Geständnisse

Michel Foucaults posthum erschienener vierter Band von „Sexualität und Wahrheit“

Von Andreas JackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Jacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist zu Recht die Rede von einer kleinen Sensation, von einem Ereignis oder von der Veröffentlichung eines „missing link“ in Foucaults Werk, wie Joseph Vogl es nannte. Nach einer Verzögerung von dreieinhalb Jahrzehnten wurde nun der vierte Band der großangelegten Studie über den Zusammenhang von Sexualität und Wahrheit endlich publiziert. Im Februar 2018 war das Werk bereits in Frankreich erschienen, im Mai dieses Jahr veröffentlichte es der Suhrkamp Verlag  in einer hervorragenden Übersetzung von Andrea Hemminger. Schon 1984 war der Philosoph vorzeitig an einer AIDS-Erkrankung gestorben und hatte sich ausdrücklich testamentarisch gegen eine Veröffentlichung dieses Textes ausgesprochen. Doch nachdem bereits die Vorlesungen, die er im Umfeld dieses Werkes gehalten hatte, publiziert worden sind, sah man kein Hindernis mehr, auch die Studie selbst zu veröffentlichen. Damit freilich wurde dem letzten Willen eines Autors, der selbst den Tod des Autors verkündet hatte, widersprochen. Obwohl es nicht bis zum Ende ausgearbeitet wurde, etwas zu lang ist und einige, aber nur wenig störende Redundanzen enthält, ist es eines der wohl interessantesten Hauptwerke Foucaults.

Foucault schlägt darin den Bogen von den Kirchenvätern der ersten Jahrhunderte bis zu Augustinus. Es geht um die Erschaffung einer Ethik der Sexualität, die von der Reflexion über den Status der Zeugung bis zu dem der Ehe reicht. Der Leser wird geführt durch vier Jahrhunderte Kirchengeschichte, durch ihre Strukturen und Veränderungen. Foucaults Herangehensweise ist sorgsam und nahezu ohne alle Polemik. Auch wenn man die Kirchenväter niemals gelesen hat, kommen einem etliche Motive sehr vertraut vor. Das ist das Verblüffende und Faszinierende, dass dieser Diskurs, wenngleich auch mit etlichen Transformationen, immer noch fortbesteht, obwohl er schon so weit zurückliegt. Die Beschreibungen sind wie immer kaum polarisierend oder sensationsheischend. Wer auf gut zitierbare, sadistische Szenarios wie die Vierteilung am Anfang von Überwachen und Strafen (1976) oder den Überwachungsapparat des Panoptikums aus ist, wird hier davon wenig finden. Einzig wenn Foucault die Selbsterniedrigungen der Büßer und den unbedingten Gehorsam der Mönche beschreibt, lassen sich Spuren einer brutalen, pathologischen und vernichtenden Ordnungsinstanz finden, die die Subjekte mehr vernichtet als fördert. Die Studie ist aber im Grundton gegenüber den Kirchenvätern eher respektvoll und interessiert, zeichnet minutiös die Entwicklung einer Sexualethik nach und kritisiert diese explizit nur an wenigen Stellen. Es dominiert das Bewusstsein, dass man sich diesen mächtigen Diskursen nur entgegenstellen kann, indem man sie zeigt.

Warum aber gerade diese Publikation hierzulande in der Gegenwart solche Furore macht, wird erst deutlich, wenn man einmal dreiundvierzig Jahre zurückschaut. Foucaults erster Band von Sexualität und Wahrheit, Der Wille zum Wissen, erschien 1976 in Frankreich, 1983 in der BRD. Dieser programmatische Text stand noch ganz im Zusammenhang der 68er Revolte, die von einer Befreiung der Sexualität träumte, doch konstatierte gerade dieser Philosoph, dass die Revolte dafür gänzlich kontraproduktive Mittel verwendete. Sie könne niemals in der Offenlegung von sexuellen Praktiken durch die öffentlichen Diskurse bestehen, die sich durch das Sprechen über den Sex vielmehr seiner stets bemächtigen würden, um ihn besser kontrollieren zu können. Der Geständniskultur des Abendlandes hielt Foucault schüchtern eine Strategie des schamhaften (Ver)schweigens entgegen, die im Geheimnis weit tiefer voranschreiten könne als im Diktum der Aufklärung. Sein erster Band wurde demnach nicht zum Klassiker des revolutionären Denkens, weil er darin die Freiheit der Lüste versprach, sondern vielmehr, weil er einen anderen Blick auf die Machtpraktiken warf, die gegen sie verwendet wurden. Jahrzehntelang wurde Der Wille zum Wissen bei jedem Studentenstreik an der FU-Berlin und andernorts wieder aus der Ecke hervorgeholt, um in autonomen Seminaren gelesen zu werden. Das Ziel war, die wilden Polemiken dieses Buches zu teilen und sich gleichzeitig als Diskursteilnehmer gegen die herrschenden Diskurse zu stellen. Die linken Studenten interessierte Foucaults Analyse der Macht, die jedes Mitglied  einer Gesellschaft als einen an dieser Macht Partizipierenden beschrieb. Foucault lehrte, wie man die plumpe Matrix des marxistischen Denken übersteigen konnte, die für ihn aufgrund der Analyse von Adam Smith doch nur ein Sturm im Wasserglas gewesen war. Indem die Macht nicht mehr in einer Art postchristlicher Verklärung den reichen Bourgeois und Industriellen zugeschoben wurde, steckte sie jetzt im Wissen und seiner Verwaltung. Hatte sich die Idee des Klassenkampfes in Deutschland längst durch die Frankfurter Schule in sublimere Bahnen hineinbegeben, denn hier schrieb ja der Klassenfeind selbst, das bürgerliche Subjekt (Adorno/Benjamin) über den Fetischcharakter der Ware, so konzentrierte sich  Foucault nun auf eine ganz andere Ebene, die alle Schichten gleichermaßen betraf.

Damit spiegelte sein Denken in Der Wille zum Wissen aber an vielen Stellen eben ein Stück weit genau jene paranoide Stimmung, die in den 70er Jahren gegenüber dem Staat so sehr en vogue war. Foucaults Denken wird dann immer am problematischsten, wenn er die Demokratie als Orwells 1984-Szenario beschrieb, und davon ist in der programmatischen Ankündigung seiner Forschungsreihe über Sexualität und Wahrheit eben sehr viel zu spüren, zumal dieses Werk als Kampfschrift rezipiert und damit missverstanden wurde. Aber eben auch andernorts vertrat der Philosoph ähnliche Thesen. Von einer Ordnungsmacht berichten alle seine Bücher, sei es die der Irrenanstalten, der wissenschaftlichen Diskurse, der Gefängnisse oder eben der Kontrolle der Biomächte, die die Vitalität überwachen und das Wachstum optimieren.

Es war dann aber kein Zufall, dass er eben diesen Pfad schließlich für das Projekt ziemlich stark einschränkte und veränderte. Das ursprüngliche Projekt von Sexualität und Wahrheit visierte einen ähnlichen Zeitraum an wie Wahnsinn und Gesellschaft (1961), Die Ordnung der Dinge (1966) und Überwachen und Strafen (1975). Es sollte vom 16. bis 19. Jahrhundert gehen. Zwei Bände, von insgesamt fünf geplanten, wurden dafür auch sehr weit ausgearbeitet; sie befinden sich heute im Foucault-Archiv in der Handschriftenabteilung. Sie werden aber wohl niemals veröffentlicht werden, denn Foucault hatte seinen angekündigten Zugang danach durch einen neuen ersetzt. Nicht mehr die letzten vier Jahrhunderte, sondern viel frühere Zeiträume wurden sein Untersuchungsgegenstand. Er begann nun in der Antike und wollte im Christentum enden. Er verlegte das Zentrum seiner Forschung damit um ca. 1000 Jahre nach vorn und entfernte sich damit weit von einer Genealogie, die einen engeren Gegenwartsbezug haben konnte. Die ersten beiden Bände dieser Edition erschienen noch von ihm autorisiert vor seinem Tod. Sie wurden aber nicht in der Breite rezipiert wie die polemische Kampfschrift, die der erste Band dargestellt hatte. Die griechischen und lateinisch verfassten Sexualethiken wirkten mehr wie Gegenentwürfe zur Gegenwart, sie waren aber für ein revolutionäres Publikum nicht von Interesse. Schlimmer, man unterstellte Foucault, sich selbst verraten zu haben, weil er nicht die Dispositive, sondern Selbstbezüge von Subjekten beschrieben hatte. Vor allem die Beschreibung der Selbstverhältnisse im dritten Band wurde dann von der linken Fraktion kritisiert. Foucault geriet in den Verdacht, selbst eine Beschäftigung mit dem „Menschen“, die er zuvor in Die Ordnung der Dinge (1966) so vehement kritisiert hatte, vorzunehmen. Das war allerdings ein Missverständnis, weil weder Griechen noch Römer in humanwissenschaftlichen Kategorien über sich nachdachten. Auch unterstellte man ihm besondere Sympathien für die Antike, die sich jetzt mit dem Erscheinen des vierten Bandes nicht mehr halten lassen, denn der wohlwollende Tonfall bleibt im neuen Band der gleiche. Und nun, in seinen Analysen des Christentums, bekommen die Selbstverhältnisse langsam jene spezielle Form, die dann zur Etablierung der Humanwissenschaften führen wird. Aber auch hier zieht Foucault nicht gegen das Dispositiv zu Felde, sondern beschreibt vielmehr, wie es sich langsam bildet und was die theologischen Motive sind, mit denen es verknüpft wurde.

Es ist ohnehin die nüchterne Ausfaltung eines enormen Wissens und seiner stets originellen strukturellen Deutungen, was jenseits der Bewertungen die Kraft seiner Studie ausmacht. Und genau dieser Stil wird nun im vierten Band, wo man ihn nicht mehr vermutet hätte, exakt weitergeführt. Foucaults lange schon veröffentlichtes Extrakt Der Kampf um die Keuschheit (1982), aus dem zweiten Kapitel, lieferte insofern einen leicht verfälschten Eindruck, weil er hier sehr provokativ den Themenkreis der Unzucht hervorhob. Auch wird das Christentum in seiner Entwicklung nicht durchgängig immer strenger, sondern gerade Augustinus, mit dem Foucaults Buch endet, ist, wenn er die Sexualität bereits im Paradies zulässt, zuweilen sogar liberaler als seine Vorgänger, für die die Geburt aller zwischenmenschlichen sexuellen Aktivitäten stets ein Resultat des Sündenfalls gewesen war.

Weil das Sexualitätsdispositiv durch die Beichtkultur des Christentums jene entscheidenden Schritte zur Gegenwart hin unternimmt, bekommt das Projekt wieder jene Nähe zu den gegenwärtigen Dispositiven und Diskursen, deren Untersuchung Foucault im ersten Band angekündigt hatte. Diese Verkettung erzeugt nun zu Recht das Interesse an dieser so lang hinauszögerten Veröffentlichung. Alle Verfeinerungen und Veränderungen, die uns prägen, beginnen mit der christlichen Sexualmoral. Vor dem Hintergrund der nietzscheanischen Perspektive beginnen hier auch die wirklich brennenden Probleme, die die liberaleren Griechen und Römer noch gar nicht kannten. Aber diese Perspektive teilt Foucault nicht ohne Weiteres. Nirgends wird man bei ihm ein besonderes Ressentiment gegen das Christentum wahrnehmen, wie es Nietzsche stets formuliert hat. Die Antike wird in seinem Fortgang der Geschichte nicht glorifiziert. Hingegen wird der kulturelle Schritt, ein Transfer der vorchristlichen Antike in die Geständnispraktiken eines Subjekts, das seine Lüste stets kontrolliert, präzise beschrieben. Foucault zeigt am Anfang von Die Geständnisse des Fleisches, wie Clemens von Alexandrien am Ende des 2. Jahrhunderts die Thesen der antiken Sexualmoral aufgreift und in einen neuen Korpus einarbeitet und auch verändert. Moses, Jesus und der Logos werden zu den Hütern der Moral, die Scham wird zu einem neuen Richter, den es zuvor kaum gab. Ausdrücklich weist er aber nach, wie harmlos noch argumentiert worden ist.

Das Christentum zieht die Zügel gegenüber der Sexualität dann langsam an, indem es zwei Praktiken entwickelt, die die Lüste weitaus strenger zu regieren versuchen: die Buße und die Askese. Dass der Sexualkodex bei Clemens auf die Ehe und die Zeugung ausgerichtet war, ist aber ein Erbe der vorchristlichen Antike und war längst etabliert, bevor das Christentum die Bühne des abendländischen Denkens betrat. Auch entlastet Foucault das frühe Christentum von der Schuld, den Körper verdammt zu haben, und zeigt, dass bei Clemens derartig scharfe Urteile, im Unterschied zu gnostischen Lehren, keineswegs vorhanden waren. Durch die Umkehr des Menschen in der Taufe, die Exerzitien der Buße, das Mönchstum, die Idealisierung der Enthaltsamkeit und schließlich der Jungfräulichkeit kommen immer mehr Motive ins Spiel, die die Sexualität thematisieren, bis schließlich Augustinus explizit die Frage nach einem Subjekt der Begierde stellt. Und erst bei ihm wird die Frau auf den Bereich des Kindergebärens und ihrer Erziehung reduziert. Fortan ist der Mann klar das Haupt und Vorbild der Familie. Foucault versucht durchgängig zu zeigen, wie die Kirchenväter den Wert der Ehe und der Zeugung positiv bewerten und mit der höheren Ausrichtung der vollkommenen sexuellen Entsagung und dem Status der Jungfräulichkeit in Einklang bringen mussten. Schon am Anfang ist eine Sexualität ohne Zeugungsabsichten, die immer dem göttlichen Willen entsprechen, eine Sünde. Später bei Augustinus wird die Ehe dazu da sein, die Wollust zu begrenzen, weil sie die Monogamie enthält, die die Sexualität begrenzt. Die Jungfräulichkeit stellt aber die höchste Möglichkeit dar, weil die völlige Entsagung für den Menschen das Paradies schon auf Erden bereitstellt. Immer wieder wird das Verhältnis zwischen Körper und Seele thematisiert. Und die Beschränkung der Sexualität wird ohnehin stets verbunden mit dem Versprechen auf ein ewiges Leben.

Foucault geht es darum, die Feinheiten dieser Diskurse sorgfältig herauszuoperieren und vor voreiligen und gängigen (Vor)Urteilen zu beschützen. Unglaublich geduldig werden die vielen Schriften der Kirchenväter vorgeführt. Wie immer arbeitet Foucault in einem leicht literarischen Beschreibungsmodus, der sich gut lesen lässt und auf Wortspiele und Doppeldeutigkeiten gänzlich verzichtet. Man erkennt seinen typischen Stil zweifellos rasch wieder. Immer wieder kann sich der Leser mit den Inhalten identifizieren. Es geht eben nicht darum, wie bei Nietzsche durch wilde Polemiken das Kinde mit dem Bade auszuschütten, sondern Foucault taucht seelenruhig in die klerikal formulierten Gedankenwelten ein, um ihre Strukturen vor unseren Augen derart zu entfalten, dass der Leser kaum umhin kann, sich darin nicht wiederzufinden. Es sind keine Akte revolutionärer Aufdeckungen, sondern der Habitus besteht vielmehr darin zu zeigen: „Seht, so sind wir zu dem geworden, was wir heute sind“. Dabei werden am Rande immer wieder Genderfragen thematisiert, beispielsweise wann die Geschlechterdifferenzierung für die Kirchenväter stattfand, vor oder nach dem Sündenfall? Und natürlich impliziert die nahezu ohne Ausnahme von Männern thematisierte Sexualität immer wieder auch die Frage nach dem Ort der Frau in diesem Diskurs. Foucaults Lektüren des Frühchristentum zeigen, wie viel mehr Gedanken hier über den Körper gemacht worden sind als jemals zuvor. Wie das, was Freud später als Libido bezeichnete, hier immer mehr Aufmerksamkeit bekam und wie man versucht hat, die schon in der Antike als exzessiv und gefährliche Natur der Sexualität in vernünftige, soziale Bahnen zu lenken, wenngleich die Mittel dafür auch nicht immer die geeignetsten waren. Die Kirchenväter forderten, das Verhältnis zu Gott und das damit verbundene Versprechen auf ein ewiges Leben gegen das Begehren und die Interessen des Körpers einzutauschen. Im Jenseits wird die Geschlechterdifferenz ohnehin wieder aufgehoben, die zu den irdischen Lastern gehörte, ohne die es aber zugleich keine Fortpflanzung gibt. Es ist unglaublich spannend, diesen Beschreibungen zu folgen.

Fazit: Die Geständnisse des Fleisches haben es unbedingt verdient, ausführlich rezipiert und kommentiert zu werden, denn sie bieten einen Meilenstein in den Besprechungen des Sexualitätsdispositives an. Und vielleicht bekommen durch sie auch die beiden vorherigen Bände endlich das Interesse, welches sie verdient haben. Das wäre zumindest viel spannender als die einhunderttausendste stereotype, akademische Bemerkung über das Panoptikum in Überwachen und Strafen zu lesen.

Titelbild

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Vierter Band: Die Geständnisse des Fleisches.
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
558 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587331

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