Liebe in Zeiten der sexuellen Befreiung

Chip Cheek liefert in seinem Debüt ein ebenso elegantes wie intensives Psychogramm einer Liebe in den 1950er Jahren

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1976 geborene US-Amerikaner Chip Cheek siedelt sein Romandebüt in den späten 1950er Jahren an, als die konservative und auf Anstand und Sitte gepolte Kruste über dem gesellschaftlichen Leben langsam aufzubrechen beginnt und sich Freiheit und Freizügigkeit Bahn brechen. Im Zentrum des Romans steht das blutjunge Ehepaar Effie und Henry. Sie sind im tiefsten Georgia aufgewachsen und verbringen ihre Flitterwochen im nachsaisonalen Cape May. Hier kommt es zum ersten Liebesakt und sie lernen sich im „urbildlichen Sinne“ kennen. Sie entdecken die Lust und die Leidenschaft und gehen schließlich sogar nach einigen Drinks nachts nackt über die New Hampton Avenue: „Henry hatte sich noch nie so befreit gefühlt. Alles war seltsam und verzaubert und wie aus Respekt vor etwas Heiligem redeten sie beide kein Wort.“

In Cape May sind die beiden, die vorher noch nie richtig alleine zusammen waren, ganz auf sich zurück geworfen und beginnen sich in dem um diese Jahreszeit fast ausgestorbenen und öden Ort bald zu langweilen. Doch dann treffen Effie und Henry bei einem Spaziergang in einem Nachbarhaus auf Clara und werden zu einer rauschenden Party mit glamourösen New Yorker Geschäftsleuten, Künstlern und Schriftstellern eingeladen. Auch die Tage danach verbringen sie mit Clara, ihrem Liebhaber Max und dessen Stiefschwester Adna: „Die Tage verflogen wie im Rausch. Sie waren längst irgendeinem Zauber verfallen. Sie tranken den ganzen Tag.“ In der Gruppe entwickelt sich ein erotisches Knistern und Henry beginnt eine Affäre mit Adna, mit der er sich nachts in einem verlassenen Ferienhaus trifft.

Chip Cheek erzählt seine Geschichte in einer eleganten und behutsamen, ja fast zärtlichen Prosa. Er führt den Leser ganz nahe heran an das frisch verliebte Pärchen Effie und Henry und lässt ihn ihr sexuelles Coming Out und die schwelenden Konflikte mit der herrschenden Moral und Religion intensiv miterleben. Sublime dramatische Spannung entsteht dann durch die erotischen Verwicklungen und Verwerfungen mit der New Yorker Clique, für die Geld eine Selbstverständlichkeit ist und moralische Grenzen längst aufgehoben sind. Am Schluss kommt es zu einem doppelten Eklat und Henry und Effie müssen durch ein Labyrinth aus widerstreitenden Emotionen, Schuldzuweisungen und Schuldgefühlen einen Weg in die Zukunft finden.

Tage in Cape May ist kein spektakulärer, aber ein atmosphärisch dichter und eindringlicher Roman über die Liebe in Zeiten der sexuellen Befreiung und Grenzenlosigkeit, der auch ein Spiegel für die heutige Zeit ist.

Titelbild

Chip Cheek: Tage in Cape May. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Blessing Verlag, München 2019.
336 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783896676375

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