Positionskämpfe um die Zukunft einer jüdischen Nation

Hannah Arendts Kommentare und Analysen in der deutsch-jüdischen Emigrantenzeitschrift „Aufbau“ von 1941 bis 1945

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Mutter aller Kontroversen und Konflikte über die Zukunft Palästinas, über das Schicksal der dort lebenden Juden und Araber war ein Brief des britischen Außenministers Lord Arthur Balfour an Lord Walter Rothschild, einen der prominenteren Zionisten im Vereinigten Königreich. Geschrieben am 2. November 1917, gut einen Monat vor dem Einzug der eigenen Truppen in Jerusalem, ließ er „Sympathie mit den jüdisch-zionistischen Bestrebungen“ erkennen und erklärte, dass die Londoner Regierung die „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ nicht nur mit „Wohlwollen“ betrachte, sondern auch fördern wolle. Zugleich hielt er fest, dass weder die „bürgerlichen und religiösen Rechte der nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina“ noch der „politische Status der Juden in anderen Ländern“  beeinträchtigt werden sollten.

Mehr als eine Absichtserklärung war das nicht: ohne völkerrechtliche Verbindlichkeit und inhaltlich ziemlich unbestimmt. Denn was verbarg sich hinter dem Wort „Heimstätte“, ein bloßes Siedlungsareal oder ein staatliches, womöglich nur ein staatsähnliches Gebilde? Wo genau in Palästina sollte es situiert sein, wie würde man die zerstreuten von Juden bewohnten Gebiete zusammenführen, und vor allem: Was sollte mit der arabischen Bevölkerung geschehen? Geklärt wurden diese Fragen weder durch die Friedensverhandlungen 1919 noch in den Jahren danach. Im Gegenteil, die Lage spitzte sich zu, die Araber wehrten sich gegen die fortgesetzte jüdische Einwanderung, bereits 1921 kam es zu Unruhen, die sich in Abständen wiederholten und sich am Ende des Jahrzehnts erheblich intensivierten. Sie offenbarten, dass die Versprechungen, die während des Krieges die Briten den Arabern wie den Juden gemacht hatten, unerfüllbar waren.  Eine einvernehmliche Lösung, welche die Interessen aller Beteiligten berücksichtigte, rückte in weite Ferne. Die dem Vereinigten Königreich 1920 übertragene Mandatsverwaltung wurde dadurch in eine Zwickmühle manövriert, sah sich konfrontiert mit divergierenden, unvereinbaren Forderungen und Ansprüchen. Ihre wenig entschiedene, keineswegs eindeutige Haltung evozierte Enttäuschung und Widerstand. Einen Ausweg aus den daraus erwachsenen Kalamitäten schien einzig die Trennung von Arabern und Juden zu eröffnen. So jedenfalls argumentierte eine 1936 eingesetzte Kommission unter Lord William Peel. Sie schlug eine Zwei-Staaten-Lösung vor mit zwei Mandatsenklaven (Nazareth und ein Streifen zwischen Jerusalem und Jaffa), die weiterhin unter britischer Kontrolle bleiben sollten.

Von zionistischer Seite wurde vorsichtige Zustimmung, zumindest die Bereitschaft zu Verhandlungen signalisiert, die Araber lehnten den Plan ab, und die Regierung in London rückte wieder von ihm ab. „Von Anfang an“ sei „klar“ gewesen, kommentierte im Juli 1937 Leopold Schwarzschild im „Neuen Tage-Buch“, dass „der eine junge Nationalismus, der arabische, irgendwie mit dem anderen jungen Nationalismus, dem jüdischen, zusammenstoßen müsse.“ Bis in den Krieg hinein blieben die Dinge in der Schwebe. Dabei waren die in den jüdischen Gemeinschaften innerhalb und außerhalb Palästinas propagierten Positionen nicht einheitlich und schon gar nicht kongruent. Den einen Pol der Debatte markierten Auffassungen, die im Milieu des Kulturzionismus im Umlauf waren. Für Martin Buber zum Beispiel war Zionismus „etwas anderes als jüdischer Nationalismus“, eher eine geistige denn eine realpolitische Kraft. Da Palästina ein mehrheitlich arabisches Land sei, müsse die jüdische Siedlungsbewegung die Verständigung suchen, nach friedlichem Ausgleich und gedeihlicher Kooperation streben. Am Ende eines längeren Prozesses könne nur ein bi-nationales Gemeinwesen stehen, in dem beide Volksteile nach Art einer Föderation zusammenleben, mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten. Am anderen Ende des Spektrums standen die Nationalisten und zionistischen Revisionisten. Ihr Ideal war, kurz gesagt, der souveräne jüdische Staat, in dem die Juden als Staatsvolk und die eingesessenen Araber als Minorität figurieren oder im Sinne ethnischer Flurbereinigung vertrieben würden. Dergleichen wurde mit unterschiedlicher Konsequenz und Radikalität propagiert, auch hier gab es – nicht zuletzt im Blick auf die Beziehungen zur britischen Mandatsmacht – Kontroversen und Lagerbildungen, Pragmatiker und Heißsporne.

In diesem nur grob umrissenen, wenig übersichtlichen Feld bewegen sich die Beiträge, die Hannah Arendt für die deutsch-jüdische, in New York erscheinende Wochenschrift Aufbau schrieb. Ohne Kenntnis der komplizierten Verhältnisse in Palästina wie in den zionistischen Organisationen in England und den USA sind diese kaum angemessen zu rezipieren, weswegen die Herausgeberin der Sammlung, die Publizistin Marie Luise Knott, nicht nur ein  instruktives Nachwort, sondern auch eingehende Annotationen beigesteuert hat. Die Aufsätze kommentieren das Geschehen und die darin aufscheinenden Wendungen und Windungen. Es sind Interventionen einer mit der jüdischen Sache ebenso vertrauten wie verbundenen Intellektuellen: kritische Analysen, teils der jeweils aktuellen Situation verhaftet, teils über sie hinausgreifend. Den Auftakt macht ein Offener Brief vom 24. Oktober 1941, der den Chefredakteur des Aufbau, Manfred George, animierte, Hannah Arendt um regelmäßige Mitarbeit zu bitten. Adressat war der französische Schriftsteller Jules Romains, der als Präsident des PEN-Klubs von deutsch-jüdischen Emigranten wegen seiner Unterstützung der Appeasement-Politik angegriffen worden war und sich daraufhin beklagt hatte, dass  keiner der vielen Juden, denen er geholfen habe, ihm beigesprungen sei. Arendt ließ das nicht gelten und wendete die Dinge sogleich ins Prinzipielle. „Gibt es für uns“, für die Juden, fragte sie, „wirklich nur die Alternative zwischen übelwollenden Feinden und leutseligen Freunden?“ Und weiter: „Gibt es für uns nirgends echte Verbündete, die weder mitleidig noch bestochen verstehen, dass wir nur das erste Volk waren, dem Hitler den Krieg angesagt hat?“ Schließlich stünden „Freiheit“ und „Ehre“ der Juden genau so auf dem Spiel wie die „Freiheit und die Ehre“ der Franzosen. Das impliziere unabdingbar das Recht auf Kritik, die in eigenen Interessen und Erfahrungen gründe, selbst dann, wenn sie sich im Nachhinein als irrig herausstelle.

Damit war bereits am Anfang eine Maxime formuliert, die sich, mal ausgesprochen mal unausgesprochen, durch die gesamte Artikelfolge zieht. Die gesellschaftlichen „Paria“, notiert Arendt im November 1941, seien über lange Zeiträume hinweg die Juden gewesen. Einen Ausweg habe die Möglichkeit geboten, sich  zum „Parvenu“ empor zu schwingen, in den Status von besser situierten Bürgern hinüber zu wechseln, sich der Wohltätigkeit und den milden Stiftungen zu verschreiben, die sich um die ärmeren Glaubensgenossen kümmerten, um die Zurückbleibenden und Verlierer der modernen Welt. „Für die Geschichte des Volkes“ sei im 19. Jahrhundert der Parvenu, der Aufsteiger und Angepasste, „entscheidender“ geworden als der Paria, Mayer Amschel Rothschild „repräsentativer“ als Heinrich Heine. „In der Maske des Philanthropen“ habe jener das „ganze Volk“ vergiftet und ihm „seine Ideale“ aufgezwungen: „Der Philanthrop machte aus den Armen einen Schnorrer und aus dem Paria einen zukünftigen Parvenu.“ Durch die Politik der Nationalsozialisten habe sich die Entwicklung allerdings umgekehrt, sei die „Figur des Paria“ wieder in den „Vordergrund“ gerückt. „Alle Parvenus“ nämlich seien zu Parias abgesunken – eine Wende, die Arendt als irreversibel einstufte, in gleichem Atemzug jedoch als neuen Möglichkeitsraum kennzeichnete. Denn: „Noch nie in der Geschichte der letzten hundert Jahre hat das jüdische Volk eine so große Chance gehabt, frei zu werden und aufzusteigen in die Reihe der Nationen der Menschheit.“ Da nunmehr „identisch mit dem Freiheitskampf Europas“, sei das jüdische Schicksal „zum ersten Mal“ kein „Sonderschicksal“ mehr.

Die Konsequenz daraus und immer wieder, freilich vergeblich als „ceterum censeo“ vorgebracht, lautete: Aufstellung einer jüdischen Armee zur Verteidigung Palästinas. Dies sei, war Arendt überzeugt, „ein Teil des Kampfes um die Freiheit des jüdischen Volkes“, zugleich das einzig wirksame Mittel gegen den Antisemitismus. Das sei keinesfalls Utopie, aber utopisch sei es zu glauben, die Juden „könnten in irgendeiner Weise von der Niederlage Hitlers profitieren, wenn diese Niederlage nicht auch“ ihnen „verdankt“ sei. Freiheit sei weder ein „Geschenkartikel“ noch eine „Prämie für ausgestandene Leiden.“ Das freilich hieß, nicht in fremde Armeen einzutreten, nicht in die britische und nicht in die amerikanische. Die Juden müssten sich unter eigener Flagge, der weiß blauen, am Krieg beteiligen, wenn sie mitbestimmen wollten über die Neuordnung der Welt danach. Am Tisch der Friedensverhandlungen würden nur diejenigen Völker sitzen, die ihren Beitrag mit der Waffe in der Hand geleistet hätten. Das Ziel dabei sei nicht, wie Arendt formulierte, „Naturalisation“, also nicht Assimilation, mit der die „eigene Sache“ in der Englands oder Amerikas verschwinde, sondern die Anerkennung als vollgültige, gleichberechtigte Nation. Dies lasse sich nicht durch „Notabeln-Petitionen“ oder „Wohltätigkeitsvereine“ erreichen, vielmehr bedürfe es dazu der Mobilisierung der Massen. „Die Existenz eines Volkes“, so das gegen herkömmliche jüdische Vertretungsorgane gerichtete Fazit, sei „eine zu ernste Sache, als dass man sie reichen Männern überlassen könnte.“

In welcher Gestalt, vor allem an welchem Ort sollte sich die jüdische Nation konstituieren? In Palästina, gewiss, oder anders gesagt: auch in Palästina. Denn was sollte mit den Juden in den anderen Regionen der Welt werden? Wie sollte sich deren Zugehörigkeit dokumentieren, wie sich auswirken? Die Politik der Assimilation hatte sich mit der Erfahrung des NS-Regimes erledigt. Was aber dann? Völlig eindeutig oder gar konkret ist Hannah Arendt nicht. Klar für sie war, dass eine „Gesamtpolitik Palästinas von einer Gesamtpolitik des europäischen Judentums aus zu leiten“ sei und nicht umgekehrt die „Palästinapolitik die gesamte jüdische Politik bestimmen“ dürfe. Denn eine „Lösung der Judenfrage“ werde es in einem Land, selbst in Palästina, nicht geben. Dabei stehe das Recht, dort zu sein, nicht in Frage, denn das sei identisch mit dem „Recht eines jeden Menschen auf die Früchte seiner Arbeit“. Schließlich hätten „die Araber 1500 Jahre Zeit gehabt, aus einer Steinwüste ein fruchtbares Land zu machen“.

Zu erinnern sei jedoch daran, dass nach 1919 in den mitteleuropäischen Staaten der Versuch gescheitert sei, nationale Konflikte durch Gewährung von Minderheitenrechten zu entschärfen. Ein wie immer gearteter Bevölkerungstransfer benötige zur Durchführung „faschistische Organisationen“ und scheide daher als Option aus. Für die jüdische Heimstätte in Palästina bleibe als realistische Möglichkeit nur eine „Föderation“, die sich „aus unterschiedlichen, klar erkennbaren nationalen oder anderen politischen Elementen“ zusammensetze und die wiederum „gemeinsam den Staat“ bildeten. Eingebettet in das britische Commonwealth, wären zum Beispiel Juden und Araber in Palästina „gleichberechtigte Mitglieder eines größeren Systems, das die nationalen Interessen beider“ absichere. Erweitern ließe sich dies durch „eine Art Mittelmeerföderation“. Dies hätte den Vorteil, dass man den Juden „ihre Würde und ihre Stellung unter den Völkern des Mittelmeers“ wiedergebe. Und wenn man den Kreis noch weiter ziehen wolle, sei eine „Föderation europäischer Nationen“ denkbar. Die Juden würden dadurch als Teil der „europäischen Völkergemeinschaft“ anerkannt und die Araber „in Verbindung“ mit ihr gebracht. Die „künstliche Isolation des jüdischen und palästinensischen Problems“ wäre durch Europäisierung aufgehoben.

Wir wissen, dass es anders kam, auch dass die oben zitierte Bemerkung Leopold Schwarzschilds aus dem Tage-Buch die Dinge eher reflektierte als Hannah Arendts am Schreibtisch ersonnene Konstruktionen, welche die machtpolitischen Gegebenheiten von damals nicht trafen, nebenbei: die von heute ebenfalls nicht treffen. Aber manchmal, gerade in unruhigen Zeiten wie den unsrigen, ist es nicht ohne Reiz, über Alternativen nachzudenken, dabei nicht zu fragen, was wäre gewesen wenn, sondern zu fragen, was hätte sein können oder vielleicht anders und gegenwartsnäher: Was könnte sein, wenn …

Titelbild

Hannah Arendt: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher. Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung »Aufbau« 1941-1945.
Piper Verlag, München 2019.
252 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783492315098

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