Naturgemälde und Weltbeschreibung

Alexander von Humboldts Kosmos-Vorlesung an der Berliner Sing-Akademie 1827/28

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Vorrede zu seinem Buch Kosmos heißt es bei Alexander von Humboldt: „Ich war durch den Umgang mit hochbegabten Männern früh zu der Einsicht gelangt, dass ohne den ernsten Hang nach der Kenntnis des Einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne“. Für ihn war die Suche nach Wahrheit ein fortlaufender, nie abzuschließender Prozess des Hinterfragens: „Prüfen Sie von Neuem, was ich veröffentlicht habe, betrachten Sie alles als falsch, das ist das Mittel, die Wahrheit zu entdecken“, so seine Empfehlung an einen jüngeren Kollegen. „Im wundervollen Gewebe des Organismus, im ewigen Treiben und Wirken der lebendigen Kräfte“, so Humboldt in Kosmos, „führt jedes tiefere Forschen an den Eingang neuer Labyrinthe.“

In diesem Jahr feiert man nicht nur in Deutschland den 250. Geburtstag des großen Naturforschers und Gelehrten Alexander von Humboldt. Seine Forschungen und Entdeckungen sind auch heute noch (oder: wieder) von Bedeutung, wie die vielen Neuveröffentlichungen zeigen, und seine Betrachtungen über die Welt sowie seine Bemerkungen über die „Verwundbarkeit der Erde“ sind aktueller denn je.

Zum Humboldt-Jubiläum sind ebenfalls seine damals öffentlich gehaltenen und für Frauen und Männer zugänglichen Kosmos-Vorträge von 1827/28 an der Berliner Sing-Akademie, dem heutigen Sitz des Maxim Gorki Theaters, erschienen. Sie werden gerne als „Sternstunden der Wissenschaftspopularisierung“ apostrophiert. Die Vorträge zogen ein großes Publikum an, was eine ob der Massenbegeisterung argwöhnisch gewordenen Bettina von Arnim damals zu der spöttischen Bemerkung verführte: „Gänse und Gänschen gehen hinein“. Doch war es weit mehr als ein Event, was sich damals ereignete.

Humboldt schrieb einmal: „Ich bin viel nützlicher durch die Sachen und Fakten geworden, von denen ich berichtet habe, durch die Ideen, die ich bei anderen habe entstehen lassen, als durch Werke, die ich selbst publiziert habe.“ In seinen Vorlesungen, die er vor seiner zweiten großen außereuropäischen Reise an der Berliner Universität und der Singakademie hielt, umriss Humboldt die ganze Welt und viele Disziplinen der Wissenschaft. Es war ein Blick auf die Welt aus einer globalen Perspektive, in der natürliche und kulturelle Gegebenheiten miteinander vernetzt sind. Johann Wolfgang Goethe sagte über den Gelehrten: „Man könnte in 8 Tagen nicht aus Büchern herauslesen, was er einem in einer Stunde vorträgt.“

In den Vorträgen an der Sing-Akademie versuchte Humboldt, Natur und Geschichte, Wissenschaft und Kunst sowie seine Reiseerlebnisse zu vereinen. Der in diesem Jahr erschienene Band umfasst erstmals den zuverlässigen, vollständigen, anhand der Handschrift korrigierten Text der 16 Vorträge. In einem ausführlichen Vorwort erläutern die Herausgeber Christian Kassung und Christian Thomas den kulturellen Hintergrund und aktuellen Forschungsstand zu den Vorträgen sowie deren wissenshistorische Bedeutung. Ausgewählte Faksimiles aus der Handschrift selbst und aus Humboldts Nachlass vermitteln einen Eindruck der historischen Quellen.

Zu Beginn des umfangreichen und luziden Vorworts stellen die beiden Herausgeber des edierten Manuskripts mit dem schlichten Titel Physikalische Geographie. Vorgetragen von Alexander von Humboldt die einfache Frage: Wer spricht, wer schreibt hier eigentlich? Wer ist der Autor beziehungsweise die Autorin? Kassung und Thomas zeigen auf, dass neben Humboldt noch weitere Akteure mit der Geschichte der Kosmos-Vorträge verwoben sind, wodurch sich diese zu dem Manuskript verdichten konnten, das die Grundlage der vorliegenden Edition darstellt.

Henriette Kohlrausch ist die Person, die Humboldts mündlichen Vortrag „verschriftlichte“ und den Text verfasste; das Manuskript ist ein bedeutendes Zeugnis einer im 19. Jahrhundert verbreiteten Praxis: der Mit- und Nachschrift von Vorträgen. Den beiden Herausgebern ist es gelungen, die Identität der Verfasserin zu belegen und die Besonderheiten ihrer Textgestaltung herauszuarbeiten. Weiterhin sind Personengruppen involviert, die als Ideengeber und Dialogpartner des Vortragenden ihre Spuren im Text der Nachschrift hinterließen.

Im Mai 1827 kehrt Humboldt von Paris nach Berlin zurück. Zwischen November 1827 und April 1828 hält er die beiden Vorlesungszyklen an der Berliner Universität und der Sing-Akademie ab. Sie knüpfen an die Vorträge an, die er in Paris an der Académie des Sciences gehalten hatte. Dort hatte Humboldt unter anderem an der Auswertung, Ordnung und Publikation der Resultate seiner großen amerikanischen Forschungsreise gearbeitet.

Während es von den „Kosmos-Vorträgen“ an der Berliner Universität mehrere Nachschriften gibt, ist das edierte Manuskript der Sing-Akademie nach jetzigem Kenntnisstand das einzige. Es gibt – unterteilt in 16 Vorträge – auf 160 Seiten einen durchgehenden Text in der Ich-Form wieder. Der Leser wird Zeuge einer Reise, Teil derselben sind beispielsweise die Besteigung des Chimborazo und das Staunen über die Wasserfälle des Orinoco, in der sich Raum und Zeit verschränken. Humboldt wird später im Kosmos formulieren: „Wir steigen aufwärts in die Zeit, indem wir, die räumlichen Lagerungsverhältnisse ergründend, von Schicht zu Schicht abwärts dringen.“ Während man den Raum der Welt erforscht, reist man zugleich in die Geschichte der Erde und kann deren „successive Bildung“ verfolgen. Humboldt übernimmt später die Gliederung des Kurses an der Berliner Sing-Akademie „als Ausgangspunkt für die Anlage seines letzten großen Buchprojekts Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (1845–62)“, so Kassung und Thomas.

In den ersten zehn Vorträgen wird von Humboldt die „Skizze eines großen Bildes im Umrisse“, „eines Naturbildes“ oder „Naturgemäldes“ entworfen, das als „Übersicht der Gesamtheit des Geschaffenen“ zur „Weltbeschreibung“ dient. Zwei Dinge heben die Herausgeber als bemerkenswert hervor: Während Humboldt zunächst „Naturgeschichte“ und „Bild der Natur selbst“ gegeneinander stellt, richtet er mit dem zweiten Satz bereits den Blick in den Himmel. Die für die Astronomie entwickelten Prinzipien geben dabei die Denkmuster vor, „die anschließend in der Geognosie, der Klimatologie und weiter in der räumlichen Verteilung der Pflanzen, Tiere und Menschen abgearbeitet werden“, so die Herausgeber.

Auf den zweiten bemerkenswerten Punkt weist dann erst der siebte Vortrag ausdrücklich hin, der bereits im ersten mit dem Begriff „Naturgeschichte“ aufscheint. Während die ersten zehn Vorträge mit ihrem „Naturgemälde“ dem Lessingʼschen Paradigma der bildenden Kunst als Raumkunst unterworfen seien und eine atemporale Struktur des reinen Nebeneinanders entwürfen, gehe Humboldt mit dem elften bis dreizehnten Vortrag zur „Erklärung des Natursystems als einem Wissenssystem mit eigener Zeitlichkeit und Geschichte“ über. Somit rücke das, was Humboldt das „vernunftmäßige Begreifen jenes Natur-Ganzen“ nennt, näher. Humboldt, resümieren die Herausgeber, historisiere sich ab dem elften Vortrag selbst; er begreife sich als Teil der von ihm dargestellten Wissensgeschichte, die immer zugleich System sei.

Welche Funktion haben die letzten drei Vorträge, vor allem die im vierzehnten Vortrag  gewählte „Beispielkonfiguration physikalischer Entdeckungen“? Humboldt wählt hier physikalische Probleme aus, deren Zusammenhang sich erst sehr viel später, zum Teil erst im 20. Jahrhundert erweisen. Gerade seine Offenheit gegenüber den Phänomenen der Natur und sein Gespür für wichtige Probleme rechtfertigt den Anspruch Humboldts, „ein Bild der Natur selbst […] entwerfen“ zu wollen.

Es bleibt von dieser Vorlesung an der Sing-Akademie ein Text, der keine bloße Nachschrift populärwissenschaftlicher Vorträge ist – es handelt sich hierbei um einen eigenen starken Text, der ein weites Netzwerk von Akteuren aufzeigt und zur Autorin Henriette Kohlrausch führt. In ihm verdichten sich „unterschiedlichste Akteure zu einem Knotenpunkt der europäischen Wissensgeschichte“.

Titelbild

Alexander von Humboldt / Henriette Kohlrausch: Die Kosmos-Vorlesung an der Berliner Sing-Akademie.
Herausgegeben von Christian Kassung und Christian Thomas.
Insel Verlag, Berlin 2019.
327 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783458364191

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch