Nichts beweisen, aber vieles zeigen

In seinem neuen Erzählband feiert Jochen Schimmang seine Art der Weltfrömmigkeit und bleibt dabei sich und seinem Werk treu

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im August 1969, also exakt vor einem halben Jahrhundert, starb in den Walliser Bergen Theodor W. Adorno. An seinem Sterbeort erinnert sich, wie Andreas Lesti in der FAS vom 4.8.2019 erklärt, bis auf die betagte Seniorchefin des Zermatter Hotels Bristol niemand mehr an den Philosophen, der uns immerhin den Hammer-Aphorismus „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ hinterlassen hat. Jochen Schimmang hingegen fühlt sich Friedrich Hölderlins Diktum verpflichtet, wonach die Dichter das Bleibende stiften und dabei der Erinnerung lauschen. 1948 in Northeim (Niedersachsen) geboren, kann er nun seinerseits bereits auf ein recht umfangreiches schriftstellerisches Schaffen zurückblicken, in dem er gegen das Vergessen angeschrieben und dem Verdrängten und latent Wirkenden eine Stimme gegeben hat. Obwohl sich Schimmang gerne in der Position eines „Zaungastes“ sieht, ist er ein wacher Zeitgenosse, der die gesellschaftlichen Umbrüche und Veränderungen sorgsam registriert und der das aufzeichnet, was er erlebt hat. Insofern möchte man sein Schreiben autobiografisch nennen, wenn man nicht, wie Peter Hamm, die rücksichtslose Selbstentblößung überhaupt zum Wesensmerkmal der Literatur zählen will. Dabei schlüpft Schimmangs Erzähler-Ich gerne in die Rolle des zu spät Gekommenen, was den melancholischen Grundton oder, wie der Autor es selbst nennt, die „verklärende Sepiatönung“ seiner Texte bewirkt.

In der Erzählung Adorno wohnt hier nicht mehr, die seinem jüngsten Erzählband den Titel gibt, macht er sich auf die Suche nach dem Denker in dessen Wohnort Frankfurt. Die Erinnerungsorte sind allerdings zunächst rührend banal, wie etwa  die Gedenktafel an Adornos Wohnhaus, wo eine Bewohnerin erklärt: „Die Adornos haben im zweiten Stock gewohnt, nach hinten raus“, oder die sogenannte Adorno-Ampel, die den Weg über die Senckenberganlage vom Institut für Sozialforschung zur Universität sicherer macht und für die Adorno „seit den frühen Sechzigerjahren gekämpft hatte.“ Zugleich spinnt Schimmang um den Philosophen der Negativität herum ein fein gewobenes Netz von persönlichen Erinnerungen an die Mainmetropole. So schildert er die Umstände seines ersten Besuchs im inzwischen abgerissenen Suhrkamp-Haus in der Lindenstraße, die distanzierte Bekanntschaft mit seinem Verleger SiegfriedUnseld und die enge Verbindung zu seinem Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe, der im Gegensatz zu allen anderen Literaturkollegen in der Erzählung nur unter dem Akronym Hums auftritt.

Ausgehend von diesem ehemaligen Kraftzentrum der deutschen Gegenwartsliteratur streift er in literarischen Anspielungen und Zitaten durch die Buchmessestadt, beobachtet Paare, Passanten, genießt, während Frankfurter Bürger wie Marie Luise Kaschnitz, Bodo Kirchhoff, Wilhelm Genazino vorüber flanieren, die Kirschen der schriftstellerischen Freiheit und gerne auch die Reminiszenzen an das eigene Erzählwerk. Es scheint, als wolle Schimmang in seiner Erinnerungsseligkeit, die bisweilen etwas genrehaft gerät, noch einmal einen kulturellen Stadtplan entwerfen, die geheimnisvollen Koinzidenzien zwischen der neu entstandenen Altstadt und Amorbach,  wo der kleine „Teddie“ Adorno seine Sommerferien verbrachte, aufdecken, bevor all dies endgültig den veränderten Zeitläuften zum Opfer fallen wird. Ehernen Bestand hat jedoch die Freundschaft des Erzählers mit dem one-book Autor Wolfgang Utschick, der nun in fortgeschrittenem Alter sein Leben als Security-Mann bestreitet. Die Begegnung mit ihm nach annähernd vierzig Jahren bildet den eigentlichen Rahmen der umfangreichen Erzählung. Die Freunde werfen sich Erinnerungsbälle an bewegte Jahrzehnte zu und diskutieren in einer an Tonio Kröger gemahnenden Weise über das Gelingen einer Schriftstellerexistenz und den Gegensatz zum „natürlichen Leben“, eine weitere Variante des Themas vom richtigen Leben im falschen.

Als Bekenntnis-„Exzess“ hat Willi Winkler jüngst in der SZ die Tagebücher von Michael Rutschky bezeichnet. Die Art allerdings, wie sich Schimmang an den 2018 verstorbenen Kollegen in dem wohl fiktiven Interview Herr Rutschky oder Der Optimismus erinnert, kommt weniger schrill daher. Die Differenzen zwischen den beiden so unterschiedlichen Männern treten dennoch deutlich hervor. Das Apodiktische des Vorzeige-Intellektuellen Rutschky ist Schimmang, der das Schwebende liebt, völlig fremd: „Irgendwann sagte ich Herrn Rutschky wieder einmal, die Welt sei doch in Ordnung – das habe ich im Laufe unserer Bekanntschaft öfter getan –, und er lächelte und glaubte mir offensichtlich nicht, dass ich das wirklich meinte, und damit hatte er recht.“ So entpuppt sich das Zwiegespräch als eine Standortbestimmung auf einer soliden Erfahrungsbasis.

Schimmangs lebenslanges Thema, das wird in den beiden Erzählungen deutlich, die den Band einleiten und beenden, ihn gleichsam umschließen, ist das Verschwinden, das sich Verlieren beziehungsweise der Augenblick des Übergangs von einem Zustand in einen unbekannten anderen, die typisch romantische Schwellensituation. „Die Augen einen Spaltweit geöffnet, vorsichtig tastender Blick, der zuerst kaum mehr erfasst als eine unbestimmte Morgendämmerung.“ So beginnt die Eingangserzählung Gutermuth und Rothermund, und ein wenig weiter heißt es: „Ich blieb also einen kurzen Moment auf der Schwelle zwischen innen und außen, bevor ich auf den Bürgersteig trat und mich ein böiger Windstoß endgültig in den Tag zerrte.“ Beschrieben wird die Begegnung mit einem Maler, der gleichsam im eigenen Bild verschwindet. Auf eben diesen stößt in der vorletzten Erzählung die Protagonistin „Valerie Voss, Abwesenheitspflegerin“ bei ihrer beruflichen Suche nach Verschollenen. Dass ganz nebenbei auch ihr Geliebter spurlos verschwindet, gehört zum Thrill der Geschichte und erzeugt den sanften Sog, der in der brillanten Prosa des Stilisten Schimmang auch das Alltägliche zum Besonderen werden lässt.

Titelbild

Jochen Schimmang: Adorno wohnt hier nicht mehr. Erzählungen.
Edition Nautilus, Hamburg 2019.
207 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783960542001

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