Sigmund Freud als Novellist

Stefan Goldmanns Studien werfen neues Licht auf Sigmund Freuds Krankengeschichten und die Traumdeutung

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Epikrise zur Krankengeschichte der Elisabeth v. R. stößt man auf ein berühmtes Zitat Sigmund Freuds, in dem der Wiener Psychoanalytiker bemerkt, es berühre ihn eigentümlich, dass seine Krankengeschichten „wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren.“ Dieses Zitat wählt der Literaturwissenschaftler Stefan Goldmann als Ausgangspunkt seiner ertragreichen Studien, die er in Alles Wissen ist Stückwerk. Studien zu Sigmund Freuds Krankengeschichten und zur Traumdeutung prägnant auf 147 Seiten Fließtext in einem Buch zusammenfasst. Schon in der Einleitung setzt seine Argumentation ein, indem er entschieden jenen Therapieforschern und ähnlichen Berufsgruppen widerspricht, die den novellenartigen Krankengeschichten Freuds Wissenschaftlichkeit absprechen. Denn sowohl die Krankengeschichte als auch die Novelle können nur vor dem Hintergrund der Gattungsgeschichte verstanden und wertgeschätzt werden:

Die Bestimmung der Gattung eines Werks, seine Einordnung in den synchronen Gattungshorizont, fördert das Werkverständnis und führt zu neuen Ergebnissen und Fragestellungen, die einer in die Sackgasse geratenen Forschung belebende Impuls zu verleihen vermag.

Goldmann liefert somit den Zweck des Buches bzw. das Forschungsdesiderat, das seine Studien abdecken sollen. Denn angesichts der Fülle an Forschungsliteratur über den Wiener Psychoanalytiker und sein Werk könnte Skepsis ob der Notwendigkeit weiterer Studien entstehen. Die Lektüre der vereinten Studien widerlegen anfängliche Zweifel.

Besonders ergiebig ist Goldmanns gattungstheoretische Einordnung der Krankengeschichte, die „einer definierbaren Textsorte zuzuordnen ist und damit auch zum Objektbereich der Literaturwissenschaft zählt, die zumindest von ihrem Begriff her Literatur und Wissenschaft verbindet.“ Kursorisch skizziert der Autor zudem die Geschichte der europäischen Novellistik, worunter etwa Cervantes‘ Beispielhafte Novellen als „traditionsstiftende Muster“ zu fassen sind. Auf dieser soliden Grundlage von Gattungstheorie und -geschichte lotet er ihr intertextuelles Verhältnis aus und unterzieht Freuds Fallgeschichte der Elisabeth v. R., erschienen in den Studien über Hysterie, und die von Hermann Sudermanns verfasste Novelle Der Wunsch einem inhaltlichen und strukturellen Vergleich. Letztere ist Goldmann zufolge in Vergessenheit geraten. Umso verblüffender ist seine Schlussfolgerung, dass die Novelle „sich als das literarische ,Vorbild‘ für Freuds Krankengeschichte“ erweise.

Vor dem Horizont der Kapitel zur Krankengeschichte und zur Traumdeutung verblassen die Untersuchungen zu Simmel und Freud. Dies überrascht nicht, da Goldmann diesem Kapitel zum einen von vornherein einen Exkurs-Charakter verleiht, indem er es mit dem Untertitel Randnotizen zur Psychologie des Geldes und des Traumes ausweist. Zum anderen konzediert er, dass es sich um eine stichprobenartige Untersuchung handelt. Der Autor vergleicht darin Simmels Philosophie des Geldes mit Freuds Traumdeutung. Der Bezug ist insofern augenfällig, als beide Texte – Goldmann qualifiziert sie als einflussreiche „bedeutende Literaturwerke“ – gemeinsame literarische Referenzpunkte bzw. Quellen aufweisen, die kursorisch beleuchtet werden. Die Schlussfolgerung des Kapitels ernüchtert, denn Goldmann konstatiert, dass Simmel und Freud in ihrer „intellektuellen Ausrichtung und Physiognomie“ unvereinbar seien. Ein nicht allzu überraschender Befund.

Fundierter hingegen wirken sich die Abschlusskapitel aus, die sich mit Freuds Traumdeutung intensiv auseinandersetzen. Im Zentrum stehen Freuds terminologische Leistungen, die der Literaturwissenschaftler Walter Muschg 1930 – das Jahr, in dem Freud den Goethe-Preis erhalten hat – zum Anlass nahm, um den sprachbegabten Psychoanalytiker mit dem Essay Freud als Schriftsteller zu würdigen. Auch wenn der gattungstheoretische Pfad verlassen wird, gibt das Kapitel auf Grundlage der traumtheoretischen Forschung im 19. Jahrhundert Einblicke in die Entstehung von Traumkomposita, die nicht erst bei Freud, sondern vor allem bei Karl Albert Scherner ihre Initialzündung erfahren haben. Diese erhellende Kontextualisierung, die sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass Traumkomposita innerhalb der Traumwissenschaft bis Freud aufgespürt werden, ist insofern von Belang, als sich der Psychoanalytiker von seinen Vordenkern und traumtheoretischen Texten inspirieren ließ und etwaige Begriffe für seine einschlägige Traumdeutung modifiziert hat: „Freud greift zwar bei den Begriffen Traummaterial, Traumarbeit und Trauminhalt auf den Sprachschatz der Traumwissenschaft des 19. Jahrhunderts zurück, doch prägt er sie neu aus, indem er ihnen einen systematischen Stellenwert anweist.“ 

Den Schluss bildet die Studie zu Topik und Memoria in der Traumdeutung. Schritt für Schritt wird das topische Denken des Psychoanalytikers dargelegt. Gegenstand dieses Beitrags sind verschiedene Kapitel aus Freuds Traumdeutung. Dem besseren Verständnis dient eingangs die Erläuterung des griechischen Begriffs Topoi, der durch Aristoteles in die Rhetorik eingeführt worden ist. „Topisches Denken verortet Gedanken und erweist sich somit als verräumlichendes, spatiales Denken, wie es uns schon aus der Mnemotechnik geläufig ist.“ Anhand exemplarisch ausgewählter Textstellen wird ein Blick in Freuds Gedankengänge ermöglicht. So bezieht sich Goldmann etwa auf den Begriff „Spaziergangsphantasie“, den Freud im dritten Kapitel für sein Traumbuch als metaphorisches Synonym nutzte. Mit Hilfe des „diskursiven Raumdenkens“ baut der Psychoanalytiker seine Argumentation auf,  die er durch die Wegmetaphorik stützt: „Der Argumentation eröffnen sich an seiner Stelle plötzlich Wege, die zu einem neuen Gesichtspunkt führen, an anderer Stelle führen Pfade ins Dunkle, wissenschaftliche Vorgänger, wie z.B. Ludwig Strümpel, dienen wiederum als Wegweiser durch die Problemlandschaft des Traums.“ Doch nicht nur in der Traumdeutung erweist sich Freud als Topiker, sondern überdies auch auf den Ebenen des wissenschaftlichen Gespräches „und in der literarischen Darstellung.“

In seinen Studien hebt Goldmann auf der Grundlage der Krankengeschichten und der Traumdeutung Freud vor allem als Literat und Literaturkenner sowie exzellent denkenden Topiker hervor, wobei der Psychoanalytiker dahinter keineswegs verblasst. Der Autor, der zu Freud und zur Traumforschung 2003 seine Habilitationsschrift vorgelegt hat, zeichnet sich durch ein ausgesprochen nuanciertes Gespür von intertextuellen Verweisen und Verknüpfungen aus. Vor diesem Hintergrund deckt er blinde Flecken auf, indem er beispielsweise das von der Forschung oftmals vernachlässigte erste Kapitel der Traumdeutung in seine Untersuchungen einbezieht. Insbesondere der letzte Beitrag erweist sich als Einladung, Freuds Traumdeutung zu lesen. Sofern man sie bereits studiert hat, lohnt sich im Lichte dieser Studie eine weitere Lektüre. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Stefan Goldmann: »Alles Wissen ist Stückwerk«. Studien zu Sigmund Freuds Krankengeschichten und zur Traumdeutung.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2019.
173 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783837928556

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