Die Stadt und der Friseur
Georg Hermanns tragischer Berlin-Roman „Kubinke“ ist neu zu entdecken
Von Behrang Samsami
Berlin um 1900: Die Hauptstadt des Kaiserreichs boomt. Ganze Stadtteile entstehen. Häuser schießen in die Höhe. Haupteingang für die „Herrschaften“, Nebeneingang für die „kleinen Leute“. Zu den „Kleinen“ gehört auch Emil Kubinke, Friseurgehilfe und Hauptfigur des gleichnamigen Romans von Georg Hermann (1871–1943), der, 1910 erstmals erschienen, neu zu entdecken ist.
Die Lektüre lohnt. Hermann hat mit Kubinke eine Figur geschaffen, deren Wesen und tragische Entwicklung in der arbeitsreichen und vergnügungssüchtigen Großstadt im Leser noch länger nachhallt und an einen Vorläufer des Franz Biberkopf denken lässt, des Protagonisten in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929). Und die Lektüre lohnt auch, weil Hermann sein Handwerk beherrscht. Er kann erzählen und tut es mit Lust. Sein auktorialer Erzähler, ein genauer Beobachter mit Empathie, macht aber von Anfang an deutlich, dass der „Held“ gnadenlos untergehen wird. Es sind daher im Grunde zwei Protagonisten, die in Hermanns Roman im Mittelpunkt stehen: Die Stadt und der Friseur. Der „brave“ Kubinke tritt genau am 1. April 1908 seine Stellung bei Meister Ziehdorn an. Dieser bringt geschäftig sein Haaröl „Ziehdornin“ an den (haarlosen) Mann und unternimmt gern längere Mahngänge zu Kundinnen, um Rechnungen einzukassieren. Sein modern eingerichtetes Geschäft befindet sich in einem eleganten Neubau im Westen Berlins:
An der einen Ecke kam ein Haus empor, dann an der anderen Ecke. Halb fertig ließ man es stehen. Prozesse wurden geführt, Gerichte behelligt, Urkunden geschrieben, Geld geliehen, Geld gewonnen, Geld verloren. Und wo noch vor kurzem bunte Knabenkräuter im Maiwind ihre Blüten gewiegt hatten, da trieb jetzt nur noch die Bauspekulation und der Häuserschwindel seine Blüten. Pferde wurden geschunden; Arbeiter um ihren Lohn gebracht; Handwerker betrogen. Die Häuser gingen von Hand zu Hand, wechselten dreimal den Besitzer, ehe sie fertig wurden.
Berlin ist ein hartes Pflaster. Doch der „kleine zierliche Emil Kubinke, sehnsüchtig und verletzlich“ und aus der Provinz kommend, hofft wie viele andere auch auf eine bessere Zukunft. Über dem Friseurgeschäft und unter dem Dach wohnt er in einem Zimmer mit dem Kollegen Tesch, der sich darauf spezialisiert hat, in der Freizeit jungen Witwen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Überhaupt wirkt das Haus, in dem Kubinke wohnt und arbeitet, wie ein Spiegel der damaligen Gesellschaft. Kurz vor ihm sind die Löwenbergs eingezogen. Ehemann Max, 36 Jahre alt und leidenschaftlicher Zylinderträger, arbeitet, während sich Ehefrau Betty in der Wohnung – viel Jugendstil – langweilt. Nicht zu vergessen die Eheleute Piesecke, die das Haus in Schuss halten, ihre Nachbarn beäugen und dafür sorgen, dass jeder im Haus den ihm zustehenden Ein- und Ausgang nimmt.
Von Ziehdorn erhält Kubinke den Auftrag, die „Kundschaft außer dem Hause“ zu bedienen. Zu denen gehört auch Max Löwenberg. Jeden Morgen läuft Kubinke zu ihm hoch. Mit der Zeit lernen wir diverse Figuren kennen. Der Erzähler konzentriert sich dabei vor allem auf die „kleinen Leute“, die Angestellten, ihre Gedanken, Sorgen und teilweise böse Absichten, die sich in starkem Berlinerisch äußern. Kubinke, „dem andern Geschlecht gegenüber noch sehr schüchtern“, verguckt sich derweil in drei Frauen – Hedwig, Emma und Pauline –, die als „Mädchen für alles“ im Gartenhaus in Hofwohnungen respektive im Vorderhaus dienen. Für den Erzähler gehören sie dem Typus des „süßen Mädels“ an, das sich hier jedoch nur für seine Standesgenossen interessiert:
Durch all das Getümmel wutschen die Dienstmädchen mit Körben, Netzen und Taschen, etwelche mit Häubchen, doch meist barhaupt mit ihren vollen Friseuren. Alle in Waschkleidern, mit bloßen Armen und den Hals frei. Blonde, braune, schwarze und rote; kleine trendelnde, rund wie Borsdorfer Äpfel, und andere breit, groß, kräftig, auf zierlichen Halbschuhen. Alles an ihnen ist Hast und Eile und Frische und Lachen. Jetzt haben wir natürlich keine Zeit, sagen ihre Blicke, jetzt müssen wir zum Kolonialwarenhändler und zum Schlächter und in den Grünkramladen, jetzt müssen wir noch Soda und Seife holen und Öl und Suppengrünes … aber nachher, … wenn wir abgewaschen haben, um halb zehn, dann kommen wir noch einmal. Und dann, wenn ihr noch da seid – drüben unterm Torweg oder an der Ecke, in den dunklen Nebenstraßen –, dann werden wir ja sehen, ob ihr der Rechte für uns seid.
Kubinke will liebend gern „der Rechte“ für eine der drei jungen Frauen sein, will sich etwas mit einer von ihnen aufbauen. So verwickelt er sie in der Arbeitszeit und zwischen Tür und Angel in Gespräche, geht mit ihnen in Parks spazieren, wo es bereits dunkelt, und am Sonntagnachmittag zum Tanzen in Gartenlokale, wo Hedwig und Emma sich von ihm zum Essen einladen lassen. Ein echtes Interesse an ihm haben beide, im Gegensatz zu Pauline, nicht. Sie nehmen den unerfahrenen und naiven Friseur nicht ernst. Er merkt zwar, dass er bei ihnen falsch ist, doch da ist es schon zu spät. Die Zeit mit Pauline, die eigentlich Bertha heißt, wird nur kurz währen. Kubinke muss zahlen.
Hermanns Berlin-Roman zeigt eine (kleinbürgerliche) Welt voller Bösartigkeiten und Fallen, so dass der Begriff des „Großstadtdschungels“ hier wörtlich genommen werden kann. Dass sein auktorialer Erzähler dabei so liebenswürdig und voller Anteilnahme für seinen „Helden“ ist, lässt Kubinkes ganze Tragik umso größer erscheinen. Was den Leser für Hermann und seinen Roman indes einnimmt, ist sein fundiertes Wissen um das Leben von Angestellten und Dienstmädchen im Berlin der Jahrhundertwende – und die Fähigkeit, diese Figuren so zu skizzieren und sprechen zu lassen, dass sie beinahe leibhaftig vor uns stehen. Wenn der Erzähler zudem Kubinkes Leben vor seiner Ankunft in Berlin schildert, versteht man seine Hoffnungen auf ein besseres, helleres Leben in der Hauptstadt nur allzu gut. Es sind einige wenige, dafür sehr starke, aufschlussreiche Passagen:
Wenn er die letzten Jahre seines Lebens übersah, so lag das hinter ihm wie eine lange Flucht dumpfiger, enger Stuben, durch die er gehetzt worden war, ohne je Gedanken von Ruhe und Heimat zu haben. Tage bis zur Neige voller Arbeit waren es, mit kargem Verdienst und geringen Ersparnissen; und Abende so öde und freudlos, frostig und einsam. Immer wieder diese kleinen Stuben, die Waschtische mit der abgesprungenen Politur, die rissigen Kienschränke, die eisernen Betten, die wackeligen Stühle und der Tisch mit der gewürfelten Wachstuchdecke, auf dem die Lampe stand; und dazu die Einsamkeit und die müden Glieder; oder das Gespräch mit den Kollegen, das schlimmer war als das Alleinsein. Und kaum, daß der Sonntag oder der freie Tag vorüber war – wieder die lange Reihe von Arbeitstagen. Es war wie eine fade Posse, dieses Leben, es war eine Grammophonplatte, die in alle Ewigkeit – nur immer quäkender und langweiliger – dasselbe Stück abschnarrt. So war dieses Leben gewesen…
Kubinke ist ein Roman, der im Leser Spuren hinterlässt, der nicht vergessen werden will. Man begleitet den „Helden“ ein Stück weit und ärgert sich über ihn, über seine Gutgläubigkeit und seine kaum vorhandene Fähigkeit, etwas, was vielleicht suspekt ist, kritisch zu hinterfragen. Dadurch könnte er sich einiges ersparen. Aber darum geht es dem Autor auch nicht, wohl aber um das Sein und Scheinen seiner Figuren und um die Ursachen für die – teils unfreundliche, teils hinterhältige – Art, wie einige von ihnen mit anderen umgehen. Die große Stadt und ihr Glücksversprechen, die Anonymität und die Aussicht, viel Geld machen zu können, spielen hierbei keine geringe Rolle.
So bitter das Ganze auch ist – von Georg Hermann will man nach der Lektüre mehr lesen und erfahren. Und man hat die Hoffnung, dass Kubinke nicht die letzte Neuauflage des heute fast völlig vergessenen Schriftstellers bleibt. Die vorliegende Ausgabe könnte ein sehr guter Anfang sein.
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