Einblicke in Alexander von Humboldts Zeichenwerkstatt

Ein opulenter Band mit bisher unveröffentlichten Zeichnungen aus den Archiven

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alexander von Humboldt (1769–1859) war als Geologe, Geograf und Botaniker der wohl angesehenste Wissenschaftler seiner Zeit. Mit seinen fachübergreifenden und ganzheitlichen Forschungen verband er die Ideen des klassischen Idealismus mit der modernen Naturwissenschaft. Das auf seinen jahrelangen Forschungsreisen gesammelte botanische, geologische und mineralogische Material wertete er in seinem 36-bändigen Werk Voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent (1805–1834, dt. Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents) aus.

Das Werk des Forschungsreisenden Humboldt bestand jedoch nicht nur aus Sammlungsobjekten und umfangreichen Texten, sondern auch aus zahlreichen Bildern und Zeichnungen, die seine Expeditionen anschaulich machten sowie seine Veröffentlichungen illustrierten. Das Zeichnen hatte Humboldt früh erlernt und dann lebenslang praktiziert. Bereits als junger Wissenschaftler fertigte er naturkundliche und technologische Skizzen an. So finden sich in seinen Büchern und Aufsätzen über 1500 Abbildungen, die erst 2014 als Graphisches Gesamtwerk von Oliver Lubrich zusammengestellt und herausgegeben wurden. Aber auch in seinen Reisetagebüchern finden sich fast 450 grafische Darstellungen. Humboldt nutzte das Bildmedium, um seine empirischen und experimentellen Ergebnisse zu vermitteln.

In seinem Nachlass befand sich ein weiterer Fundus von bisher unveröffentlichten Zeichnungen, der nun anlässlich seines 250. Geburtstages erstmals in einer umfangreichen Ausgabe vorgelegt wird. Zunächst beleuchten die Herausgeber den Nachlass historisch näher: er wird in der Staatsbibliothek zu Berlin und (kriegsbedingt) in der Bibliothek der Jagiellonen-Universität in Krakau aufbewahrt. Hier fanden sich unbekannte Zeichnungen, teilweise Entwürfe und Vorarbeiten. Der Fundus umfasst den Zeitraum von den 1790er Jahren bis ins Jahr 1858 – also wenige Monate vor Humboldts Tod – und damit alle sieben Jahrzehnte seines wissenschaftlichen Schaffens. Dieses Spektrum bietet nicht nur die Möglichkeit, sein künstlerisches Werk zu entdecken, er gewährt auch Einblicke in seine Arbeitsweise und sein Denken. Dieser Bereich seines Schaffens, der bisher vergleichsweise unterbelichtet blieb, macht deutlich, dass Humboldt nicht nur Forscher, Wissenschaftler und Autor, sondern auch Zeichner und Grafiker war.

Im Kapitel „Anthropologie und Archäologie“ der umfangreichen Einleitung wird darauf hingewiesen, dass Humboldt als Naturforscher, aber auch als Kulturwissenschaftler zeichnete. So dokumentierte er die indigene Zivilisation, die Ruinen ihrer Gebäude und Kultstätten, die Brückenkonstruktionen der Inka oder die Pyramiden der Choluba in Mexiko. Seine Bildproduktion wird ebenfalls kurz analysiert. Meist skizzierte er direkt vor Ort oder leicht zeitversetzt, aber auch in Museen fertigte er Zeichnungen von Ausstellungsobjekten an oder kopierte aus Büchern und fremden Manuskripten. Dabei verwendete Humboldt Papiersorten, neue Blätter, ebenso wie gebrauchtes Material. Manche Skizzen dienten später als Vorlage für Stiche; häufig benutzte er jedoch deren Rückseiten für Notizen. In seinen „Schriftbildern“ sind die beiden Darstellungsmodi eng miteinander verflochten; vor allem in seinen Reisetagebüchern sind Geschriebenes und Gezeichnetes kaum voneinander zu trennen. Die Zeichnung war für Humboldt aber nicht nur eine bildhafte Darstellung, er nutzte das Medium auch zur Erkenntnisgewinnung, wozu er völlig neue grafische Darstellungsformen (zum Beispiel klimageographische Diagramme) entwickelte.

Im Bildteil der Publikation – immerhin ca. 350 Seiten – werden schließlich Humboldts Zeichnungen aus dem Nachlass, soweit das möglich ist, chronologisch zusammengestellt. Da die Zeichnungen unterschiedlichen Wissensordnungen angehören, hat man sie in acht thematische Kapitel unterteilt. Zum Teil werden sie vergrößert oder verkleinert wiedergegeben, wobei es Angaben zur Originalgröße gibt. Jedes Bildmotiv wird ausführlich erläutert; die Kommentare orientieren sich dabei an den Kategorien Titel, Inhalt, Format und Material, Ort und Datierung sowie Paratexte und Signatur. Außerdem liefern sie biografische, historische und wissenschaftsgeschichtliche Hintergrundinformationen.

Der Band ist die erste Bestandsaufnahme der Humboldt-Archive und will zur weiteren Forschung einladen. Er zeigt Humboldts Interesse an der ganzen Welt. Da er lebenslang international tätig war, ist sein Forschungsmaterial auch weit verstreut – die Zukunft wird wohl noch manche Überraschung ans Tageslicht bringen.

Titelbild

Alexander von Humboldt: Das zeichnerische Werk.
Herausgegeben von Dominik Erdmann und Oliver Lubrich.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2019.
448 Seiten, 100,00 EUR.
ISBN-13: 9783534270477

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