Juden und Judenhass in der arabisch-islamischen Welt

Yehuda Bauer und George Bensoussan über dringliche Fragen in Europa

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie kommt ein junger Syrer dazu, einen Juden grundlos mit dem Gürtel zu schlagen wie im April 2019 in Berlin Prenzlauer Berg? Warum beschimpfen und bespucken Araber in Hamburg, Berlin oder München Rabbiner und ihre Familien auf offener Straße? Judenhass gehört, das ist bekannt, zur christlich-abendländischen Kultur wie der Baum in den Wald und ist im säkularen Zeitalter in den politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts aufgegangen wie die Hefe im Teig. Wie aber ist das im Islam? Seit fast zwei Jahrzehnten werden Juden in Europa auch von gewalttätigen, manchmal sogar mörderischen jungen muslimisch sozialisierten Männern attackiert, deren Großeltern oder Eltern eingewandert sind. So zu tun, als säßen Juden und Muslime in Europa im gleichen Boot, nur weil sie hierorts beide Minderheiten angehören, ist weltfremd und ignorant. Jahrelang war von einem „Re-Import“ des Antisemitismus die Rede, so als ob Muslime die Christen, Nationalsozialisten und Linksextremisten gebraucht hätten, um Juden zu verachten und zu hassen. Jüngst hat der international hochgeschätzte israelische Holocaustforscher Yehuda Bauer ein schmales Buch mit dem Titel Der islamische Antisemitismus veröffentlicht. Fast gleichzeitig erschien das Buch Die Juden der arabischen Welt des in Marokko geborenen französisch-jüdischen Historikers  Georges Bensoussan, der seit Jahrzehnten sachkundig auch über den aktuellen Antisemitismus in Frankreich publiziert.

Der Grat zwischen Islam und Islamismus ist Bauer zufolge schmal. Einem streng gläubigen Muslim gilt der Islam als offenbarte Wahrheit unverändert auch am Beginn des 21. Jahrhunderts. Gewiss, der Islam ist eine Religion und der Islamismus eine Ideologie. Doch beruft sich diese auf jene, um ihre Ziele zu legitimieren. Folglich haben beide miteinander zu tun, ohne dasselbe zu sein. Laut Koran sind Juden (und Christen) „Affen und Schweine“, damit keine vollwertigen Menschen. In der arabisch-islamischen Welt hatten Juden (und Christen) den Status von Dhimmis, das heißt von Menschen zweiter, gar dritter Klasse, die nur gegen eine Entrichtung von Steuern vor physischer Gewalt geschützt waren. Die Hadithen fordern Muslime ausdrücklich dazu auf, Juden zu töten. Bereits der Prophet ließ jüdische Stämme vernichten und verübte laut Bauer nach heutigen Maßstäben einen Genozid. Mohammed Amin el-Husseini, der berüchtigte Großmufti von Jerusalem und Nazi-Kollaborateur, predigte in seinen Radioansprachen aus dem Deutschland der 1940er Jahre – bei Jeffrey Herf und Matthias Küntzel kann man das ausführlich nachlesen – ganz in diesem genozidalen Sinn; heute pflegt die Terrororganisation „Hamas“ diese religiöse Tradition. Sie ist der 1928 von Hassan al-Banna gegründeten Muslimbruderschaft verpflichtet. Als totalitäre Ideologie bildete diese mit den Faschismus/Nationalsozialismus und dem Bolschewismus/Kommunismus das mörderischste ideologische Trio des 20. Jahrhunderts: der Westen und Juden waren und sind ihre gemeinsamen Feinde.

Neben dem sunnitischen gibt es den schiitischen Islam, der vor allem im Iran und im Libanon gelebt wird. Die von Teheran unterstützte libanesische Hizbollah und der Iran selbst sind gemeinsam mit den Muslimbrüdern Hauptlieferanten juden- und israelfeindlicher Propaganda. Auch wenn Bauer nicht müde wird zu betonen, dass Theorie und Praxis nicht immer und überall identisch waren und sind, und immer wieder auf Extremismus im Judentum und Christentum verweist, bleiben unterm Strich die vielen aktuellen Beispiele islamistischer Hassbotschaften, die vor allem aus Vernichtungsdrohungen und Mordaufrufen gegen Juden und den Staat Israel bestehen. Sie beeinflussen die Gefühls- und Gedankenwelten von Kindern, jungen Männern und Frauen auch in Europa. Die Shoah wird in dieser Propaganda wahlweise geleugnet, bagatellisiert oder gebilligt  – ganz wie unter Neonazis hierzulande –, aber vor allem als etwas verstanden, dass dem Staat Israel erst noch bevorsteht. Als Mitglied des Middle East Media Research Institute (MEMRI) – einer Nichtregierungsorganisation, die islamistische Medieninhalte im Nahen und Mittleren Osten dokumentiert und erforscht – verfügt Bauer über ausgezeichnete Kenntnisse der alltagskulturellen Dimension antisemitischer Wahnbilder in der arabischen Welt.

Bauer empfiehlt den westlichen Gesellschaften, Muslime zu integrieren und „Islamophobie“ zu bekämpfen. Das ist vernünftig, denn erstens können nur Muslime den politischen Islam wirksam zurückdrängen, wofür sie in Europa die Unterstützung von Nichtmuslimen benötigen. Islamfeinde verhindern genau das. Zweitens können nur Muslime mit den judenfeindlichen Traditionen des Islam brechen. Anstatt sich als die „neuen Juden“ in Europa auszugeben, sollten Muslime dem Beispiel von Bassam Tibi, Hamed Abdel Samad, Achmad Mansour, Seyran Ates oder Necla Kelek folgen und sich mit den entsprechenden Stellen in den Heiligen Schriften des Islam, vor allem aber mit den Praktiken und Fakten des letzten Jahrhunderts auseinandersetzen. In Deutschland gibt es allerdings einige Besonderheiten, die Bauer nicht im Blick hat: Jahrelang hat die hiesige Antisemitismusforschung die „falsche Analogie“ (Monika Schwarz-Friesel) von Judenhass und Islamfeindschaft gepflegt und all jene liberalen und säkularen Muslime entweder verprellt oder ignoriert, die den Islam kritisiert und sich für die Akzeptanz von Demokratie und Rechtsstaat engagiert haben. Diesem trostlosen Trend hat sich lediglich die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel entgegengestemmt. Eine Allianz von Juden und Muslimen hat nur Sinn und wird nur gelingen, wenn westlich orientierte liberale Muslime, Agnostiker oder Atheisten sich der Solidarität von Nichtmuslimen sicher sein können, wenn sie von anderen Muslimen als fahnenflüchtige Renegaten gebrandmarkt und von ahnungslos-ignoranten Linken ausgegrenzt werden. Ferner gab es in Deutschland nacheinander eine enge Allianz zwischen Nationalsozialisten, Linksextremisten sowie der DDR mit Islamisten, arabischen Nationalisten und der palästinensischen Nationalbewegung, die von Anfang an beide Richtungen bespielte, den religiösen und den säkularen Judenhass.

Diejenigen arabischen Migranten der zweiten, dritten Generation und die syrischen und irakischen Flüchtlinge, die heute in Deutschland Juden attackieren, tun dies seltener, weil sie Islamisten wären, sondern häufiger, weil sie aus islamisch geprägten Diktaturen stammen und die Trennung zwischen Staat und Religion anders als im Christentum im Islam nie existiert hat. Ihr Judenhass ist wie jener rechte und linke in Europa ein säkularer. In ihm sind die alten religiösen Ungleichwertigkeitsdoktrinen umformuliert worden: die Gleichsetzung von Zionismus, Rassismus, Apartheid, Kolonialismus und US-Imperialismus sind seit Jahrzehnten – und seit der Weltkonferenz von Durban 2001 wieder verstärkter – die mobilisierenden Schlagworte aktueller Judenfeindschaft. Dazu gehört die in der Bundesrepublik seit einigen Monaten offiziell als antisemitisch verurteilte säkulare BDS-Kampagne. Ihr Ziel ist wie das der Islamisten die physische Vernichtung Israels. Will man Judenhass heute ernsthaft bekämpfen, muss man diese Komplexität berücksichtigen. Auf den Begriff der „Islamophobie“, den Bauer gebraucht, sollte man aus zwei Gründen verzichten: Zum einen ist es ein politischer Kampfbegriff der Islamisten, den sie vorzugsweise auf Regionen anwenden, in denen Muslime in der Minderheit sind. Zum anderen ist er weder wissenschaftlich noch alltagssprachlich von präziser Aussagekraft.

Angst vor Schlägen, Beschimpfungen, Demütigungen und Erniedrigungen aller Art war das am weitesten verbreitete Gefühl von Juden in der modernen arabischen Welt. Wie Bensoussan anhand europäischer Reiseberichte des 19. Jahrhunderts aus verschiedenen Ländern zeigt, machten sich muslimische Kinder gern einen Spaß daraus, Juden, die sich aufgrund der Androhung drakonischer Strafen nicht zu wehren wagten, auf der Straße „wie Hunde“ mit Steinen zu bewerfen oder zu schlagen. Das Narrativ vom glücklichen Zusammenleben wie in al-Andalus ist eine romantische Legende des 19. Jahrhunderts. Heute dient sie dazu, den Zionismus und die Gründung des Staates Israel für den Judenhass von Islamisten und arabischen Nationalisten verantwortlich zu machen. Im Islam spielt die Stadt Jerusalem keine Rolle und war für Muslime immer nur dann von Belang, wenn sie von in ihren Augen Nichtgläubigen, seien es Christen wie in den mittelalterlichen Kreuzzügen oder Juden wie seit 1948, beansprucht wird. Während der Zwischenkriegszeit – als die britische Administration darüber Buch führte – wanderten nicht nur Juden, sondern auch Araber aus Ägypten, dem Libanon, Syrien, Irak und Jordanien ins damalige britische Mandatsgebiet ein. Diese Tatsache wird heute gern unter den Teppich gekehrt.

Der französische und britische Kolonialismus in Marokko, Algerien, Tunesien und Ägypten, den man heute schlecht gutheißen kann, stellte eine Verwestlichung und Modernisierung der Region dar. Für Muslime war sie auch deshalb unerträglich, weil sie ihnen die Anerkennung von Juden als gleichwertigen Menschen und gleichberechtigten Staatsbürgern abverlangte. Nach der NS-Besetzung Frankreichs im Zuge des Zweiten Weltkriegs und der Etablierung des Vichy-Regimes wurde die Gleichstellung der Juden im Maghreb am Beginn der 1940er Jahre zurückgenommen und diskriminierende antijüdische Gesetze erlassen. Juden wurden aus sämtlichen Institutionen entfernt, mussten die Schule verlassen oder wurden interniert. Es hat bereits nach Hitlers Machtantritt und erst recht seit Beginn der 1940er Jahre Solidaritätsbekundungen sowohl von christlichen Minderheiten als auch aus der muslimischen Mehrheitsgesellschaft gegeben. Doch überwogen Gleichgültigkeit, Schadenfreude oder Genugtuung bei Weitem. Eine flächendeckende Gegnerschaft zu Nationalsozialismus und Faschismus hat es in der arabisch-islamischen Welt nicht gegeben. Für die Rettung von ca. 1700 Juden durch die Große Pariser Moschee finden sich Bensoussan zufolge weder Belege noch Zeugen. Im Einzelfall haben Muslime genau wie Christen, Polen, Deutsche etc. Juden vor der Vernichtung gerettet. Die Regel ist das nicht gewesen. Bensoussan verweist auf das zu diesem Thema jüngst erschienene Buch Islam and Nazi Germany’s War (dt. Für Prophet und Führer. Die Islamische Welt und das Dritte Reich) von David Motadel. Der Fall des Nazi-Kollaborateurs al-Husseini mag in seinem Extremismus nicht repräsentativ für die arabisch-islamische Welt gewesen sein. Allein der Umstand, dass NS-Täter wie Alois Brunner im Syrien des Assad-Clans willkommen waren und ihre Dienste nachgefragt wurden, ist aufschlussreich genug. Bensoussan leugnet nicht, dass es zwischen Juden und muslimischen Arabern Herzlichkeit und Freundschaften gegeben hat. Der Historiker wehrt sich aber gegen die Legendenbildungen des angeblich ungetrübten friedlichen Zusammenlebens von Juden und Muslimen, das erst der Zionismus zerrüttet habe. Und in der Tat hat ein friedliches Zusammenleben in der Zukunft keine Chance, wenn eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Judenhass in Islam und Islamismus unterbleibt. Selbstverständlich gilt all das auch für das Christentum wie die kürzlich gehaltene Rede des Bischofs Hans-Jürgen Abromeit gezeigt hat.

Beide Bücher sind, obwohl vieles darin bereits bekannt und unter anderem bei Robert S. Wistrich nachzulesen ist, unbedingt empfehlenswert. Bauers Essay ist ein Vorwort des Antisemitismusbeauftragten des Bundes, Felix Klein, vorangestellt. Bensoussans Buch wird von einem informativen Beitrag des Politologen Stephan Grigat eingeleitet.

Titelbild

Yehuda Bauer: Der islamische Antisemitismus. eine aktuelle Bedrohung.
LIT Verlag, Münster 2018.
96 Seiten , 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783643141118

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Georges Bensoussan: Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage.
Mit einer Einleitung von Stephan Grigat.
Übersetzt aus dem Französischen von Jürgen Schröder.
Hentrich & Hentrich Verlag, Teetz 2019.
191 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783955653279

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