Gottesdienst ohne Besucher, Klassengräber und die Begierde zu einer 87-jährigen Casinobesucherin mit rot lackierten Fingernägeln

Der Erzählband „So viele Hähne, so nah beim Haus“ bildet ein humorvoll verspieltes Potpourri aus dem literarischen Kosmos von Maarten ’t Hart

Von Christina BickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Bickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So viele Hähne, so nah beim Haus – ein Buchtitel, der eher nichtssagend eine ländliche Szenerie vor Augen führt. Auch der blaugraue Einband und die nostalgisch-bieder wirkende Abbildung eines Bäckers tragen wenig zur Neugierde auf das Werk bei und evozieren eventuell die Frage: Was hat der Bäcker mit den Hühnern zu tun? „Nichts!“, so die Antwort der Leserinnen und Leser. Der Titel des niederländischen Originals lautet übersetzt „Die Mutter von Ikabod“. Immerhin verweist dieser mit der Figur aus dem alttestamentlichen Samuelbuch auf die zahlreichen biblischen Bezüge, die die übrigen Werke des Autors durchziehen, sowie auf einfühlsam und vielschichtig thematisierte Eltern-Sohn-Beziehungen wie in Gott fährt Fahrrad zum Vater und in Magdalena zur Mutter.

Wer den berühmten niederländischen Autor und realistischen Erzähler ’t Hart noch nicht gelesen hat und aufgrund Titel und Covergestaltung idyllisch-verklärte Geschichten über das Landleben erwartet, liegt falsch und wird von der Lektüre enttäuscht werden. Zum Glück gilt auch hier: „Don‘t judge a book by its cover!“ Denn der Erzählband bietet einen abwechslungsreichen Spaziergang, mitunter auch einen rasanten Lauf, durch die geradlinig-realistische Erzählkunst des Autors und das, was dessen Werk auszeichnet: (Schwarzer) Humor des bissigen und religionskritischen, im streng reformierten Milieu sozialisierten Schriftstellers, die exakte Beobachtungsweise und Liebe zur Natur des Verhaltensbiologen und Hobbygärtners, die außerordentliche Kenntnis des Organisten von klassischer Musik, Zitate aus der Weltliteratur des bibliophilen Kritikers und Genusslesers.

Die titelgebende, in ihren Wendungen überaus originelle Erzählung So viele Hähne, so nah beim Haus handelt gerade nicht von einer friedlichen Idylle und ländlichen Klischees. Vielmehr spielt und durchbricht der Autor die gängige Erwartungshaltung des Lesers, indem er Verbrechen und Rache als zentrales Motiv der Erzählung wählt: Auf die Frage des Ich-Erzählers, wie die Hähne, fast so zahlreich wie die Jünger Jesu, in die Nähe seines Hauses gekommen sind, liefert die Geschichte eine originelle Antwort: Ein Mann, dessen Frau überfallen wurde, hat die Vögel an dem Jugendgefängnis – ebenfalls nicht weit vom Haus entfernt – ausgesetzt, um die Insassen durch Schlafentzug doppelt zu strafen.

Ebenso täuscht der friedliche Anblick des Bäckers auf dem Cover über den Buchinhalt. In Die Stieftöchter von Stoof versucht der ungehobelte Bäckersgeselle die Stieftochter des Bäckers, Gezina, zu vergewaltigen, was durch das beherzte Eingreifen des Ich-Erzählers mit dem Brotschieber vereitelt werden konnte. Humoristische Brechungen und eine komische Wendung bekommt die Erzählung dadurch, dass der Täter Cor die Vergewaltigung leugnet und den Ich-Erzähler, der ihn als einziger erkannt hat, auffordert, diese Sünde als Gelegenheit der wahren Christusnachfolge selbst auf sich zu nehmen. Derartig religiös-parodistische Brechungen durch ein wörtliches Bibelverständnis durchziehen das gesamte Werk des Autors und markieren dessen Umgang mit Religion, insbesondere mit dem niederländisch-reformierten Glauben, in dem er aufwuchs und von dem er sich in seiner Jugendzeit – hauptsächlich aufgrund von Naivität und fehlender Kritik – abgewendet hat.

Prägend für die Literatur ist die Religionskritik des Autors. In der Erzählung Die Mutter von Ikabod kritisiert der Ich-Erzähler ein Kirchenlied, in dem davon die Rede ist, dass in Christus keine Himmelsrichtungen existieren, und sensibilisiert somit dafür, dass historische Sprache und Religion Deutungen bedarf, um heutzutage verständlich zu sein. Außerdem spielt der Autor humorvoll mit gängigen Klischees wie zum Beispiel damit, dass Pastoren hauptsächlich strenge, konservative alte Herren seien, die er schließlich humorvoll destruiert. Außerdem hält er der Kirche den Spiegel vor, wenn er einfühlsam-ironisch aus Perspektive der Orgelbank einen Gottesdienst in der Urlaubszeit ohne BesucherInnen beschreibt. 

Nicht ohne Selbstironie gibt der Ich-Erzähler in der selben Erzählung zu, einen Witz aus dem Erzählband Das Pferd, das den Bussard jagte recycelt zu haben. Maarten ’t Hart ist ein großer Kopierer seiner selbst und seine Werke weisen immer die gleichen Grundstrukturen in neuen Variationen auf. Doch das wirkt sich auf die Lektüre keinesfalls negativ und verflachend aus. Vielmehr laden die Bezüge und Motivparallelen den kundigen Leser zu einem vergnüglichen Entdeckungsspiel ein, was auch die ein oder andere Überraschung parat hält. So schildert zum Beispiel der Ich-Erzähler, Sohn eines Grabmachers, in der überaus schwarzhumorigen Erzählung Die Knochengrube von einem Vortrag auf einer Londoner Bestattertagung über Klassengräber und Knochengruben in den Niederlanden sowie über eine möglichst umweltfreundliche Beerdigungspraxis der Zukunft. Im Œu­v­re des Niederländers kommt es selten vor, dass er sich über die Grenzen seiner Heimat hinauswagt, denn er inszeniert sich literarisch als leidenschaftlicher Daheimbleiber, was insbesondere in dem Erzählband Dienstreizen van een thuisblijver (dt. Dienstreisen eines Daheimbleibers) zum Ausdruck kommt – gleichzeitig handelt es sich aber bei dem Vortrag in London in der Tat auch um eine Dienstreise. Auch das immer wiederkehrende Spiele(r)motiv taucht in der Erzählung Im Kasino des neuen Bandes auf. Die 87-jährige Eleonoor, faltig und sehr schön gekleidet, genießt im Alter noch das Vergnügen des Glücksspiels. Es kommt zur Begegnung zwischen ihr und dem Ich-Erzähler, sie verliebt sich in ihn und lässt sich, um ihn zu verführen, rote, fluoreszierende Kunstnägel aufkleben, denn der über zehn Jahre Jüngere hat ihr von seinem Fetisch für lange Fingernägel erzählt. Es ist weniger das Glückspiel um Geld, das den Reiz der Geschichte ausmacht, als vielmehr das Spiel mit gängigen Klischees einer Femme fatale und bizarren Grenzüberschreitungen.

Besonders berührend greift die Erzählung Wie Gott erschien in Warmond die Frage nach dem Sinn des Leidens in der Welt auf: Ein kleiner Junge besucht Gott in Warmond und bittet ihn, seine unheilbar kranke Mutter wieder gesund zu machen. Doch Gott wird als „friesischer Riese“ enttarnt und die Quintessenz des Erzählers lautet: Leben heißt leiden. Mit Das Wüten der ganzen Welt, Die Netzflickerin und Die Sonnenuhr hat Maarten ’t Hart auch Kriminalliteratur verfasst – der erstgenannte Roman wurde mit dem Gouden stroup der Niederlande und dem schwedischen Krimipreis geehrt. In der Erzählung Die Ladentür geht es um einen kleinen Raubüberfall, der den Ich-Erzähler in eine missliche Lage bringt und überraschend endet.

So viele Hähne, so nah beim Haus bietet, auch wenn der Titel dies nicht vermuten lässt, mehr als bäuerlich-ländliche Geschichten. Das Buch stellt das Kondensat des schriftstellerischen Werkes des niederländischen Autors dar, wodurch es gelingt, einen breiten Eindruck vom Stil und den Themen des Autors zu bekommen. Die sorgfältige Übersetzung von Gregor Seferens bewegt sich sehr dicht am niederländischen Original und trägt zur schnellen und guten Verortung in der niederländischen Gedankenwelt bei. Langweilig dürfte es bei der Lektüre von Maarten ’t Harts spannenden, einfühlsamen, bisweilen auch skurril-komischen und humorvoll-bissigen Erzählungen nicht werden. Kritisch ist jedoch anzumerken, dass sich in der deutschen Ausgabe ebenso wenig wie im niederländischen Original Hinweise dazu finden, von wann genau die Erzählungen des seit Anfang der 1970er Jahre schreibenden Autors sind und ob es bereits Veröffentlichungen vor diesem Band gegeben hat. Außerdem wäre in der gebundenen Ausgabe zur schnellen Orientierung ein Inhaltsverzeichnis praktisch gewesen.

Titelbild

Maarten 't Hart: So viele Hähne, so nah beim Haus. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Gregor Seferens.
Piper Verlag, München 2019.
283 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783492059138

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