Eine geträumte Insel

Die „Zeitschrift für Ideengeschichte“ widmet sich vergangenen europäischen Idealvorstellungen von Japan

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Sommerausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte 2019 setzt es sich zum Ziel, dem „langen japonistischen Traum in der europäischen Geistesgeschichte“ nachzuspüren. In Augenschein genommen werden japonistische Visionen vieler in der Moderne verloren geglaubter Inhalte: „Haltung, Poesie, Stil“. Vor allem fahndet der moderne Mensch der westlichen Hemisphäre aber nach dem Geheimnisvollen im fernen Osten: Mystik, Initiation, Wesen, Urgrund. Es ist vielleicht der „innere Orient“, den man sucht.

In seinem Reich wähnt man eine ursprüngliche Natur bewahrt, erotische Freizügigkeit und eine Spiritualität, die, so die westliche Imagination, einen Zugang zum „Anderen“ ermögliche. Die Rezeption asiatischer philosophischer und religiöser Lehren ist tatsächlich ein beachtenswertes Phänomen, das nicht zuletzt von asienwissenschaftlichen Studien um 1900 befördert wurde. Von interessierten Gelehrten und Sprachkundigen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kann man als Zulieferer für einen Asienkult in westlichen Intellektuellenkreisen sprechen. Thema der Zeitschrift für Ideengeschichte sind jedoch nicht Vermittler wie der Religionsforscher und Asienreisende Rudolf Otto (1869–1937) oder Texterschließer wie die frühen Orientalisten Richard Wilhelm (1873–1930) und Erwin Rousselle (1890–1949), sondern in erster Linie die bekannteren Vertreter eines philosophischen Japonismus: Karl Löwith, Martin Heidegger, Kurt Singer, Eugen Herrigel und Karlfried Graf Dürckheim.

Ein japanisch-deutscher Streit

Im Falle Löwiths kann die Zeitschrift mit einer schönen Novität aufwarten. Zum ersten Mal wird sein Text Die Wahrheit über Japan. Randbemerkungen zu R. Mori in der ursprünglichen Fassung – aus dem Löwith-Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach – abgedruckt. Der Beitrag aus dem Jahr 1933 führt in medias res; Löwith analysiert die legendäre in der bayrischen Allgemeinen Zeitung abgedruckte Auseinandersetzung des berühmten Arztes und Schriftstellers Mori Ôgai (1862–1922) mit dem Geologen Edmund H. Naumann (1854–1927) anno 1886. Naumann, der in Japan geforscht und gelehrt hatte, gilt als Begründer der japanischen Geologie. Der zurückgekehrte Naumann hatte nun zunächst in einem Vortrag die Ansicht vertreten, Japans „Kopie“ westlicher Errungenschaften sei nur oberflächlich und von keinem tiefen Verständnis der Kultur getragen, wobei es seine eigene Kultur vernachlässige; außerdem gäbe es in Japan mehr Infektionskrankheiten, man zeige sich häufig fast nackt und verachte die Ainu. Ôgai reagiert in einer schriftlichen Replik empört, aber entschuldigend – hatte er doch die Sichtweise seines Vorbilds Deutschland internalisiert. Löwith erkennt die „schiefe Situation“ der Debatte zwischen dem kritischen Geologen und dem europäisierten Medizinstudenten, der sich seiner Kultur schämt und sogar den japanischen Schönheitssinn für defizitär erklärt; gerade dieser dürfte vor jedem noch so strengen Urteil bestehen.

Löwiths Zusammenfassung der Debatte, seine Relativierungen und eigenen Befunde sind nach wie vor ein spannender Stoff. Im Rahmen einer Rekonstruktion des interkulturellen Kulturdiskurses dürfte sich die Neulesung des Naumann-Disputs und seiner Rezeption lohnen, weil hier jeweils an Stelle des Gegenüber Partei und damit bemerkenswert Position ergriffen wurde. Dies kann auch der informierte Beitrag von Guillaume Fagniez bestätigen. Sein Kommentar zu Löwiths Randmerkungen greift auf zentrale Materialien zurück, ausgehend von der vom Japanologen Wolfgang Schamoni 1987 an der Bayerischen Staatsbibliothek München zusammengestellten Ôgai-Ausstellung, um dann Löwiths Sichtweise einer zeitgemäßen Bewertung zuzuführen.

Woher kommen die Füchse?

Muster der Wahrnehmung – zwischen „romantisierenden Projektionen“ und „frappieren Fällen von Abneigung“ – im Laufe der langen Geschichte deutsch-japanischer Kulturkontakte sichtet Mishima Kenichi in seinem anregenden Artikel Kreidestriche der Kulturkritik. Der Spezialist für Sozial- und Vergleichende Zivilisationsforschung bietet ein Miniaturpanorama west-östlicher Begegnungen und nennt dabei die Namen Friedrich Nietzsche, Karl Löwith, Eduard Spranger, Engelbert Kaempfer, Christian Wilhelm von Dohm und Wilhelm Dilthey.

Via Diltheys einfühlsamer Rezension von Algernon Bertram Freeman Mitfords (1837–1916) Geschichten aus Altjapan (1875) kommt Mishima auf den notorischen japanischen Fuchsgott zu sprechen, welcher offenbar stets präsent ist (oder sich präsentiert), wenn es um japanische Vorstellungen des Jenseitsraumes geht. Die europäische Auseinandersetzung mit japanischen Märchen wurde tatsächlich auch durch Mitfords Anthologie in Gang gesetzt. Über die Quellen des First Baron Redesdale informiert im Übrigen der Aufsatz Fritz Rumpf und das japanische Volksmärchen (1989) des Tübinger Japanologen Klaus Antoni im Band Du verstehst unsere Herzen gut. Fritz Rumpf im Spannungsfeld der deutschjapanischen Kulturbeziehungen, ediert vom Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin. Antoni vermutet mit der Märchenforscherin Fanny Hagin Mayer (1899–1990) und nach sorgfältiger Recherche, dass Mitford die Geschichten direkt aus den japanischen aka hon, das heißt aus den Lesebüchern für Kinder, bezogen haben dürfte – somit wäre Mishimas Auftrag an die japanologische Forschung bereits erledigt.

Völkische Spiritualität

Der Historiker Hans Joachim Bieber, Verfasser der Studie SS und Samurai. Deutsch-japanische Kulturbeziehungen 1933–1945, nimmt sich im Folgenden ein weiteres Mal des Grafen Dürckheim (1896–1988; Japanaufenthalt 1938–1947) an: „Für ihn war Japan vor 1945 Projektionsfläche nationalsozialistischen Staats- und Gesellschaftsdenkens, nach 1945 fundamentaler Kritik der westlichen Moderne – und zugleich Gegenstand einer Lebenslüge“. Dürckheim, der als „Rosenberg des Fernen Ostens“ tituliert wurde, vertrat die These einer „metaphysischen Grundlage der japanisch-deutschen Freundschaft“. Beide Völker würde der „Anspruch auf die gemeinsame Führung beim Aufbau der Neuen Ordnung der Erde“ verbinden.

Eine wirkliche Trouvaille liefert Bieber mit dem Verweis auf den YouTube-Link „Karlfried Graf Dürckheim demonstriert die Hara- oder Qi-Kraft“, ein Ausschnitt aus der ZDF-Sendung Karlfried Graf Dürckheim – Der Weg ist das Ziel aus der Reihe Zeugen des Jahrhunderts (1985). Dürckheim, der in der längeren Version des Interviews seine Erfahrungen mit dem beschreibt, was man als religiöses Erlebnis (in Dürckheims von Rudolf Otto übernommener Formulierung „das Numinose“, mit seinen beiden Seiten Faszinosum und Tremendum) bezeichnet, bestätigt im Gespräch mit dem am Spirituellen interessierten Leiter der Hauptredaktion Kultur beim Fernsehsender, Karl Schnelting, dass die aus dem Bauch (hara) geholte Qi- oder Ki-Kraft, die unerklärliche „Tiefenkraft“, etwas ganz Geheimnisvolles sei. Der Graf hatte diese Techniken bei den Übungen des Bogenschießens in Japan erlernt. Hier sei nun wieder ein Wunsch nach japanologischer Forschung geäußert und zwar der nach einer Rekonstruktion des Ki-Diskurses im europäisch-japanischen Austausch.

Zen im Schwarzwald von Felix Heidenreich, seines Zeichens wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur und Technikforschung (IZKT) der Universität Stuttgart, erörtert eine mögliche inhaltliche Beziehung Heideggers zum japanischen Denken sowie seine „biographische Verbindung zu Japan“. Auf der zweiten Ebene befand sich der deutsche Philosoph Anfang der 1920er Jahre in einem illustren Kreis bekannter japanischer Intellektueller, zu denen große Namen wie Tanabe Hajime, Kuki Shûzô und der legendäre Zen-Exeget Suzuki Daisetsu gehörten; Kuki war es, der schließlich Karl Löwith die Anstellung in Japan vermittelte. Interessant für die zeitgemäße Interpretation einer interkulturellen Ideengeschichte ist, dass bei den vermeintlichen Analogien zwischen dem späten Heidegger und den Lehren des japanischen Zen „hochkomplexe Differenzen“ auftreten, die in den verschiedenen Forschungskontexten, auf die Heidenreich zu Recht verweist, noch schärfer zu durchdenken sind.

Zutreffend ist zudem die hier ins Gespräch gebrachte Forderung, Heideggers Japanfaszination nicht als singuläre, rein philosophisch relevante Erscheinung zu betrachten, sondern eben die machtpolitischen Faktoren zu bewerten sowie das Netzwerk der Stichwort- und Ideengeber in einem gedachten internationalen Salon mit seinen parallel oder in zeitversetzten Abständen parlierenden und handelnden Akteuren sorgfältig nachzuzeichnen. Zu diesen gehörte auch der Lask-Schüler Eugen Herrigel (1884–1955), der die Jahre von 1924 bis 1929 als Dozent in Sendai verbrachte, dort seinerseits das Bogenschießen praktizierte und ebenfalls ein Beispiel darstellt für die Zen-Nobilitierung deutscher Denker. Zen als schwieriger und deshalb ehrenvoller Weg war, dies sei noch angemerkt, nicht nur bei den männlichen Adepten der interkulturellen Erkenntnisgemeinde der Vor- und Nachkriegsära beliebt, sondern bot auch der Zen-Praktikantin Gerta Ital (1904–1988), eine der wenigen europäischen Frauen, die in den 1960er Jahren in einem japanischen Zen-Kloster praktizierte, Gelegenheit, mentale Überlegenheit durch Selbstüberwindung zu beweisen. Ihre „deutsche Willenskraft“ wurde von den japanischen religiösen Spezialisten ganz im Geiste völkischen Superioritätsdenkens hoch gelobt.

Der griechische Japaner

Mit der Prägung „philosophischer Japanonismus“ beschreibt der Kulturhistoriker Phillip Felsch im Essay Athen –Tokyo den Topos des „griechischen Japaners“. Zurückgeführt wird er auf die Schriften Lafcadio Hearns (1850–1904), die sehr lange das westliche Bild von Japan beeinflusst hatten. Japan, so Hearn, ermögliche eine Zeitreise ins antike Griechenland. Hearns Sehnsuchtsland war indes schon stark von den Ambitionen gefährdet, Teil des Wettkampfs um die Verteilung der globalen Ressourcen zu werden: „Aufgrund der fortschreitenden Verwestlichung hatte Hearn die vollendete Noblesse der griechischen Japaner bereits nur noch in entlegenen Landesteilen angetroffen“. Felsch nennt noch weitere Belegstellen für die Assoziation Japans mit Griechenland, unter anderem Löwith im März 1945: „Was mich in Japan am meisten beeindruckt hat, [ist] das dort lebendige echte Heidentum […], wie ich es vorher nur aus Schulbüchern über römische + griechische Kultur kannte.“

Unter der Überschrift Fallout im Paradies wendet sich der Verfasser dann noch einem ganz anderen Japanbild zu, nämlich dem des Philosophen Günther Anders (1902–1992). Anders hatte den Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki als einschneidendes Erlebnis erfahren und sich deshalb intensiv mit einer Philosophie des post-atomaren Zeitalters beschäftigt. In ihr konstatiert er eine „Vernichtung des Raumes im globalen Wirkungszusammenhang“, entkommt jedoch letztlich nicht den Fallen des Exotismus, wenn er sich, wie Felsch zu Recht anmerkt, von der „schlichten Eleganz der Kellnerinnen“ im Hotel fasziniert zeigt. Einige Betrachtungen zum französisch-russischen Philosophen Alexandre Kojève (1902–1968) und dessen Erwartungen einer „Nachgeschichte“,  die das isolationistische Japan verkörpere, ergänzen die Antikenexploration. Das letzte Wort hat Maurice Pinguet (1929–1991) mit seinem Werk La mort volontaire au Japon (1984; Der Freitod in Japan, übersetzt von Beate von der Osten und Makoto Ozaki). Als Ergänzung – Catos „Harakiri“ wird dort folgendermaßen beschrieben:

Sie fanden ihn in seinem Blute liegend. Die meisten Eingeweide hingen zum Leib heraus, doch er lebte noch und sah sich um. Alle wurden von Bestürzung ergriffen, der Arzt aber näherte sich ihm und versuchte, die Eingeweide wieder einzusetzen und die Wunde zu vernähen. Als Cato wieder zu sich kam, stieß er den Arzt zurück, riß die Wunde mit seinen Händen wieder auf, zerriß die Eingeweide und starb.

Das Ende des Japonismus?

Fort vom heldischen Tod und von satori-Ambitionen ins kunstgeschichtliche Feld führen schließlich die Anmerkungen von Vera Wolff zum „Ende des Japonismus“, wobei aber auch die Kunst- und Bildhistorikerin auf ideengeschichtlich-philosophische Positionen eines Okakura Kakuzô (1863–1913) Bezug nimmt. Wolff, Verfasserin der Studie Die Rache des Materials. Eine andere Geschichte des Japonismus (2014), setzt bei der vielfach verbreiteten These „Die Moderne kommt aus Japan“ an und diskutiert Ausstellungskonzepte historischer Präsentationen von japanischer Kunst. Sie hält fest, man habe lange Zeit nicht die „Indienstnahme“ der Zuschreibungen für „unterschiedlichste politische und künstlerische Positionen“ berücksichtigt. Ebenso habe man die „komplizierte Geschichte des bis heute funktionierenden Wechselspiels aus westlichen Projektionen und japanischem Nationalismus“ kaum hinreichend interpretiert.

Sicher ist auch mit diesem Japanspecial Die Wahrheit über Japan das Ende der Exotik noch nicht erreicht. Das hohe Niveau der Reflexion gibt allerdings der Hoffnung Raum, dass künftige Gelehrtengenerationen die Mechanismen der japanisch-westlichen Fremd- und Selbstimaginationen in ihren historischen Varianten wie selbstverständlich handhaben werden – so dass auch aktuelle Argumentationen zu Japans Einzigartigkeit und seinen nationalen Stärken rasch eingeordnet und mit ihren geistesgeschichtlichen Ursprüngen abgeglichen werden können.

Ein Gedanke zum Schluss: Die Verfasser wollten, wie sie in der Einführung kundtun, in Anbetracht ihrer auf westliche Modelle beschränkten fachlichen Expertise nichts über Japan an sich sagen, jedoch hätte diese ausgeschlossene Perspektive mit ihrem Vorteil des Zugriffs auf die Originalsprache gewiss eine Bereicherung geboten. Das interdisziplinäre Spektrum wäre mit einem Japanologen jedenfalls sinnvoll erweitert worden.

Zitierte Sekundärtexte:

- (2007): „Akademische Arbeit und Asienkult: Wilhelm und Rousselle als Vermittler asiatischer Religion“. In: Wippermann, Dorothea und Georg Ebertshäuser (Hg.): Wege und Kreuzungen der China-Kunde an der J.W. Goethe-Universität, Frankfurt am Main, S. 159-183.

- (2007): „Gerta ltals ‚mystischer Zen‘: Sinnkonstruktionen deutscher Buddhisten und die interkulturelle Erkenntnisgemeinde der 1950er, 1960er Jahre“ In: Gebhard, Walter (Hg.): Ostasienrezeption in der Nachkriegszeit. Kultur-Revolution – Vergangenheitsbewältigung – Neuer Aufbruch. München: Iudicium, S. 191-207.

Titelbild

Jost Philipp Klenner (Hg.) / Robert E. Norton: Zeitschrift für Ideengeschichte Heft XIII/2 Sommer 2019. Die Wahrheit über Japan.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
128 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783406735448

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