Eine Insel als literarisches Zentrum

Maike Albath führt mit „Trauer und Licht“ ins Innenleben der sizilianischen Literatur

Von Jonas HockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Hock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stärker noch als andere Inseln ist Sizilien immer noch von seiner Geografie geprägt. Spürbar wird das vor allem an einer Infrastruktur, deren Ausbau seit einem Jahrhundert kaum Fortschritte zu machen scheint. Auf YouTube findet sich gar ein Nischengenre: Junge Italiener dokumentieren belustigt, wie sie die Insel verzweifelt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu umrunden versuchen. Und für den Zugang vom italienischen Festland aus wird seit mehreren Jahrzehnten eine Brücke versprochen, die wohl nie kommen wird. Maike Albath wählt als Einstieg in ihr Sizilien-Buch Trauer und Licht die Ankunft per Boot über die Straße von Messina und weiß sich dabei bereits auf literarischem beziehungsweise literarisiertem Grund. Von Elio Vittorinis Gespräch in Sizilien über Giuseppe Tomasi di Lampedusas Leopard bis hin zu Stefano D’Arrigos Horcynus Orca enthält noch jeder große Sizilienroman den Topos der Überwindung dieser Meerenge. Die Geografie der Insel prägt ihre Literatur – und andersherum.

Nach Der Geist von Turin (2010) und Rom, Träume (2013), ihren beiden ebenfalls bei Berenberg erschienenen Büchern, die zwischen Literaturgeschichte und Stadtspaziergängen mit persönlichen Begegnungen pendeln, begibt Albath sich nun ins Zentrum des Mittelmeers und damit an die Peripherie Italiens. Von den vielen Autoren, die besprochen werden, haben es Lampedusa, Sciascia, Camilleri in den Untertitel geschafft. Dabei ist die Aufmerksamkeit ungleich verteilt: Lampedusa, der mit Der Leopard zwar nur einen einzigen Roman, dafür aber den Sizilien-Roman schlechthin geschrieben hat, ist die Hälfte des Bandes gewidmet, Sciascia, dem Meister des sizilianischen giallo, also dem Kriminalroman, und Camilleri, seinem erst im Sommer 2019 verstorbenen ‚Mentee‘, zwei beziehungsweise ein Kapitel.

Um die Spezifik der sizilianischen Literatur zu fassen, setzt Albath darauf, in bewährter Weise behutsam bemessene, aber tiefgründige Hintergrundinformationen mit Anekdoten und arkanem Wissen, das ihr verschiedenste Gesprächspartner in der persönlichen Begegnung anvertrauen, zu verbinden. So wird bei den vielen Kapiteln zu Der Leopard nicht nur über die historischen Hintergründe der Erzählung, über die „Irrläufe“ des erst posthum erschienenen Manuskripts und die berühmte Verfilmung von Luchino Visconti mit Burt Lancaster in der Hauptrolle referiert. Albath besucht auch den Palazzo Lanzi Tomasi, wo Gioacchino Lanza Tomasi, der Adoptivsohn Giuseppes, ihr von der Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Eigenarten des palermitanischen Adels und den komplizierten Beziehungen des Schriftstellers zu seiner Mutter, seiner Frau und überhaupt zu einer Welt, in der ein sizilianischer Aristokrat immer weniger seinen Platz fand, erzählt. Sie spaziert durch Catania, wo 1875 der Verismus erfunden wurde, jene „italienische Spielart des Naturalismus“, deren Begründer nicht zufällig drei Sizilianer waren, Giovanni Verga, Luigi Capuana und Federico De Roberto, die in ihren Romanen und Erzählungen sozialkritisch die Lebensbedingungen insbesondere der einfachen Bevölkerung darstellten. Die Stadt hat aber auch einen in Deutschland kaum bekannten Schriftseller wie Vitaliano Brancati hervorgebracht, der Mitte des 20. Jahrhunderts in seinen Romanen die erdrückend-lähmende Liebe sizilianischer Mütter, den „regressiven Effekt Catanias“ und die daraus rührende Passivität seiner Helden, die „bis um 12 Uhr im Morgenrock umherstreifen“, thematisierte. Durch den Botanischen Garten von Palermo geht es mit Marco Carapezza, dem engsten Freund Leonardo Sciascias, und schließlich besucht Albath in Rom Andrea Camilleri, den Vater des Commissario Montalbano, den selbst italienische und wohl auch deutsche Nicht-Leser zumindest aus dem Fernsehen kennen. Sie verbleibt aber nicht nur im literarischen Gespräch, sondern stellt sich auch den bitteren Realitäten der Insel, trifft sich etwa mit dem Journalisten Paolo Borrometi, der Sizilien nach Bedrohung durch die Mafia verlassen musste.

Kern des Anliegens bleibt jedoch, die Besonderheit der sizilianischen Literatur und ihrer Schriftsteller (auch Luigi Pirandello, Salvatore Quasimodo, Vincenzo Consolo und andere kommen vor) herauszustellen. Beinahe alle Autoren – das Maskulinum ist hier tatsächlich nicht generisch – haben gemein, dass sie Sizilien einmal für längere Zeit oder endgültig verlassen haben. So wird das Thema der Rückkehr, aber auch der Rückschau zu einem Topos der Sizilienliteratur. Die mythische Eigentlichkeit der Insel erscheint dabei immer schon vergangen, wie in Der Leopard, uneinholbar, wie bei D’Arrigos Horcynus Orca, oder mafiös beziehungsweise kriminell unterwandert wie bei Sciascia und Camilleri. In den literarischen und biografischen Spannungsfeldern, die Albath untersucht und besucht, zeigt sich die Insel als das „vitale Zentrum“ einer italienischen Kultur und damit auch einer Literatur mit „starken Fliehkräften“. Fliehkräfte, die besonders typisch sind für die vielen, oft durch komplizierte Sedimentierung und Vermischung entstandenen Sprach- und Kultur-Schichten, die Siziliens Identität ausmachen. Sciascia nannte das sicilitudine, Sizilianität, die eben kein Bündel kohärenter Eigenschaften beschreibt, sondern im Kern durch Unsicherheit und Zerrüttung geprägt ist. Ausgerechnet daher rührt dann wohl die Qualität, aber auch Relevanz der sizilianischen Literatur; denn was Albath für Pirandello formuliert, ließe sich verallgemeinern: „die zersplitterte sizilianische Identität antizipierte eine Erfahrung der Moderne“ – eine Erfahrung, deren Spuren in der Literatur Siziliens zu folgen der Band mehr als Lust macht.

Nichts ganz Neues über Sizilien und seine Literatur lernt, wer bereits einige der in Trauer und Licht erwähnten Bücher aufgeschlagen hat. Aber um Bahnbrechendes und Unerhörtes geht es nicht. Vielleicht ist Maike Albaths Band gerade darum selbst in gewisser Weise sizilianisch: Angenehm gemächlich und sensibel für ihre Gegenüber sowie für die zahllosen Fäden, die sich zwischen den Literaten, ihren Werken und ihrer Insel knüpfen lassen, durchschreitet sie die schillerndsten der zahlreichen Etappen sizilianischer Literatur insbesondere des 20. Jahrhunderts. Gerahmt wird diese Geschichte von drei weiblichen Figuren, die beinahe die spannendsten des Bandes, jedoch keine Schriftstellerinnen sind: Lampedusas lettische Frau Alexandra „Licy“ von Wolff Stomersee, die eine wichtige Figur der italienischen Psychoanalyse werden sollte, die palermitanische Fotografin Letizia Battaglia und schließlich die Verlegerin Elvira Sellerio, mit der der Band schließt. Sie gründete 1969 mit ihrem Ehemann in Palermo Sellerio Editore; die markanten blauen Bände des Verlags liegen heute in jeder italienischen Buchhandlung und sogar in Supermärkten und Tankstellen aus, meist in Form eines neuen Camilleri-Romans, und tragen so ein Stück Sizilien noch bis in den hohen Norden.

Titelbild

Maike Albath: Trauer und Licht. Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens.
Berenberg Verlag, Berlin 2019.
352 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783946334507

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