Die Geschichte anders erzählen

Rebecca Solnits Essayband „Die Mutter aller Fragen“ zeigt, dass Schweigen kein Gold ist

Von Michelle HegmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michelle Hegmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit ihrem scharfsinnigen und unterhaltsamen Essay Wenn Männer mir die Welt erklären (2015) zählt die US-amerikanische Publizistin Rebecca Solnit zu den meistgelesenen Feministinnen unserer Zeit. Der Text über die Anmaßung vieler Männer, Frauen ungefragt über die Geheimnisse des Lebens (angeblich) aufzuklären, rief ein so lautes gesellschaftliches Echo hervor, dass die Wortschöpfung „mansplaining“ noch im gleichen Jahr Einzug in das Oxford English Dictionary fand. Bevor der Hashtag #MeToo auf der Timeline sämtlicher sozialen Medien prangte, schrieb Solnit bereits über weibliche Selbstbestimmung und ihr Verständnis von Feminismus als Befreiungsprojekt. Mit dem Essayband Die Mutter aller Fragen führt sie dieses Projekt fort und kritisiert, dass sich bei den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen eines hartnäckig hält: das öffentliche Interesse an ihrer Gebärmutter.

„Warum haben Sie keine Kinder?“ Diese Mutter aller Fragen bekommt Solnit oft von Journalist*innen in Interviews und Podiumsdiskussionen gestellt, in denen es eigentlich um ihre literarischen Erfolge gehen sollte. Die Autorin wird mehr zu ihren Kindern ausgefragt, die sie nicht hat, als über die Bücher, die sie (geschrieben) hat. Nach wie vor scheint es eine selbstverständliche Berechtigung zu geben, diese sehr private Frage öffentlich zu verhandeln – inklusive dem (mal mehr oder weniger deutlich ausgesprochenen) Vorwurf, ein kinderloses Leben sei ein misslungenes. Mutterschaft wird immer noch als Schlüssel zur weiblichen Identität gesehen, was aus der Wahrnehmung resultiert, „dass es nicht ‚die Frauen‘ gibt, also die 51 Prozent der Menschheit, die in ihren Wünschen so vielfältig und in ihrem Begehren so geheimnisvoll sind wie die restlichen 49 Prozent auch, sondern nur ‚die Frau‘. Und ‚die Frau‘ soll heiraten und sich vermehren.“ Die Realität gibt der Autorin recht. Die Ironie dabei: Entscheidet sich eine Frau tatsächlich für diesen Weg, wird sie schnell als ambitionslose Hausfrau abgestempelt. Eine arbeitende Frau ohne Nachwuchs gilt als egoistisch, weil sie nicht die Opfer bringen möchte, die mit der Elternschaft einhergehen. Eine beruflich erfolgreiche Mutter vernachlässigt ihre Kinder und ist eine Rabenmutter. Heutigen gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden, ist für eine Frau nahezu unmöglich – dennoch repräsentiert Mutterschaft nach wie vor die zentrale Rolle „der“ Frau.

Treffend erklärt Solnit, dass das Problem möglicherweise ein literarisches ist:

„Wir sollen mit einem einzigen Handlungsstrang auskommen, der zu einem guten Leben führt, obwohl gar nicht wenige von denen, die eben diesem Handlungsstrang folgen, trotzdem ein schlechtes Leben haben. Wir tun so, als gäbe es genau einen guten Plot mit genau einem Happy End, während das Leben um uns herum doch in so vielfältigen Formen erblüht und wieder vergeht.“

Das Herzstück von Die Mutter aller Fragen bildet die intensiv recherchierte und ausführlich dargelegte Geschichte des Schweigens, die ein Synonym für die Geschichte der Frauenrechte darstellt. Das Schweigen wurde und wird Frauen nach wie vor auf verschiedene Weise aufgezwungen: „Gewalt gegen Frauen passiert oft als Gewalt gegen unsere Stimmen und Geschichten.“ Solnit formuliert, welche tragende Rolle die Stimme spielt und wie Menschen seit jeher zum Schweigen gebracht werden: Abtreibungsgegner*innen möchten Schwangere mundtot machen, Hasskommentare im Internet verbieten einem anderen das Wort und Mörder*innen lassen einen Menschen für immer verstummen.

Das Wort zu ergreifen stellt einen Akt der Befreiung dar, wozu auch gehört, über Machtstrukturen und dessen Missbrauch zu sprechen. Die Autorin kommentiert die Veränderung in der öffentlichen Auseinandersetzung über Gewalt gegen Frauen, lässt zahlreiche literarische Zeug*innen zu Wort kommen und analysiert in zwölf Essays etliche Fallbeispiele – der Untergang von „America’s Dad“ Bill Cosby und Radiomoderator Jian Ghomeschi nimmt dabei besonders viele Seiten ein. Solnit bietet nicht nur interessante Zahlen und Fakten: Ihre Fähigkeit zur Analyse ist beeindruckend, ihre Überzeugungskraft brillant. Eigene Gedanken formuliert sie messerscharf, bleibt dabei immer ehrlich und gibt viel von ihrer persönlichen Geschichte preis.

Die Essays stimmen nachdenklich, machen wütend und zeigen auch Humor. Die Texte „Wenn Männer mir Lolita erklären“ und „80 Bücher, die keine Frau lesen sollte“ warten mit viel Ironie und Witz auf. Letzterer ist Solnits Reaktion auf die Liste der „80 besten Bücher, die jeder Mann lesen sollte“ (Spoileralarm: 79 davon wurden von Männern verfasst) des Magazins Esquire. Charmant rechnet sie mit chauvinistischen Autoren, sexistischen Inhalten und „männlicher Gefühlsduselei“, der „schlimmsten aller Gefühlsduseleien, weil sie sich selbst gegenüber verblendet ist“, ab.

Bei allen Schmunzeleien hinterlässt Die Mutter aller Fragen einen bitteren Nachgeschmack, der spüren lässt, wie viel noch zu tun ist. Das Befreiungsprojekt Feminismus hat durch #MeToo einen gewaltigen Auftrieb bekommen und ist noch längst nicht beendet. Solnits Essayband ist eine Bestandsaufnahme und Handlungsaufforderung zugleich. Die Aufforderung beinhaltet nicht nur, sich aus den Gebärmüttern anderer herauszuhalten, sondern die Geschichte des Schweigens zu verstehen und anders zu erzählen. Dann kann der Plot auch endlich aus unterschiedlichen Handlungssträngen bestehen, die zu unterschiedlichen Happy Ends führen. Denn wie die Autorin treffend über die kinderlos gebliebene Virginia Woolf schreibt: „Schließlich schenken viele Menschen Babys das Licht der Welt, aber nur ein Mensch schenkte uns Zum Leuchtturm und Drei Guineen.“

Titelbild

Rebecca Solnit: Die Mutter aller Fragen.
Mit Illustrationen von Paz de la Calzada.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Kirsten Riesselmann.
Tempo Verlag, Hamburg 2017.
320 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783455001778

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