Die Quelle der Dichtung

Tomas Espedals meisterhafter autobiographischer Text „Das Jahr“ ist ein episches Gedicht, das um die Themen Liebe, Einsamkeit, Altern und Tod kreist

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Texte Tomas Espedals drehen sich stets um dieselben autobiographischen Geschichten; er gibt ihnen verschiedene Formen, versucht sich in Tagebüchern, Briefen, Essays, Erzählungen oder Romanen. Und doch ist es ein ewiges Kreisen um dieselben Ereignisse, dargelegt mit Hilfe einer minimalistischen, äußerst poetischen Sprache, mit der nur das Nötigste gesagt wird. Es ist der Tod seiner Exfrau Agnete, die langjährige Beziehung mit seiner großen Liebe Janne, die ihn für einen seiner besten Freunde verließ. Das Erziehen der beiden Töchter, die er mit Agnete hat. Und immer wieder sein Dasein als armer, eremitischer Schriftsteller, sein unentwegtes Nachdenken über den Tod und die Einsamkeit. Man gewinnt aus den trostlosen, bewegenden Texten Espedals den Eindruck, dass er sich in einem ewigen Kreislauf aus Erinnern und Schreiben befindet, nur dass er, anders als sein Landsmann Karl Ove Knausgård, nicht die große pathetische Geste wählt, nicht ein im Grunde ereignisarmes Leben mit so viel Wucht erzählt, dass man darin versinken will. Espedals innere (und äußere) Welt ist extrem reduziert, es ist eine Welt des steten Umkreisens weniger Momente, und das verleiht seinem Schreiben eine klaustrophobische Enge, der sich der Leser nicht entziehen kann.

Auch Das Jahr bildet hier keine Ausnahme, außer vielleicht unter dem Gesichtspunkt, dass sich der Autor dazu entschlossen hat, das fast 200-seitige Buch wie ein langes Gedicht zu schreiben. Und obwohl sich hier nichts reimt, es kein Versmaß, keine Strophen gibt, verleihen alleine der Satz und die vielen Enjambements sowie die meist fehlende Interpunktion dem Text eine hohe Poetizität, denn Espedals Sprache fließt lyrisch über die Seiten und versetzt den Leser trotz der ungewohnten Struktur in einen Trance-ähnlichen Zustand.

Der ursprüngliche Plan, so erzählt das lyrische Ich, sei es gewesen, sich vollends seinem Liebeskummer hinzugeben. Obwohl die Trennung von Janne bereits fünf Jahre zurückliegt (und in anderen Texten ausführlich bearbeitet wurde), begibt sich Espedal auf die Spuren Petrarcas; er reist durch die Gegend um Avignon und versucht sich mit dem Autor des Canzoniere zu identifizieren, der auch nur seine Laura lieben konnte, so wie er selbst, so redet er sich ein, seine Janne. „Ist es wirklich möglich dieselbe Frau zu lieben / das ganze Leben lang / auch wenn sie die Liebe nicht erwidert / und was für eine Liebe ist das / ist es eine größere Liebe / oder Selbstbetrug.“ Ein Jahr lang will er berichten, sich auch der Form des Canzoniere bemächtigen, um seine Seelenverwandtschaft mit dem von ihm verehrten Petrarca zu unterstreichen. Er strebt danach, „die Quelle der Dichtung zu entdecken / also den Verlust / der Liebe.“

Doch recht schnell nach diesem ersten Teil, in dem das lyrische Ich die Spuren Petrarcas nachzeichnet, verschwindet Petrarca plötzlich aus dem Buch. Das lyrische Ich trifft sich mit seinem Vater, um mit diesem eine kurze Luxuskreuzfahrt zu machen. Nun reflektiert er über den Tod; er sieht den Vater als lebenden Toten, er sieht dessen Verfall, die Selbstaufgabe. Oder sieht er nur sich selbst und ist die Darstellung des eigentlich recht jovialen und, wie er immer wieder betont, sehr kräftigen Vaters nur eine Ablenkung von seinem eigenen Verfall? Er sei glücklich, schreibt Espedal über sich selbst, er sitze alleine in seiner Wohnung, rauche 20 Zigaretten am Tag und trinke zwei Flaschen Wein (eine Untertreibung, verfolgt man den tatsächlich geschilderten Alkoholkonsum etwa während seiner Reisen). Am Ende möchte er sich ein Zölibat auferlegen, da er sowieso nicht mehr lieben könne.

Das grandiose Finale schließlich spielt an seinem 54. Geburtstag. Espedal isst mit seinem Vater in seiner Wohnung zu Abend, doch dann trennen sich ihre Wege, da sie beide beschlossen haben, den Rest des Abends jeweils alleine zu Hause zu trinken und die Toten willkommen zu heißen. Und da kommen sie alle, um mit ihm das Geburtstagsfest zu feiern: seine Großeltern, seine Mutter, Agnete. Und plötzlich sieht er ihn vor sich, den „guten Tod“, den er einerseits erhofft, andererseits über allem fürchtet.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Tomas Espedal: Das Jahr.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Hinrich Schmist-Henkel.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
196 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957577733

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