Weg von Wien

Uffa Jensen schreibt eine „Globalgeschichte“ der Psychoanalyse

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Über Länder und Meere hinweg drücke ich Ihre Hand und möchte mehr von Ihnen hören“, schrieb Sigmund Freud an den peruanischen Psychiater Honorio Delgado am 19. November 1919, um ihn zur Mitarbeit an der Psychoanalyse zu ermutigen. Die Psychoanalyse entwickelte sich tatsächlich rasch zu einer weltumspannenden, mächtigen Bewegung. Ihr „Aufbruch zu globalen Ufern“ begann mit der Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) im Jahre 1910. In seinem neuen Buch nimmt sich der Historiker Uffa Jensen dieser Frühphase der Ausbreitung der Psychoanalyse an und verfolgt sie bis zum großen „Einschnitt“ von Freuds Tod im Jahre 1939.

„Dieses Buch ist eine Globalgeschichte der Psychoanalyse“, kündigt Jensen gleich zu Beginn seines Buches an, und so lautet auch der Untertitel „Eine Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse“. Dieser vollmundigen Behauptung wird seine Untersuchung nicht gerecht. Der Autor selbst ist sich der Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens bewusst; deshalb führt er abgrenzend zum Begriff „Globalgeschichte“ für die Art der Geschichte, die er schreibt, den Begriff „Totalgeschichte“ für die allumfassende, „chronologische“ und „enzyklopädische“, allerdings kaum zu leistende Darstellung der weltweiten Verbreitung der Psychoanalyse ein. Als wenig ertragreich erweist sich auch der Ansatz, von Wien und von Freud als Ausgangspunkt der psychoanalytischen Lehre und Bewegung weitgehend abzusehen und die Begründung der Psychoanalyse nicht mehr vom Zentrum, sondern von der Peripherie aus neu zu schreiben. Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, die Psychoanalyse sei gleichzeitig an mehreren Orten in der Welt erfunden worden. Jensen möchte das bisher gängige „Zentralnarrativ“ zerstören, nach dem Freud und der von ihm in die Welt gesetzte „Kern“ von Ideen als „Maßstab“ dienen. Entgegenwirken möchte er somit nicht nur einem wienerisch-freudschen, sondern auch einem ausschließlich „westlichen Verständnis“ der Psychoanalyse.

Der Kosmopolitismus der Psychoanalyse sowie ihre Verankerung in bürgerlichen Mittelschichten (trotz mehr oder minder erfolgreicher Versuche, sie zum Beispiel ebenfalls im Arbeitermilieu zu nutzen) stehen außer jeglichem Zweifel. Dafür liefert  Jensen eine Menge Beweise. Wertvoll ist seine Arbeit vor allem mit ihren Informationen zur Geschichte der Psychoanalyse in Indien. Ins Zentrum dieser Abschnitte stellt Jansen die schillernde Gestalt Girindrasekhar Boses, dessen „eigenwillige“ Weiterführungen der Psychoanalyse, etwa seine Theorie der gegensätzlichen Wünsche, Freud und seine engsten Mitarbeiter zwar nicht zu überzeugen vermochten, dennoch interessant und in Bezug auf den indischen Kontext und die Popularisierung der Psychoanalyse außerhalb Europa aussagekräftig sind. Positiv zu betonen ist hier nicht zuletzt die Begeisterung, die aus Jensens Passagen über indische Psychoanalyse strömt. Weniger aufschlussreich und innovativ hingegen sind die Ausführungen über die Verbreitung der Psychoanalyse in Berlin und London. Die Wahl dieser Orte neben Kalkutta wird begründet, wirkt aber trotzdem etwas arbiträr, zumal das Kriterium, diese Städte würden für Orte stehen, an denen die Psychoanalyse „unter unterschiedlichen Bedingungen erst heimisch werden musste“ oder „Aufnahme fand“, auf viele Städte zutrifft. Warum London und nicht New York? Warum Berlin und nicht Zürich? Und wenn man Jensens Feststellung berücksichtigt, „die internationalen Beziehungen“ der Psychoanalyse hätten eigentlich mit Max Eitingons Lehranalyse bei Freud 1907 begonnen, warum folgt ihr diese „Globalgeschichte“ nicht eher nach Jerusalem, wohin Max Eitingon gegangen war und wo er 1934 das Jerusalemer Psychoanalytische Institut gründete? Solche Entwicklungen werden neuerdings glänzend in dem noch ins Deutsche zu übersetzenden Buch Guido Liebermanns The Origins of Psychoanalysis in Israel: The Freudian Movement in Mandatory Palestine 1918-1948 (2019, zuerst 2012 in französischer Sprache) dargestellt. Dennoch sind Jensens  vergleichende Untersuchungen zur Arbeit und zu den  Errungenschaften einiger Zentren der Psychoanalyse mit ihrem Fokus nicht nur auf Bose in Indien, sondern auch auf Persönlichkeiten wie Otto Juliusburger in Berlin und Ernest Jones in London vielfach erhellend.

Freud hatte seine jüdischen Mitstreiter in Wien schon früh ermahnt: „Ich muss den Anschluß an die Wissenschaft finden; bin alt, will nicht immer nur angefeindet werden. Wir alle sind in Gefahr […]. Die Schweizer werden uns retten“. Jensen scheint Freuds Warnung an seine meist jüdischen Anhänger, sich in dieser schwierigen Situation zu „bescheiden“, wortwörtlich zu nehmen und minimiert die Bedeutung der Wiener Psychoanalyse, indem er ihr die Kernfunktion abspricht, die sie tatsächlich hatte, und sie zur Lokalvariante neben der Psychoanalyse in Berlin, London und Kalkutta herabstuft. Er behauptet stattdessen die „Gleichzeitigkeit“ und „Gleichrangigkeit“ mehrerer weltweiter Ursprungsorte der Psychoanalyse. Die Entstehung der einzelnen Varianten der Psychoanalyse wird auf das jeweilige kulturelle und geistige Klima sowie auf dort bereits früher praktizierte psychotherapeutische Verfahren zurückgeführt. Der Titel „Wie die Couch nach Kalkutta kam“ ist so gesehen allerdings nicht korrekt, da aus Jensens Sicht die Couch (in Boses Fall war es der Liegestuhl) als Hilfsmittel der Therapie und Symbol der psychoanalytischen Behandlung schon immer in Kalkutta – auch ohne Freud – gewesen ist. Dieser auf mehrere Orte und Zentren verstreuten Lokalebene mit ihrer Variabilität sowie regionaler Färbung setzt Jensen die Ebene der „globalen Psychoanalyse“ entgegen. Als Kernmerkmale der „globalen Psychoanalyse“, die in vielen ihrer lokalen Varianten wiederkehren, postuliert Jensen die energetische Denkweise, die ödipale Dimension und – soweit aus der Darstellung erkennbar, da nicht so eindeutig festgehalten – die freie Assoziation als Methode.

Jensens Ansatz der Dezentrierung und der Entkopplung der Psychoanalyse von der Person Freuds ist an sich wertvoll, wird aber schon länger angewendet. Zahlreiche Darstellungen haben in den letzten Jahren weitere Vertreter und ,Mitbegründer‘ der Psychoanalyse ins Visier genommen, darunter auch Patientinnen wie Bertha Pappenheim (alias Anna O.) (vgl. etwa Louis Breger: A Dream of Undying Fame: How Freud Betrayed His Mentor and Invented Psychoanalysis, New York 2009). George Makari beispielsweise hat in seinem Buch Revolution der Seele. Die Geburt der Psychoanalyse (2008, dt. 2011) auf die wissenschaftlichen und ideengeschichtlichen Vorläufer Freuds hingewiesen. Gewinnbringend hingegen ist Jensens Blick auf einige Kanäle und Mechanismen der Verbreitung der Psychoanalyse und des Wissenstransfers generell. Er beschreibt darüber hinaus überzeugend einige von Freuds Strategien zwischen „Einladungspolitik“ einerseits, „Kontrolle und Ausgrenzung“ andererseits, zwischen Grenzöffnung und Grenzschließung der Psychoanalyse. Und er präsentiert außerdem die richtige Erkenntnis, dass der Psychoanalyse die Emigration ab 1933 deshalb relativ reibungslos gelingen konnte, weil sie schon vorher  globale Strukturen etabliert hatte. Eine weitere wichtige Einsicht ist, dass sich Internationalisierung und Popularisierung der Psychoanalyse als „Auswege aus der stockenden akademischen Institutionalisierung“ begreifen lassen.

Die Betrachtung und Analyse von Varianten und kulturellen „Anverwandlungen“ der Psychoanalyse in einzelnen Ländern oder in verschiedenen Milieus wird die psychoanalytische Historiographie auch in Zukunft beschäftigen. In diesem Zusammenhang sei auf ein weiteres Buch von Guido Liebermann über die Verbreitung der Psychoanalyse in den Kibbuzim hingewiesen: La psychanalyse à l‘épreuve du kibboutz (2014). All das beweist, wie Jensen richtig betont, die „Flexibilität und Kreativität“ der Psychoanalyse. Gar nicht von der Hand zu weisen ist auch die Idee, infolge der weltweiten, flächendeckenden, inzwischen jahrelangen Verbreitung der Psychoanalyse auch nach Merkmalen der sich mehr und mehr herauskristallisierenden „globalen“ Psychoanalyse zu suchen. Besonders wichtig wäre in Zukunft eine noch genauere Analyse „globalisierender Strukturen der Psychoanalyse“, zu denen Jensen den Briefverkehr, die Zeitschriftenkommunikation, das Verlagswesen oder die Übersetzungsleistungen zählt und zu deren Erforschung er gute Anstöße gibt.

An Freud und am wienerischen „Kern“ der Psychoanalyse dagegen führt kein Weg vorbei – auch wenn es „die reinen Anfänge“ wirklich nicht gibt. Die Annahme, die Psychoanalyse sei gleichzeitig in der Wiener Berggasse, in Georg Groddecks Sanatorium auf der Marienhöhe in Baden-Baden (das zudem gar kein urban-metropolitanes Zentrum war), in Otto Juliusburgers Behandlungszimmer in Berlin und in Girindrasekhar Boses Behandlungszimmer in Kalkutta entstanden und Freud sei zwar ihr erster, aber nicht der einzige Erfinder der Psychoanalyse, entbehrt der historischen Grundlage. Dass das Leben der urbanen, bürgerlichen Mittelschicht weltweit ähnliche Probleme hervorrief und dass die Suche nach Lösungen teilweise ähnliche Ergebnisse zeitigte und vergleichbare therapeutische Lösungen hervorbrachte, bedeutet noch keineswegs, dass alle diese Ansätze, „Vorformen“ oder „eigenwilligen Entdeckungen“ der Psychoanalyse zuzurechnen sind beziehungsweise in ihrer Ganzheit und Systematik oder umgekehrt in ihrer Fragmentarität oder fehlenden Systematik als eine ,Begründung der Psychoanalyse‘ gelten können. Erstens vermisst man in Jensens Buch diesbezüglich eine präzisere und weitreichendere soziologische und insbesondere wissenssoziologische Analyse der „metropolitanen Mittelschichten“ an den besagten Orten und zweitens bleibt im ganzen Buch die Spezifik der freudschen Psychoanalyse relativ unterbelichtet. Mit dem weltweiten „psychotherapeutischen Praxisfeld“ als Untersuchungsobjekt setzt der Autor einen viel zu weiten Rahmen, in dem die Besonderheiten der Psychoanalyse und ihre Grenzen zu anderen Theorien und Verfahren weitgehend untergehen. Subhas Chandra Boses Aufruf „Wir müssen analytisch werden“ spricht hier Bände: Nicht alle psychotherapeutischen Verfahren und Ideen waren „analytisch“ und einem wissenschaftlichen Modell verpflichtet, doch die Psychoanalyse insistierte verstärkt auf Wissenschaftlichkeit. Dieses Charakteristikum (selbstverständlich ist es nicht das einzige) blieb in besonderem Maße der Psychoanalyse vorbehalten und ging von Wien aus.

Die Psychoanalyse ist ein Produkt des westlichen, bürgerlichen Spätliberalismus hauptsächlich jüdischer Prägung, der sich den Säkularismus und aufgeklärten Universalismus auf die Fahne geschrieben hat – wie auch Jensen immer wieder aufzeigt. Diese spezifische Art theoretischen und praktischen Wissens und Handelns in der Psychotherapie speiste sich zwar aus verschiedenen Einflüssen, u.a. aus der antiken Säftelehre, dem Hypnotismus, Mesmerismus usw., wie Jensen mehrfach und richtig bemerkt, wurde aber zu einer spezifischen Wissenssynthese und einer einzigartigen Therapiemethode verarbeitet, die vielfach auf fruchtbaren Boden fiel. Dass die Psychoanalyse später mehrfach verfälscht und missbraucht wurde, wobei zugleich ihr Universalismus und Liberalismus eliminiert wurden, steht auf einem anderen Blatt. Jensen selbst zieht hier zum ersten Mal eine Grenze zwischen der Psychoanalyse und anderen Lehren und Methoden, wenn er schreibt: „Die Psychoanalyse mit ,deutschem Gepräge‘ stellte nicht länger eine Alternative zur liberal-aufgeklärten Hauptströmung dar“. „Liberal-aufgeklärtes“ Denken erscheint so als ein wichtiges ,Schibboleth‘ für die Abgrenzung.

Das Selbst der Psychoanalyse erweist sich schließlich ebenfalls als ein „aufgeklärt-universalistisches“. Diesen – von Jensen letztendlich doch herauspräparierten – jüdisch-liberalen, universalistischen Kern der Psychoanalyse herunterzuspielen, ist daher wenig hilfreich. Als „traveling culture“ ist die Psychoanalyse nur dann zu sehen, wenn dieser Rahmen gesetzt und eingehalten wird. Möglicherweise gelang der Psychoanalyse die globale Verbreitung so „erstaunlich schnell“ gerade infolge ihres Universalismus und ihres „universalistischen Verständnisses vom Menschen“. Man könnte die Internationalisierung der Psychoanalyse auch als eine „Rettung“ dieses relativ gut definierten und definierbaren Kerns sehen. Aus dem ursprünglichen, überschaubaren Kern erwuchs dann ein kosmopolitisches Projekt enormen Ausmaßes. Dennoch ist Jensens Aussage, dass „kultureller Transfer“ nicht nur in eine Richtung verläuft, sondern auf „Verflechtungen“ und „fluiden Grenzen“ beruht und dass es der Psychoanalyse in ihrem Universalismus immer gelang, sowohl solche Grenzen zu überwinden als auch „binäre Strukturen“ wie „rational/emotional“, „westlich/östlich“ oder „männlich/weiblich“ zu „unterwandern“, richtig und auch für künftige Forschungen produktiv.

Uffa Jensens Versuch, die Psychoanalyse in die Emotionsgeschichte einzuschreiben, ist ebenfalls begrüßenswert. Zweifelhaft ist aber, ob sie in einem so hohen Ausmaß wie von ihm suggeriert als „Emotionstherapie“ oder als „globale Emotionstechnik“ bezeichnet werden kann. Genauso zweifelhaft ist, ob sie beispielsweise vom Anfang an als ein Dialog des Unbewussten des Patienten mit dem Unbewussten des Analytikers gedacht war. Zumindest befremdet Jensens Unbekümmertheit bei dieser strittigen Frage („Eigentlich redeten bei einer Analyse zwei Unbewusste miteinander.“). Das Bild von der freien Assoziation als einem „kritiklosen, entrationalisierten Gerede“ wird dem hohen Reflexionsgrad, der die Methode als Ganzes in ihrer freudianischen Form auszeichnet, zumindest in dieser Formulierung nicht wirklich gerecht. Wieder kommt hier die Spezifik der Psychoanalyse zu kurz: Auch bei dieser Frage hätte der freudsche Umgang mit Trieben, Affekten und Emotionen als ein differenziertes, wohl durchdachtes, elaboriertes Herangehen im Sinne einer Domestizierung der Natur und einer Umkodierung der Rationalität im Rahmen eines bürgerlich-aufgeklärten, liberalen Projekts genauer analysiert werden können. Die Übertragung wiederum muss idealerweise zwar abgetragen werden, aber nicht rein emotional und maschinell, als Ergebnis der Arbeit der „Übertragungsmaschine“ Psychoanalyse, sondern als Ergebnis der Arbeit des rationalen, aufgeklärten, durch die Psychoanalyse zunehmend zu selbstständigem Denken befähigten und ermächtigten Subjekts. Dass dies in der Praxis nicht immer gelingt, schmälert die Bedeutung der wichtigsten Zielsetzungen der Psychoanalyse keineswegs. Die Emotionalisierung der innerpsychoanalytischen Debatten weist nach Jensen darauf hin, „dass sich die Welt der Psychoanalyse am besten als ein emotionsgeschichtliches Phänomen verstehen“ lasse. Wird aber die Geschichte der Psychoanalyse tatsächlich „weitgehend durch Emotionen gesteuert“? Und ist die Behauptung, die „Übertragungsmaschine Psychoanalyse“ produziere „immer neue Emotionen, ohne die Sicherheit, diese wieder aus der Welt schaffen zu können“, nicht zu weit gegriffen?

Jensen will der Stigmatisierung alternativer Konzepte und Verfahren als Abweichungen von der ,reinen‘ freudschen Lehre entgegenwirken, doch wie weit und undefiniert das von ihm abgedeckte Spektrum ist und als wie wenig spezifisch er die Psychoanalyse zuweilen betrachtet, wird noch einmal klar, als er die Psychoanalyse gegen Ende des Buches in die Nähe der populären Ratgeberliteratur rückt. Wie diese sei die Psychoanalyse eine Form und Methode der Selbstoptimierung und der „Selbsttechnologie“.

Sein letztes Kapitel widmet der Autor dem bisher sehr kontrovers diskutierten Zusammenhang zwischen Politik und Psychoanalyse. Von früheren Kontroversen absehend, arbeitet er mit einem neueren, erweiterten Politikbegriff, nach dem Politik als „Summe all jener Prozesse der Entstehung, Legitimierung, Vermittlung und Erosion von Macht- und Herrschaftsbeziehungen verstanden [wird], die das gesellschaftliche Zusammenleben durchdringen und prägen“. Nach diesem Verständnis ist die Psychoanalyse schon immer politisch gewesen, da das so bestimmte Politische tief in das Selbst hineinrage. Die Psychoanalyse ist für Jensen eine „globale Selbsttechnologie“; ihr Wirkungskreis ist die im Vergleich zur herkömmlichen Politik „subtilere Politik der Selbsttechnologie“. Jensen gelingt es so, die Psychoanalyse auch in unsere Gegenwart ,hinüberzuretten‘, doch geht in dieser technokratisch anmutenden Sicht nicht ein Stück genuiner Psychoanalyse mit ihrem ursprünglich freiheitlichen, kritischen und oft widerständigen Geist verloren?

Uffa Jensen hat ein lesenswertes, auf weiten Strecken spannendes Buch geschrieben, das uns die große Bandbreite und Vielfalt der Psychoanalyse vor Augen führt, das aber viel zu weit greift, im Großen und Ganzen wenig differenziert verfährt und sich nicht selten in Details verliert. So sind die jedem Kapitel vorangehenden „Schlüsseltexte“ Exkurse, die recht wenig zu den Analysen beitragen und die ohnehin etwas lockere, allzu ausufernde Darstellung nur noch weiter strapazieren. Obwohl einige der im Buch gegebenen Antworten zu hinterfragen sind, sind viele der Fragen, die der Autor stellt, jedoch von großem Interesse. Ob die Metapher vom psychoanalytischen Wissen als grenzüberschreitendes „Handelsgut“ zutrifft, sei dahingestellt; die Couch aber (beziehungsweise in Indien der Liegestuhl) bleibt ein Symbol der Psychoanalyse, wobei auch nach Jensens Buch die Frage gestellt werden kann: „Wie hatte die Couch eine solch herausragende Stellung erlangen können?“ Nicht zuletzt ist das Buch mit seinem Impuls, die Geschichte der Psychoanalyse immer neu zu denken und zu schreiben, mit dem Versuch, dabei eine transnationale, globalgeschichtliche Perspektive einzunehmen und das Verhältnis zwischen globalen und lokalen Versionen der Psychoanalyse zu bestimmen, überaus wertvoll.

Titelbild

Uffa Jensen: Wie die Couch nach Kalkutta kam. Eine Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
538 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428658

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