerika entwickelte er als Experte für Bergbau Geräte, die den Bergleuten das Atmen erleichtern sollten und bei deren Vorstellung er bedauerte, dass „die bürgerlichen Verhältnisse […] durch eine so weite Kluft den Theoretiker vom Techniker trennten“. Bei der (eher ungnädigen) technischen Beurteilung einer „neuen Spin- Zwirn- Haspel- Kratz- und Krempelmaschine“ vergisst er nicht den Hinweis auf die sozialen Folgen, die die breitflächige Nutzung eines solchen Geräts mit sich bringen dürfte.

Viele der Beiträge verbinden naturwissenschaftliche Beobachtungen mit allgemeinen Schlussfolgerungen. So manche Episode, die aus seinen monografischen Reisebeschreibungen und Länderkunden bekannt ist, findet sich hier in alternativen, meist kürzeren Publikationen, die sein Denken auch dort bekannt machte, wo seine umfangreicheren Werke schwer erhältlich waren. Dazu zählen der Kampf elektrischer Aale mit Pferden wie der Besuch bei Völkern, die sich von Erde ernähren; die Besteigung des Chimborazo wie das Staunen über die Wasserfälle des Orinoco; ein Erdbeben in Cumaná wie die Reise in den Ural. Von besonderem Interesse sind die selbstbewusste Lebensskizze, mit der Humboldt beim spanischen König die Erlaubnis zum Bereisen von dessen südamerikanischen Besitzungen erwirkte, sowie der erste zusammenfassende Bericht über die Reise, der 1804 in Washington erschien.

Nicht für jede Publikation verfasste Humboldt einen neuen Text, sondern gelegentlich verwendete er Auskopplungen aus seinen längeren Werken. Bereits zu seiner Zeit lagen daher viele Passagen aus seiner Feder in unterschiedlichen Sprachen vor. Sinnvollerweise greifen die Herausgeber bei den vorgelegten Auszügen fremdsprachiger Veröffentlichungen wo immer möglich auf existierende deutschsprachige Fassungen aus Humboldts Zeit zurück; dadurch sind die im Band zu lesenden deutschen Texte allerdings häufig erst nach den Originalpublikationen entstanden, die aufgeführt werden, um 70 unterschiedliche Jahre und Orte zu dokumentieren. Weniger plausibel als diese kleinen Anpassungen ist der Verzicht auf jegliche Kommentierung der Texte. Zwar enthält der Band eine lesenswerte Einleitung, doch die einzelnen Beiträge sind nur mit spärlichen Hinweisen zum Erscheinungsort versehen. Gerade die attraktive Idee, die „Weltreise von Humboldts Schriften“ zu dokumentieren, lässt beim Lesen immer wieder den Wunsch nach umfangreicheren Einordnungen aufkommen. Wer naturwissenschaftlich nicht auf so vielen Feldern bewandert ist wie Humboldt, dürfte sich gelegentlich auch fragen, wie tragfähig Humboldts Schlussfolgerungen und Thesen der aktuellen Forschung noch erscheinen. Humboldt selbst weist zudem in einer seiner auf Reisen entstandenen Schriften darauf hin, dass die unterschiedlichen Messsysteme, die er verwendet, verwirrend sein konnten; für die endgültige Publikation stellte er eine Vereinheitlichung in Aussicht. Im Anderen Kosmos bleiben die Texte selbstverständlich im originalen Zustand – Hinweise zur Umrechnung heute nicht mehr gängiger Maßeinheiten, wie Toisen in Meter, wären handlich gewesen.

Dies alles ändert aber nichts daran, dass diese Sammlung einen faszinierenden und geglückten Einstieg in die Breite und Vielfalt von Humboldts Denken bietet und auch politische Aspekte nicht vernachlässigt. So tritt der lebenslange Gegner der Sklaverei hervor, dem es wichtig ist, 1856 gegenüber einer internationalen Leserschaft vor einem unautorisierten Nachdruck seines Kuba-Werks von 1826 zu warnen, weil die Passagen zur Kritik an der Sklaverei „eigenmächtig weggelassen“ worden seien – und damit genau der „Theil meiner Schrift“, auf den er „eine weit größere Wichtigkeit“ lege „als auf die mühevollen Arbeiten astronomischer Ortsbestimmungen, magnetischer Intensitäts-Versuche oder statistischer Angaben“. Bedauerlicherweise sind aber die Auszüge mit politischem Gehalt in der Regel sehr kurz gehalten (wie beispielsweise ein Text von 1842 zur Emanzipation der Juden), so dass die Argumentationen, die Humboldts politische Haltungen begründeten, nur rudimentär deutlich werden. Doch auf diese Weise gelingt es den Herausgebern, das Interesse am „anderen Kosmos“ nur umso mehr zu wecken – sicherlich eine gute Ausgangsbasis für die Resonanz der neu edierten Sämtlichen Schriften.

Titelbild

Alexander von Humboldt: Der Andere Kosmos. 70 Texte, 70 Orte, 70 Jahre 1789 – 1859.
Herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich.
dtv Verlag, München 2019.
448 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281706

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