Wut über die verlorene Zeit

Zu einem Proust- oder Marcel-Bändchen von Matthias Zschokke

Von Alexandre MétrauxRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandre Métraux

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Bändchen zählt siebenundfünfzig Druckseiten (abgesehen von den Paratexten wie Titelei, Dank, Selbstwerbung und dergleichen). Auf diesen Druckseiten wird Marcel Prousts À la recherche du temps perdu von Matthias Zschokkes bezeichnet als: Jahrhundertwerk, Mammutunternehmen, Perlendünnpfiff, triefend süßes Zeug, entbehrungsreiche Beschreibungs- und Betrachtungssteppen, monumentales Baiser, monströser Eintopf aus Salon-Anekdoten, einer von des Kaisers neuen Romanen, Brei, Schmarren, Episoden-Bouquet, Bibel für Betriebsnudeln.

Die Bezeichnungen zeigen den Widerwillen des Lesers beim sommerlichen Verweilen in dem mehrbändigen Werk Prousts an. Anders als EEG-Kurven auf einem breiten Papierstreifen, die man nicht auf einen Blick versteht, es sei denn, man ist im Lesen solcher Kurven wirklich bewandert, teilen die Sprachzeichen genau das mit, was sie wortwörtlich mitteilen: unter anderen Dingen Ekel, Überdruss, Ungeduld, Hass.

Das Lesen erfährt seinerseits unkaschierte Umschreibungen: überfressen, sich durchpflügen, durchwandern, sich schleppen, in halber Autohypnose durchhämmern, sich durchfressen, runterwürgen, runterkriegen. Von bedächtigem oder sanftem oder einfach abwartendem Lesen der Recherche berichtet das Bändchen nicht. Wenn vor dem Ende einer Suche, und sei’s auch der Suche nach der verlorenen Zeit, das im Vollzug der Lektüre zu suchende Objekt zum Eintopf eingekocht und als Brei heruntergewürgt wird, findet man am Ende nicht einmal ein Viertel dessen vor, was man hätte finden können, hätte man mit erfahrender Hingabe es gesucht.

So geht es kraftvoll und inkorporierend zur Sache. Kaum ist aber der Proust-Lese-Sommer begonnen, wartet der Verfasser schon auf der ersten Druckseite mit einer Mitteilung an „die“ (seine?) französische Übersetzerin auf: „Sehr, sehr viele Wörter. Mir würden weniger oft besser gefallen.“

Da beschleicht einen der Verdacht, dass der in jenem Sommer keine Ruhe findende Leser die falsche Lesart der Recherche in die Hand genommen hat. Warum hat er nicht zur Comic-Version gegriffen? Bearbeitet wurde die Recherche von Stéphane Heuet, der zugibt, den Roman nach der Lektüre der ersten fünfzehn Seiten ermüdet weggelegt zu haben. Zschokke hätte Band 1 mit einigen Bildern und wenigen Sätzen ohne Würgen geschafft; das Verhältnis von Romantextseiten zu Comicseiten ist nämlich etwa 170 zu 70. Die ganze Recherche als Comic-Serie ist zwar noch nicht verfügbar; in jenem Sommer hätte Zschokke trotzdem etwas mehr als nur Band 1 in sich aufnehmen können, und dies ohne Ärger über die ermüdend langen Romandiskurse. Der Pseudo-Proust als Comic hätte vermutlich auch seinem Temperament entsprochen: Er, der Romanautor und Filmemacher, lese nicht gern, gesteht er.

Unterschwellig zieht sich eine unter Proustianern umstrittene Thematik durch das Bändchen. Die Recherche entfalte sich in Narrationsschlaufen. Das ist unbestritten. Es sei dahingestellt, ob diese Narrationsschlaufen einen Entwicklungsroman bilden, ob es sich um zurechtgeschriebene Erinnerungen oder um anders handelt. Obgleich es in der Recherche chronologisch etwas unübersichtlich zugeht, fädelt dort ein Erzähler dennoch Episode um Episode auf. Man weiß nicht unbedingt, wann eine neue Episode wirklich anfängt und wo sie im Text zum Abschluss kommt. Denn die Narration folgt den Bewegungen der Textentstehung, nicht der Logik der handelnden Personen. Zudem besteht der Roman aus unzähligen Abschweifungen − die französischsprachige Literaturwissenschaft verwendet in diesem Zusammenhang den Terminus digression. Ist es vertretbar, fragt man sich nun, die Abschweifungen zu ignorieren, den Roman auf eine Erzähllinie oder bestenfalls auf Einzelerzählungen in einer Großerzählung zu stutzen? Dass es möglich ist, belegt der Pseudo-Proust im Comicformat. Vertretbar jedoch ist es nach Auffassung Pierre Bayards nicht, der einst selbst vorschlug, die Abschweifungen aus der Recherche zu tilgen, um deren Erzählung rein in Erscheinung treten zu lassen.

Denn auf die Abschweifungen käme es an, hatten Proust-Kenner Bayard zugeflüstert, der Roman lebe gerade von ihnen – oder in ihnen lebe der Roman erst richtig auf. Dort, im Weggang von der Erzähllinie, in der sonderbaren, sich suchenden Romanpoetik, die ohne Lehrsätze auskommt, weil der Text in sich seine Poetik verwirklicht, findet das Sprachkunstwerk statt. Gingen die Abschweifungen verloren, gliche die Recherche einem Ruinenfeld, auf dem Findlinge und Bruchstücke unnütz herumlägen.

Und justament diese Abschweifungen regen den abschweifungsallergischen Zschokke auf. Kein Wunder, dass seine grobianisch vermittelte Folgerung so ausfällt: „Man kann den Schmarren allein über die Sprache rechtfertigen. Die ist aber, je länger es dauert desto mehr, reine Klöppelei, Geklingel, Lametta. Am Anfang der Recherche ist sie beeindruckend, oft überwältigend. Mit der Zeit aber realisiert man, dass der Autor an einer schweren Logorrhöe leidet und es ihm von selbst so gedengelt daherlabert.“ Das Gedengelte wird übrigens als „Teflonstil“ bezeichnet. Nichts gegen Ausfälle in, wie es einst hieß, grollsinniger Manier, wenn’s einer wirklich nicht lassen mag. Für sich einnehmen lässt der Zschokke’sche Verriss nicht. Oder man gehört zu denen, die Proust eh nicht leiden. Indessen, wenn etwas (die Recherche oder welcher belletristische Text auch immer) so missfällt und wenn das Missfallen ins Publikum gestreut wird, ist’s doch glaubhaft nur, wenn hinter Groll und Angewidertsein mindestens ein Fünklein subjektiver Beurteilung mit Anspruch auf intersubjektive Geltung steckt. Was an der Recherche ist denn Klöppelei und was Lametta und was Geklingel? Ist unter „Geklingel“ beispielsweise Proust Versuch zu subsumieren, Farbennamen als Entsprechung musikalischer Eindrücke zu verwenden, und ist darunter auch der Ruf eines Lumpensammlers zu verstehen, den der Text der Recherche als Pastiche einer Arie inszeniert? Wenn ja, hat Zschokke es beim Lesen nicht gehört − oder er hat sich lesend verhört. Und ist unter „Lametta“ die anhaltende Beschreibung der Gesellschaftskreise zu verstehen, zu denen der Erzähler auf Distanz geht, weil sie die Welt nur noch aus zweiter Hand, aus angeliehener Konvention erfahren (Erfahrungsarmut ist in Prousts Gesellschaftskritik das Merkmal des Snobismus)? Wenn ja, dann hat Zschokke beim Lesen tatsächlich Sinn und Augenmaß für Details verloren. Die Häufung der Details (dazu gehören die mehr als zweihundert Pflanzen, die der Roman aufzählt) und die zusätzlichen Details in den Abschweifungen legen die Vermutung sehr nahe, dass die Sprachfülle der Recherche den poetologisch gewollten Erfahrungsfundus bildet, der sich der Erfahrungsarmut der Guermantes und anderer halbadeliger Figuren entgegensetzt.

Als fatal entpuppt es sich zudem, dass Zschokkes in den ihn langweilenden Lektüresitzungen den Erzähler mit dessen Autor identifiziert. Obgleich der Ich-Erzähler erst mitten im Roman in einer kurz vor Prousts Tod dem Verlag übergebenen Fassung von der schlaftrunkenen Albertine mehrdeutig als „Marcel“ angesprochen wird, macht er längst vorher aus dem toten Proust den Erzähler Marcel, was zur Folge hat, dass im weiteren Verlauf des Lektüreberichts nicht der Erzähler, sondern der jugendliche Proust im Gewand des Erzählers sich an Saint-Loup erinnert, der etwas ältere Proust am Ende eines Sees in Erscheinung tritt und seinen Neffen erblickt. Geht man so vor und gerät man in die von Zschokke sich selbst zugeschriebene Gemütslage, ist ein Wutanfall unvermeidbar: „Ach, was für ein monströser Lügner, Angeber, Arschlecker, Feigling, Marcel als Romanheld, Marcel als Autor, Marcel als Schriftsteller und alle anderen Marcels gleich dazu. Nein, wirklich, das war zu viel für einen simple minded wie mich.“

Nun möchte man es dem Autor dieses Bändchens noch nachsehen, dass er wie so manch andere vor ihm im Erzähler den Marcel und in Marcel den Proust transsubstantiiert hat. Womit die Recherche, wenn man denn so an den Text herangeht, zu einer schier endlosen Ansammlung autobiographischer fake news transsubstantiiert wird. Doch an anderer Stelle heißt es unversehens, man wolle in der Recherche nicht dem Plot folgen, sondern „erfahren, wie der Comte duftet und welche eingebildete körpereigene Ausdünstung er mit seinem Vetiver-Parfum zu überdecken sucht, man will erfahren, wie die Marquise ihm ihre rechte Hand hinzuhalten pflegt und warum sie parallel dazu mit ihrem linken Daumen und Zeigefinger am eigenen Ohrläppchen zupft. […] Man will das alles Satz für Satz, Wort für Wort schmecken, riechen, empfinden. Die Sprache ist der Inhalt.“

Nun gut. Doch wie ist es dann möglich, dass bei gelangweilter Lektüre der übersetzten Recherche ein Pastiche der Gebrüder Gouncourt entdeckt wird? Dass Marcel oder Proust (nicht der Erzähler!) Pastiches zu schreiben liebte − für’s Feuilleton, in Briefen, anderswo −, braucht nicht noch einmal entdeckt zu werden. Was aber ist geschehen, dass ohne Hellseherei und gleichsam ohne Hellleserei, in der Übersetzung an einer bestimmten Stelle gerade ein Pastiche der frankophonenen Brüder Goncourt bemerkt wurde? Um einen solchen coup zu landen, hätte Zschokke aus der Übersetzung, die zu lesen er im Begriff war, den französischen Zungenschlag Marcels oder Prousts und in diesem den ebenso französischen Zungenschlag der Goncourts herausgehört haben müssen. Und das hätte zur Voraussetzung gehabt, dass er, der anscheinend helllesende Leseunlustige, auch die Goncourts im Original hätte gelesen haben müssen − nicht ein halbes Dutzend Druckseiten, sondern etliches aus der schier endlosen Produktion der schreibenden Brüder, die es sogar fertiggebracht haben, einen Traum des einen zu zweit zu verschriften. Einen derart magisch anmutenden Feinsinn für das Herauslesen eines Pastiches aus dem Satzbau des übersetzten Marcel oder Proust, dessen Text die Original-Goncourt ironisch nachahmt, möchte man Zschokke nimmer zutrauen, der es sowieso eilig hat. Denn der Herbst kündigte sich in jenem Sommer schon an.

Also hat Zschokke nicht selbständig den Goncourt-Pastiche in der Recherche ausfindig gemacht. Also ist das kein reiner in E-Mail-Form verfasster Sommerlesebericht, sondern etwas, in dem die Lektüre auch fiktionalisiert wurde. Nehmen wir folglich an, die siebenundfünfzig Druckseiten berichteten nicht von den wirklichen Leseerfahrungen Zschokkes, sondern von einem von Zschokke erfundenen Leser, der beim Lesen des ganzen Romans Prousts den Schnellgang eingelegt hat, weil er bestenfalls einen Sommer auf das Lesen der Recherche zu verwenden bereit war. Aus der Fiktionalisierung ließe sich so der Umriss einer Hermeneutik für’s Turbolesen erschließen. Und daraus ergäbe sich die Deutung, dass die etwas über fünfzig Druckseiten von Ein Sommer mit Proust für heutiges Schnelllesen schon viel zu viel sind. So tut man gut, das Ding erst gar nicht zu lesen. Es sei denn, man möchte erfahren, was einem simple minded beim Lesen von Marcels oder Prousts Suche nach der verlorenen Zeit so alles widerfuhr.

Titelbild

Matthias Zschokke: Ein Sommer mit Proust.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
64 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783835331310

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