Wem gehört Geschichte?

Revierkämpfe zwischen Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass

Von Julian PreeceRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Preece

Vorbemerkung der Redaktion: Zu den Forschungs- und Publikationsschwerpunkten von Julian Preece, Professor of German an der Swansea University in Wales (Großbritannien), gehören Werk und Leben von Günter Grass. Wir haben ihn gebeten, seinen 2017 in englischer Sprache verfassten Aufsatz über die Beziehung zwischen Grass und Marcel Reich-Ranicki, der demnächst im Rahmen eines Sammelbandes über den deutschen Literaturbetrieb erscheinen soll, ins Deutsche zu übersetzen und unserer Zeitschrift zur Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Anlass zu der Bitte war Volker Weidermanns kürzlich erschienenes Buch Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Statt dieses Buch zu rezensieren, ergänzen wir die von Weidermann erzählte Geschichte mit weiteren Beiträgen. Wir danken Julian Preece für seine Bereitschaft, sich daran zu beteiligen. T.A.

Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) und Günter Grass (1927-2015) sind sich im Mai 1958 in Warschau zum ersten Mal begegnet. Laut Berichten, die beide Männer in den darauffolgenden Jahrzehnten veröffentlichten, scheiterten sie beim ersten Anblick, Gefallen aneinander zu finden. Jeder stand kurz davor, sich einen Namen auf seinem gewählten Gebiet im deutschen Literaturbetrieb zu machen, den beide in ihren jeweiligen Funktionen ein halbes Jahrhundert lang beherrschen sollten, währendessen sie eine gespannte professionelle Beziehung aushielten, die mit bitteren Streitigkeiten und taktischen Versöhnungsversuchen einherging. Dieser Artikel nennt zwei Gründe für das unruhige Verhältnis zwischen dem führenden deutschen Literaturkritiker seiner Epoche und dem renommiertesten deutschen Schriftsteller, der diese Epoche mit ihm teilte. Der erste war Konkurrenz um öffentliche Vorrangstellung im literarischen Feld, die sich im August 1995 mit Reich-Ranickis vorlauter Denunziation der epischen Bestandsaufnahme der Wendejahre in Grass‘ Roman Ein weites Feld zuspitzte.[1] Der zweite, der den ersten überlagert und umrahmt, ist weniger gut bekannt und geht auf die Art und Weise zurück, wie sich Grass in Aus dem Tagebuch einer Schnecke (1972) eine Episode aus den Holocaust-Erfahrungen Reich-Ranickis literarisch aneignete und dadurch zu eigen machte. Wie sich Reich-Ranicki auf der ersten Seite seiner 1999 erschienenen Autobiographie erinnert, nahm Grass bei ihrer zweiten Begegnung, die im Oktober 1958 bei einem Treffen der Gruppe 47 stattfand, von einer gereinigten Version dieser Erfahrungen Kenntnis. Beim abendlichen Glas Wein erzählte der in der Bundesrepublik frisch angekommene Kritiker, wie er zwischen Juni 1943 und der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im August 1944 seine nichtjüdischen Warschauer Beschützer unterhielt, indem er ihnen aus der Weltliteratur entnommene Geschichten nacherzählte:

Hinterher fragte mich Grass, ob ich dies zu schreiben gedenke. Da ich verneinte, bat er mich um die Erlaubnis, einige dieser Motive zu verwenden. Erst viele Jahre später, 1972, publizierte er sein Tagebuch einer Schnecke, in dem ich meine Erlebnisse wiederfand – er hatte sie einem Lehrer mit dem Spitznamen „Zweifel“ zugeschanzt.[2]

Ein 2018 erschienener Aufsatz von Uwe Neumann über ihren Briefwechsel bemerkt, dass Reich-Ranickis Autobiographie seine Reaktion auf Ein weites Feld nicht erwähnt, deutet aber die Präsenz von Günter Grass gleich im ersten Absatz von Mein Leben als „Versöhnungsangebot“.[3] Der Absatz lässt sich allerdings durchaus als Bezugnahme auf die Ursachen des Skandals um Ein weites Feld verstehen. Wenn Reich-Ranicki sich dadurch mit Grass versöhnen wollte, hat er jedoch sein Ziel verfehlt. Laut Neumann hat Grass Mein Leben nie gelesen.

Das Treffen der Gruppe 47 im Jahr 1958 in Großholzleute markierte für beide Männer eine berufliche Wasserscheide. Reich-Ranicki hatte drei Monate vorher Polen endgültig verlassen und wurde zum ersten Mal vom Gruppenleiter Hans Werner Richter eingeladen. Grass gewann dieses Jahr den heißbegehrten Preis der Gruppe, nachdem er aus dem Manuskript der noch nicht veröffentlichen Blechtrommel vorgelesen hatte. Der umgesiedelte Kritiker und der aus Paris nach West-Berlin zurückgekehrte Schriftsteller sahen sich in den Jahren danach bei öffentlichen Anlässen im Literaturbetrieb relativ häufig, bis 1967 auch bei weiteren Treffen der Gruppe 47. Erst einige Wochen vor dem Erscheinen von Aus dem Tagebuch einer Schnecke im Herbst 1972 erwähnte Grass sein Vorhaben wieder, Reich-Ranickis Holocaust-Erlebnisse literarisch umzugestalten und bat erneut um Erlaubnis. Die Erlaubnis wurde erteilt, aber nicht sofort und vielleicht nicht ganz freiwillig, wie ich darzustellen versuche. Grass dankt seiner Quelle mehrmals in diesem Bericht über seine Teilnahme am Wahlkampf 1969, den er mit der erfundenen Geschichte von Hermann Ott, genannt „Zweifel“, im besetzten Polen verflicht. Aber er kürzt seinen Namen ab und bezieht sich lediglich auf „Ranicki“, keine kränkende Geste vielleicht, aber eine, die den Anschein erweckt, dass er den Beitrag Reich-Ranickis und seine Person verkleinert.[4] Grass dachte offensichtlich nicht allzulang über die Verletzung nach, die seine nichtjüdische Neugestaltung der jüdischen Quelle selbst zubereiten könnte.

Der Einfall, Geschichten zu erzählen, um einen potentiell feindlich gesonnenen Zuhörer von seinen bösen Absichten umzustimmen, ist mindestens so alt wie Tausendundeine Nacht, wo die neuvermählte Scherherazade jede Nacht ihre Hinrichtung aufschiebt, indem sie beim Tagesanbruch ihren eifersüchtigen Ehemann auf den Ausgang der jeweiligen Geschichte warten läßt. Reich-Ranicki erzählte Geschichten, um sein eigenes Leben und das Leben seiner Frau zu retten. Er tat dies außerdem angesichts des Barbarentums der Nationalsozialisten im Warschau der Jahre 1943-1944 und zwar als Jude, der laut der Ideologie der Nazis nicht imstande sei, diese Literatur adäquat zu verstehen. Trotzdem oder gerade deswegen behauptete er den menschlichen Wert seines Wissens. Reich-Ranicki erwähnt seine erzählerischen Rückgriffe auf deutsche Klassiker, auf Goethe (Werther), Schiller (Wilhelm Tell, Kabale und Liebe), Kleist (Der zerbrochene Krug, Der Prinz von Homburg), Storm (Der Schimmelreiter, Immensee) und Fontane (Frau Jenny Treibel, Effi Briest) sowie auf einige Opern von Verdi (Aidia, La Traviata und Rigoletto) und auf Shakespeares König Lear.[5]

In Aus dem Tagebuch einer Schnecke ist der Geschichtenerzähler für Grass eine Art von alter ego . Ott / Zweifel stammt von nach Danzig eingewanderten Mennoniten ab, wird aber aus zwei Gründen von seinem Beschützer Anton Stomma, dem unbeherrschten kaschubischen Besitzer eines Fahrradladens, für einen Juden gehalten: Ott ist offensichtllich sehr klug und Stomma glaubt, dass Juden auch klug sind; der Name Zweifel klingt ihm fremd und deshalb jüdisch. Ott hat sich in den Jahren direkt vor dem Krieg solidarisch mit der Danziger Judengemeinde gezeigt und verbringt nach dem Einmarsch der Deutschen mehr als vier Jahre im Versteck bei Stomma und seiner deprimierten Tochter Lisbeth, deren Ehemann und Kind am Anfang des Krieges ums Leben gekommen sind. Bei Stomma verwandelt Ott seine ganzen Kenntnisse von Geschichte, den Naturwissenschaften und der Literatur in Erzählungen, die er Vater und Tochter mitteilt. Im letzten Jahr seiner Gefangenschaft spielt er eigenhändig auf einer gebastelten Kellerbühne, umgeben von Ersatzteilen für Fahrräder, Stücke von Schiller, Goethe, Kleist und Hauptmann. Stomma selbst ist Opportunist, der seinen Gast als Versicherungspolice für den Fall am Leben hält, dass die Deutschen den Krieg verlieren und er um die Gunst der neuen Sieger werben muss. So haben sich die Angehörigen der kaschubischen Minderheit durch die Jahrhunderte verhalten, für immer eingeklemmt zwischen zwei Nationen, die beide zahlreicher und daher mächtiger als sie waren und die einander ständig auszuspielen versuchten, um die Region unter ihre Kontrolle zu bringen. Laut Reich-Ranicki waren seine Beschützer, Bolek und Genia, eher durch „Mitleid, Güte, Menschlichkeit“ motiviert. Aber sie standen auch zwischen den gleichen zwei Stühlen. Bolek stellte 1939 einen Antrag darauf, „Volksdeutscher“ zu werden, und ist bis zum Sommer 1944 erleichtert, dass nichts daraus wurde, weil ihn das nach dem Ausgang des Krieges hätte belasten können.[6]

Das Hauptproblem mit Aus dem Tagebuch einer Schnecke ist die Figur von Hermann Ott, genannt „Zweifel“. Er ist eine erfundene allegorische Figur, die Grass ins Leben ruft, damit er die Geschehnisse seiner Jugend mit seinen Kindern besprechen und sie mit Ereignissen in der Gegenwart vergleichen kann, insbesondere die Wahl des ehemaligen Widerstandskämpfers Willy Brandt an der Spitze einer von der SPD geführten Regierungskoalition. Der um einige Jahre ältere Hermann Ott verhält sich, wie Günter Grass, der  jetzt das ‚Prinzip Zweifel‘ auf seine eigene ideologische Fahne schreibt, sich retrospektiv gern im Dritten Reich verhalten hätte. Grass wurde wegen historischer Verstellung von dem jungen W. G. Sebald kritisiert, weil seines Erachtens Identifikationsfiguren wie Ott in der deutschen Nachkriegsliteratur so oft vorkämen, damit Leser sich besser fühlen konnten. Diese „guten Deutschen“ existierten, laut Sebald, eher in der Fantasie der Nachkriegszeit als in der Wirklichkeit des Dritten Reiches und seien von ihren Autoren erfunden, um ihre eigenen unausgesprochenen Taten zu kompensieren. Alfred Andersch sollte ihm später ein Paradebeispiel dafür liefern. Sebald entging jedoch der Bezug zum jüdischen Reich-Ranicki, obwohl sein Name im Buch mehrmals genannt wird.[7]

Vierunddreißig Jahre später im erfindungsreichen Memoirenband Beim Häuten der Zwiebel (2006) stellte sich heraus, dass Grass ein Schlüsselmotiv aus seiner eigenen Biographie in die Ott / Zweifel-Episode eingeflochten hat. Er soll seiner Familie diese Geschichte oft wiedererzählt haben und gab sie als den Grund an, warum er erst spät im Leben Fahrradfahren lernte. Sie erklärt auch seine oft wiederholte Behauptung, den Krieg nur zufällig überlebt zu haben. Die Geschichte lässt sich schnell zusammenfassen. In einem Dorf irgendwo südöstlich von Berlin befindet sich der siebzehnjährige SS-Rekrut zusammen mit einem halben Dutzend Kamaraden in einem vor kurzem verlassenen Fahrradladen auf einer von den Sowjets schon kontrollierten Straßenseite eingepfercht. Sie müssen schnellstens auf die andere Seite der Straße gelangen. Ein Feldwebel heckt einen Fluchtplan aus: Jeder soll sich ein Fahrrad nehmen und alle zusammen sollen sie ihren Weg in die Sicherheit radeln. Grass bekennt verschämt, dass er Fahrradfahren nie gelernt habe, und verflucht seiner Eltern Armut, die ihn verhinderte, in den Besitz eines Fahrrads zu kommen. Seine Unfähigkeit erweist sich schnell als providentiell, denn die anderen werden alle von russischem Maschingewehrfeuer sofort niedergemäht und er ist der einzige, der überlebt. Grass beschreibt den Fahrradladen so:

[…] der offenbar rechtzeitig geflüchtete Hausbesitzer [muss] ein Fahrradhändler gewesen sein, der seine begehrte Ware gehortet und im Keller versteckt hatte, denn in hölzernen Gestellen hingen, die Vorderräder nach oben, ausreichend viele Fahrräder, die alle brauchbar zu sein schienen und prall befreit waren, jedenfalls verlangten sie nach Gebrauch.[8]

Grass musste sich schon an diesen Ort erinnern, als er den Keller beschrieb, wo Ott die längste Zeit im Krieg verbracht hat: „In Stommas Lagerraum rosteten Fahrräder und Fahrradteile. Die Räder und Gestelle hingen, Lenker nach oben, an einem Drahtseil, sechs Meter lang, so lang wie der Keller.“[9] Indem er über die Erfahrungen Reich-Ranicki als Hermann Ott, genannt Zweifel, in Aus dem Tagebuch einer Schnecke schrieb, schrieb er also gleichzeitig über sich selbst und seine eigenen Kriegserfahrungen. Als er Ott einführt, macht er keinen Hehl daraus, dass er Reich-Ranickis Vergangenheit in seinen Besitz nimmt:

Auch wenn ich ihn erfinden muß, es hat ihn gegeben. (Eine Geschichte, die mir Ranicki als seine Geschichte vor Jahren erzählt hat, blieb bei mir liegen und lebte behutsam für sich; geduldig besteht sie auf einem gesuchten Namen, auf gesichertem Herkommen, auf einem Keller für spätere Zuflucht.)[10]

Reich-Ranicki hat Aus dem Tagebuch einer Schnecke nie besprochen, weder in einer Rezension noch in irgendeinem seiner zahlreichen Werke der Literaturkritik. Das Buch nimmt dadurch eine Sonderstellung unter Grass’ Prosawerken des zwanzigsten Jahrhunderts ein. Uwe Neumann erklärt die Lücke durch Reich-Ranickis persönliche Verbindung mit der Entstehungsgeschichte: Es hätte gegen seine Prinzipien als unabhängiger Rezensent verstoßen, ein Werk zu diskutieren, das er mitinspiriert hatte.[11] Ab diesem Zeitpunkt jedoch wurden Reich-Ranickis Urteile über die Romane von Grass immer brutaler – über Der Butt (1977), Die Rättin (1986) und, am heftigsten, über Ein weites Feld (1995). Er ließ sich zunehmend und vor allem in der Sendung des Literarischen Quartetts zu Ein weites Feld von seinen Emotionen steuern, wenn er über Werke von Grass sprach oder schrieb.

Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass hatten nicht nur ihre starken Persönlichkeiten gemeinsam. Ihre Familiengeschichten überbrückten die deutsch-polnische Grenze und beide wurden unauslöschlich von ihren Erfahrungen im Dritten Reich geprägt. Die Nazis machten aus beiden jungen Männern hochbelesene Autodidakten. Im Unterschied zu Reich-Ranicki war Grass nicht zweisprachig und hatte mütterlicher- wie auch väterlicherseits christliche und nicht jüdische Wurzeln, allerdings eine Mischung aus katholischen Kaschuben, wie Anton und Lisbeth Stomma, und protestantischen Deutschen. Dieser familäre Hintergrund machte den aus Danzig Geflohenen zu einem Außenseiter zweiten Grades in der neu gegründeten Bundesrepublik. Martin Walser porträtiert ihn sogar als Zigeuner in dem 1966 erchienenen Roman Das Einhorn. Reich-Ranicki dagegen war assimilierter Jude und ging erzwungermaßen einen anderen Weg als Grass durch das Dritte Reich. Der junge Grass war Mitglied des Jungvolks und der Hitlerjugend. Bevor er sein Abitur vollenden konnte, wurde der überzeugte Jungnazi zum Arbeitsdienst und anschließend, ein Monat vor dem siebzehnten Geburtstag im Frühherbst 1944, zur SS einberufen. Dort wurde er als Panzerschütze ausgebildet, der auf der Ostfront das zerfallende Reich vor den anrückenden Kräften der UdSSR mitverteidigen sollte. Als Kriegsgefangener der Amerikaner ab Mai 1945 begann er, die Verbrechen der Nazis zu verarbeiten, und wollte dabei vor allem begreifen, wie er und seine Familie in diese Verbrechen verstrickt waren. Es folgten Gelegenheitsjobs auf Bauernhöfen und in einem Kalibergwerk, eine Lehre als Steinmetz und ein Kunststudium in Düsseldorf und West-Berlin. Als er auf Anraten des Theaterkritikers Andrzej Wirth Reich-Ranicki im Foyer des Warschauer Hotel Bristols kennenlernte, kehrte der junge Dichter zum ersten Mal seit dem Herbst 1944 in die alte Heimat zurück. Ein Band mit seinen  „Gedichten und Zeichnungen“, Die Vorzüge der Windhühner, war zwei Jahre zuvor veröffentlicht worden. Einakter von ihm waren auf Studentenbühnen schon aufgeführt und seine Kunstwerke in Gallerien ausgestellt. Grass war Günstling Hans Werner Richters, der ihn seit 1955 zu den Treffen der Gruppe 47 einlud. Bis Mai 1958, inzwischen Vater von Zwillingen und den dreißigsten Geburtstag gerade hinter sich, suchte er nach größerem Erfolg. Das sollte ihm mit der Blechtrommel bald glücken, die zuerst Deutschland und bald danach die westliche Welt im Sturm eroberte. Fortan blieb Grass im Rampenlicht, als Romanschriftsteller mit internationalem Ruf sowie als engagierter Befürworter der Sozialdemokratie und Vertrauter von einflussreichen Politikern wie den Bundeskanzlern Willy Brandt und Gerhard Schröder.

Reich-Ranicki,  sieben Jahre älter als Grass, hatte einen vielleicht noch größeren Hunger nach Anerkennung, den er zeitlebens trotz seines Ruhms wohl nie richtig stillen sollte. Im Alter von neunzehn am Vorabend des Zweiten Weltkrieges wurde der von der deutschen Literatur schon besessene Abiturent von Deutschland nach Polen deportiert. Er überlebte die Nazi-Besetzung Polens in Warschau, eine Zeit lang im Getto, wo er für den Judenrat als Dolmetscher arbeitete, und nach der Auflösung des  Gettos im Versteck bei zwei Beschützern. Er wurde kurze Zeit nach dem Krieg Kommunist und noch kürzer von dem polnischen Nachrichtendienst in Berlin und London beschäftigt. Als Grass während eines Streits am Anfang der 1980er Jahre auf diese stalinistische Vergangenheit aufmerksam machte, antwortete Reich-Ranicki mit den „Fakten“:

Ich wurde 1950 aus der Partei ausgeschlossen (Begründung: „ideologische Entfremdung“), inhaftiert und einige Wochen in einer Einzelzelle gefangengehalten. Anfang 1953 wurde gegen mich ein generelles Publikationsverbot erlassen, das erst während des „Tauwetters“ (Ende 1954) wieder aufgehoben wurde.[12]

Reich-Ranicki hatte sowohl während des Krieges als auch im ersten Jahrzehnt danach härtere Zeiten durchlebt als Grass. Seine Verdienste als Kenner der deutschen Literatur waren bis Mai 1958 jedoch schon beachtlich. Der für seine Radiosendungen bereists bekannte Literaturkritiker war Autor eines Buches in polnischer Sprache über Hermann Hesse. Er hatte Bertolt Brecht kennengelernt und zählte andere führende Schriststeller der DDR zu seinem Bekanntenkreis. Im August 1958, fast zwanzig Jahre nach der ersten Zwangsumsiedlung in die umgekehrte Richtung, wechselte er als Folge einer vom Staat gesteuerten Säuberung Polens von überlebenden polnischen Juden in die junge Bundesrepublik.[13] Er wechselte auch die Sprache, begann aber sofort für westdeutsche Feuilletons zu schreiben und zwar auf dem höchsten Niveau, am Anfang bei der Frankfurter Allgemeine Zeitung, dann bei der Zeit, wo er dreizehn Jahre blieb, bevor er zur FAZ zurückging, jetzt als Literaturchef. Er war in einer Reihe von Medien hochproduktiv. Er gab Anthologien heraus, die sich bestens verkauften, schrieb einflussreiche Einführungen und Literaturgeschichten und verfasste Schnappschüsse der Literaturszene in West und Ost, die er wie kaum ein anderer überblickte. Der Wechsel zum Fernsehen als Moderator der Sendung Das Literarische Quartett brachte ihm ab Ende der Achtziger Jahre weiteren Ruhm und Einfluss.

Grass bezog sich als erster öffentlich auf ihre Warschauer Begegnung, und zwar schon im Dezember 1973, eineinhalb Jahre nach dem Erscheinen von Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Er erzählte knapp, wie, nachdem er die Handlung seines ersten Romans zusammengefasst habe, Reich-Ranicki Andrzej Wirth anrief, um zu warnen:  „Paß auf! Das ist kein deutscher Schriftsteller. Das ist ein bulgarischer Agent.“[14] Grass’ Hauptvorwurf besteht darin, dass sein polnischer Gastgeber versäumte, das Talent des großen angehenden deutschen Romanciers zu erkennen. Sogar als Die Blechtrommel als Buch vorlag, wollte Reich-Ranicki kein Meisterwerk der deutschen Sprache willkommen heißen. Diesen ,Fehler‘, den der Kritiker allerdings bald selbst zugab, durfte er in dem über die Jahrzehnte hinweg andauerenden Streit nie vergessen, weil andere ihn immer wieder daran erinnerten. Das Versagen der Anerkennung war jedoch gegenseitig und im Unterschied zum Kritiker hat der Schriftsteller seine eigene Stellungnahme zu ihm nie revidiert, eher im Gegenteil. Das Versäumnis ist um so erstaunlicher angesichts des Anliegens seiner ersten Polenreise. Grass war im Mai 1958 unterwegs nach Gdańsk, um die Belagerung der Polnischen Post im September 1939 zu erforschen, deren Dartstellung zwei denkwürdige Kapitel am Anfang des zweiten Buches der Blechtrommel einnehmen würde. Er fand heraus, dass die offizielle Version, es habe keine Überlebende auf der polnischen Seite gegeben, nicht stimmte, und lernte damit eine für sein weiteres Schaffen wichtige Lektion: Der Schriftsteller muss manchmal als Lückenbüßer der Geschichte fungieren. Gdańsk, jetzt überwiegend von Polen bewohnt, war als Danzig bis zum Ende des Krieges eine mehrheitlich deutschsprachige Stadt. Weil die Deutschsprechenden, einschließlich seiner eigenen Familie, vertrieben wurden, überrascht es, dass er in seiner Erinnerung einen eher freundlichen Empfang in der Stadt seiner Geburt festgehalten hat. Der Grund dafür, meinte er, liege darin, dass die neuen Gdańsker Flüchtlinge wie er selbst gewesen seien, denn sie waren aus Gebieten weiter östlich, die Polen nicht mehr gehörten, auch vertrieben worden. Die Liebesaffäre in Unkenrufe (1992) zwischen der geborenen Vilnaerin Alexendra Piątkowska und dem alten Danziger Alexander Reschke, der wie Grass selbst 1927 auf die Welt kam, ist eine verspätete literarische Behandlung dieser Affinität. In Warschau hingegen wurde Grass im Mai 1958 mit Argwohn begrüßt. Hier galt er als Vertreter der Nation, die in allerletzter Zeit bei ihrem östlichen Nachbarn  verheerende Zerstörung angerichtet hatte. In seiner Erinnerung scheint er das misslungene Gespräch mit Reich-Ranicki dieser allgemein negativen Aufnahme in der polnischen Hauptstadt zuzuordnen.

Warum stellte der literarische Forschungsreisende dem deutschsprechenden polnischen Literaturkritiker keine Fragen zu seiner Person? War er nicht neugierig zu wissen, mit wem er zu tun hatte, warumr sein Gesprächspartner Deutsch konnte und deutsche Literatur so gut kannte? In der Blechtrommel, an der er gerade arbeitete, gibt es ein Dreigespann männlicher jüdischer Figuren (eine in jedem der drei Bücher des Romans) und Grass hat sich auf Empfehlung Walter Höllerers mit keinem anderen als Paul Celan für seine literarische Darstellung des Holocausts beraten lassen. Celan empfahl ihm Bücher, aus denen er für sein eigenes Schaffen lernen konnte: Rabelais’ Gargantua und Pantagruel und einen zeitgenössischen Roman von einem tatsächlich in Bulgarien geborenen Autor, dem aus Wien nach London geflohenen Juden Elias Canetti.[15] Obwohl in den 1930er Jahren schon geschrieben, will Canettis Blendung der gleichen Zivililationskatastrophe wie Grass in der Blechtrommel literarisch gerecht werden. Canetti sah in dem Gnom und Imitationskünstler Oskar Matzerath einen literarischen Verwandten seines verwachsenen jüdischen Zwerges Fischerle.[16] Die Einflussnahme Canettis auf Grass muss Stoff für einen anderen Aufsatz sein. An dieser Stelle soll lediglich bemerkt werden, dass zwei große jüdische Dichter aus dem Südosten Europas (Canetti und Celan) an Grass’ Erstling entscheidend mitgewirkt haben.

In Großholzleute beim Treffen der Gruppe 47 ein halbes Jahr später machte Grass seinen Fehler teilweise wieder gut, indem er dem neuen Gruppenmitglied eine Frage zu seiner Herkunft stellte. Es war  eine sehr abrupte und, wenn man bedenkt, wie Grass sonst auf der Künstlichkeit der Identitätskonstruktion besteht, für ihn uncharakterische Erkundigung, die Reich-Ranicki einundvierzig Jahre später auf der ersten Seite seiner Autobiographie zitieren wird: „Was sind Sie denn nun eigentlich – ein Pole, ein Deutscher oder wie?“ Er habe darauf geantwortet: „Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude.“ Beide waren sich einig, dass dies eine schöne und effektvolle Formulierung sei, Reich-Ranicki beschrieb sie später allerdings als „unaufrichtig“.[17] Am selben Abend erzählte er die „harmlose Episode“, wie er Bolek und Genia mit Geschichten während der dunkelsten Tage der Nazi-Besetzung unterhalten habe. Er sollte bald entdecken, dass kaum jemand in Deutschland sich für die weniger harmlosen Episoden interessierte: die täglichen Greueltaten und Demütigungen im Warschauer Getto, die er am eigenen Leib erlebt und beobachtet hatte. Die erste Ausnahme war die  eine Zeit lang auch mit Grass eng befreundete Ulrike Meinhof.[18] Grass fand es hingegen mehr als einmal angebracht, auf Reich-Ranickis stalinistische Phase im Nachkriegspolen aufmerksam zu machen, die  in dem mangelhaften Verständnis des Kritikers für moderne literarische Formen weitergelebt habe. Doch nie berief er sich auf Reich-Ranickis jüdische Herkunft und seine persönlichen Erfahrungen des Holocausts oder des Antisemitismus in Polen der 1950er Jahre, der seine Umsiedlung in die Bundesrepublik verursachte.

Reich-Ranicki wurde erst siebzehn Jahre nach Grass im April 1990 motiviert, seine Version ihrer fatalen ersten Begegnung bekannt zu machen, also am Höhepunkt der Wendejahre, als Grass sich mehrmals gegen den aus seiner Sicht voreiligen Marsch zur Vereinigung Deutschlands geäußert hat. Reich-Ranicki reagierte auf einen im Spiegel gedruckten Auszug aus einem kurz vorher in der noch existierenden DDR veröffentlichten Buch des Dramatikers Heiner Müller, in welchem die Begegnung als Anekdote wiedererzählt wird, die Müller aus dem Munde von Grass gehört habe:

Als junger Schriftsteller reiste er zu einer Recherche über Die Blechtrommel nach Polen. Polnische Freunde fragten ihn, ob er bereit sei, den Professor Reich-Ranicki zu empfangen, der unbedingt einen deutschen Schriftsteller kennenlernen wolle. Graß willigte ein und erzählte folgenden Dialog: Reich-Ranicki: Sie sind ein deutscher Schriftsteller? Graß: Ich denke, ja. Reich-Ranicki: Kennen Sie Thomas Mann? Graß: Das ist doch der mit dem Lungensanatorium. Reich-Ranicki: Sie scherzen, kennen Sie Hesse? Graß: Das ist doch der mit der Glasfabrik. Reich-Ranicki: Und Sie sind Schriftsteller. Graß: Ich hoffe doch. Reich-Ranicki: Und was schreiben Sie? Graß: Einen Roman. Reich-Ranicki: Oh, einen Roman, erzählen Sie. Graß bemüht sich, die Blechtrommel wiederzugeben. Reich-Ranicki: Und das ist ein Roman? Graß: Ich denke schon. Reich-Ranicki: Und Sie sind ein deutscher Schriftsteller? Graß: Ja. Reich-Ranicki: Ich danke Ihnen für das Gespräch. Am nächsten Tag riefen Graßens Freunde an und fragten: Was haben Sie nur mit dem Mann gemacht? Der ist ganz aufgeregt und sagt in einem fort: Das ist kein deutscher Schriftsteller, das ist ein bulgarischer Spion.[19]

Reich-Ranicki weiß, dass Grass seit einiger Zeit Zuhörer mit dieser Erzählung belustigt. Er antwortet in der übernächsten Ausgabe des Nachrichtenmagazins mit einem mehrere Seiten ausfüllenden Bericht, den er später  in die Autobiographie aufnimmt.[20] Er erinnert sich, dass er von der Person des Schriftstellers nicht beeindruckt gewesen sei, der zugibt eine Flasche Vodka beim Mittagessen getrunken zu haben, dass es unmöglich war, über Bücher mit ihm zu diskutieren, und dass er die Pläne für einen Roman über einen Zwerg in einer Heil- und Pflegeanstalt, der seine Lebensgeschichte wiedererzählt, unüberzeugend gefunden habe. Er habe Grass nie „einen bulgarischen Spion“ genannt, wohl aber gesagt, dass er wie ein Funktionär aus Bulgarien aussehe, der nach Warschau geschickt worden sei, um eine Sportveranstaltung zu organisieren.

Wer Reich-Ranickis langen Spiegel-Artikel als Überreaktion auf eine halblustige Anekdote sieht, in der er schlecht wegkommt, muss bedenken, dass Müller damit herausrückt, als er nach seiner Stellungnahme  zu einer These von Reich-Ranicki gefragt wird. Weil Reich-Ranicki sich damals im Mai 1958 blamiert habe, laut Müller, brauche  ein deutscher Dramatiker ihn auch heute nicht ernst zu nehmen. Der Kritiker, inzwischen zum inoffiziellen, aber von vielen Schriftstellern missachteten „Literaturpapst“ der Republik avanciert, fühlt sich in die Pflicht genommen, sich zu verteidigen. Der Streit zwischen ihm und Grass hatte sich im Laufe der letzten Jahre auf allen Ebenen verschärft. Einen Anlass bot das deutsch-deutsche Schriftstellertreffen, das Grass im Dezember 1981 in Ost-Berlin mitveranstaltete, um den Frieden und die innerdeutsche Verständigung zu fördern, und das Reich-Ranicki als naive nur den Kommunisten nutzende Geste ablehnte. Dann kam eine verheerende Kritik der Rättin im März 1986 und eine Replik von Grass im Tagebuch seiner Indienreise Zunge zeigen (1988). Diese Zwischenfälle lagen im April 1990 nicht allzuweit zurück. Aber in dem abschließenden Teil seines Spiegel Artikels wechselt Reich-Ranicki zum Jahr 1972. Es ist klar, dass er sich keineswegs geehrt fühlte, die Vorlage für Ott / Zweifel geliefert zu haben. Als sie sich  nach dem Erscheinen von Aus dem Tagebuch einer Schnecke wieder über den Weg gelaufen sind, erwähnte er, dass Grass ihm Tantiemen schuldete, woraufhin Grass blass wurde. Beim Anzünden einer Zigarette zitterte seine Hand. Als Reich-Ranicki das Angebot machte, auf seine Anforderung zu verzichten, wenn Grass ihm ein Kunstwerk schenkte, „fiel [ihm] hörbar ein Stein vom Herzen“ und Grass lud den Kritiker und seine Frau prompt zu einem Essen in seinem neuen Haus in Wewelsfleth ein, wo er eine Zeichnung oder einen Kupferstich aus seiner großen Sammlung auswählen dürfte. Grass schrieb unter die Zeichnung seiner Wahl die Worte: „Für meinen Freund (Zweifel) Marcel Reich-Ranicki“.[21]

Ob Reich-Ranickis Anspruch auf einen Anteil der Rendite für Aus dem Tagebuch einer Schnecke den Autor wirklich blass werden ließ, darauf kommt es hier nicht an. Es wiegt jedoch im Zusammenhang des Gesamtstreits schwer, dass er sich im April 1990 sowohl darauf als auch auf ihre erste Begegnung und die sich widersprechenden Versionen ihres Verlaufes noch so ausführlich bezieht. Es verletzt ihn, dass Grass angeblich unterhaltungsvolle Ankedoten über sein Verhalten und sein Versagen, Grass‘ ersten Roman als Meisterwerk zu erkennen, weitererzählt. Und dass Grass auch dann nicht damit aufgehört hat, nachdem er ihm Stoff, der sein Überleben im Holocaust betrifft, für einen anderen Roman freigestellt hat. Er beendet seine lange Antwort mit leisester Ironie, die sein Missfallen an der Verwandlung der Warschauer Begegnung ins Anekdotenhafte zum Ausdruck bringt:

Als ich Grass darauf aufmerksam machte, daß die von ihm verbreitete Story falsch und abwegig sei, meinte er, ich sollte die Sache so aufschreiben, wie ich sie in Erinnerung habe: „Dann werden wir die Geschichte in zwei verschiedenen Fassungen haben. Und was stört Sie daran, daß es zwei Fassungen geben wird?“ In der Tat: Was sollte mich daran stören?[22]

Reich-Ranicki kompensierte 2003 die nicht geschriebene Rezension von Aus dem Tagebuch einer Schnecke  mit einem Buch. Unser Grass, eine Neuauflage seiner gesammelten Beiträge zu Grass und seinem Werk aus dem Jahr 1992[23], beinhaltet vier Zeichnungen, einschließlich derjenigen, die er für seine Geschichte verdient hat und nun den Einband schmückt. Grass entwarf die Einbandmotive für alle seiner eigenen Bücher, aber stellte nur ein einziges Mal einem Schriftstellerkollegen eine Zeichnung zur Verfügung.[24] Das allein macht Unser Grass fast zu einem Unikum. Weil die vier Zeichnungen sich in seinem Besitz befanden, hatte Reich-Ranicki keinen Grund, Grass um Erlaubnis zu bitten, sie wieder zu verwenden. In einem gewissen Sinne ist sein Buch über Grass eine Antwort auf Grass’ Buch über ihn.

Reich-Ranicki besprach die meisten Bücher des Schriftstellers, von der Blechtrommel, in welcher er bekannterweise vieles zu bemänglen fand, bis zum Band mitGedichten und Zeichnungen Letzte Tänze (2003), die er lobte. Er veröffentlichte Rezensionen von Die Blechtrommel, Die Plebejer proben den Aufstand, örtlich betäubt, Der Butt, Das Treffen in Telgte, Die Rättin, Unkenrufe, Ein weites Feld und Letzte Tänze. Er ging auf Katz und Maus und Hundejahre in Monographien ein.[25] In der Fernsehsendung Das Literarische Quartett, die er seit ihrer Einführung 1988 dreizehn Jahre lang moderierte, wurden Zunge zeigen, Unkenrufe, Ein weites Feld und Mein Jahrhundert besprochen. Reich-Ranickis letzten öffentlichen Worte zu einem literarischen Schriftstück von Grass war eine Reaktion auf das unbedachte Gedicht „Was gesagt werden muss“ von April 2012 zum Thema deutscher Waffenexporte nach Israel und ihrer möglichen Verwendung seitens der Regierung, das der 92-jährige schon todkranke Reich-Ranicki für einen antijüdischen, jedoch nicht antisemitischen Ausfall hielt.[26] Diese Kurzreaktion—sie liest sich, als ob der Redakteur der FAZ, Frank Schirrmacher, das Gedicht ihm vorgelesen habe—war vielleicht nicht ganz fair: Der auch nicht mehr so ganz junge Grass wollte die Grenzen des Sagbaren für ihn als öffentliche Figur überprüfen und machte eine Fehlkalkulation.[27] Es war jedoch lediglich das dritte Mal, dass Reich-Ranicki sich auf das Thema Jüdischsein in Kritiken von Grass’ Werk berief. Er hat zwei der jüdischen Figuren in der Blechtrommel (Sigismund Markus and Marius Fajngold) gelobt und nahm zur Kenntnis, dass Eddi Amsel in Hundejahre ein halber Jude sei.[28] Die Behandlung deutsch-jüdischer Geschichte gehörte aber zu den zahlreichen Reibungspunkten, die ihn gegen Ein weites Feld einstimmten. Gegen das Ende dieses Romans nimmt sich der ehemalige Exilant jüdischer Herkunft Professor Freundlich das Leben, nachdem er seinen Lehrstuhl als Folge eines Evaluierungsverfahrens verloren hat. Die Begründung: Er sei dem Regime zu nah gewesen. In seinem Abschiedsbrief erklärt Freundlich, dass das neue Deutschland keinen Platz für Juden habe. Reich-Ranicki konterte:

Lieber Günter Grass, haben Sie keine Ahnung, wie es den Juden in der DDR ergangen ist, haben Sie nicht gehört, daß Tausende von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion (und auch aus anderen Ländern) in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Asyl gefunden haben? Ich habe keine Lust, mich hier über dieses Thema zu verbreiten, nur eines ist für mich sicher: Sie wissen nicht, wovon Sie reden.[29]

Kein anderer deutscher Literaturkritiker hat sich so lang und mit solcher Intensität mit dem Werk von Grass auseinandergesetzt.[30] Reich-Ranicki wurde sich dessen bald bewusst, dass er mit seiner Beurteilung der Blechtrommel einen Fehler gemacht habe, und gab es öffentlich zu, allerdings nur als ein Anlass sich dafür bot und er gefragt wurde, ob er jemals ein Urteil bereut habe.[31] So offen dieses Bekenntnis manchen erscheinen mag, ließ es bei anderen einen Nachgeschmack von Opportunismus zurück, den Reich-Ranicki nie los werden konnte. Doch seine fundamentale Kritik an den Romanen von Grass war nicht ohne jede Grundlage. Er vertritt die Ansicht, dass des Schriftstellers sprachliches Können sich am besten in kürzeren Formen entfaltet, so in der Novelle Katz und Maus und der Erzählung Das Treffen in Telgte, und dass, obwohl die längeren Romane Episoden höchster Qualität vorwiesen, sie in ihrer Gesamtheit als literarische Kunstwerke nicht richtig zusammen passten. Deswegen fand er Hundejahre uneben, Der Butt mit seinen multiplen ineinander verflochtenen Rahmenerzählungen zu kompliziert, und in der Rättin fehlte ihm eine tragfähige Struktur. Selbst in Ein weites Feld fiel ihm im Kontrast zu seinen sonstigen Abwertungen eine Passage auf, die sein Lob verdiente. Seine Kritik an Grass’ Romanstil und Kompositionstechnik basierte sauf einer genauen Lektüre und warnie aus der Luft gegriffen. Die Rezension von Ein weites Feld wurde aus zwei anderen Gründen berüchtigt: durch die Fotomontage auf der Titelseite des Spiegels, die den Kritiker als Hund zeigt, der das Buch mit den Zähnen zerreisst, für welche Reich-Ranicki behauptete, nicht verantwortlich zu sein; und durch seinen mündlichen Verriss im Literarischen Quartett, für den er die volle Verantwortung übernehmen muss. Reich-Ranicki nahm hier die Gelegenheit wahr, die Erwartungen, die Grass an Literaturkritiker stelle, mit denjenigen von Joseph Goebbels zu vergleichen, der Beschreibung und Lob anstatt Evaluierung forderte. Der Ausfall läßt sich schwer entschuldigen, doch vielleicht erklären.

Grass hatte eine verletzende Erklärung für Reich-Ranickis Verrisse parat: Alles, was er von der Literatur verstünde, sei durch die Lehre des Sozialistischen Realismus und die Thesen des marxistischen Theoretikers Georg Lukács geprägt, die Reich-Ranicki im Nachkriegspolen verinnerlicht habe. Er warf ihm diese „stalinistiche“ Tendenz ein Monat nach dem Erscheinen vom Butt im September 1977 öffentlich vor.[32] Und später wieder in einem Privatbrief vom 27 Januar 1982 im Zusammenhang  mit dem Zank über die Ost-West Schriftstellertreffen.[33] Als Vorwurf ist diese Lukács-Keule fast so absurd wie Reich-Ranickis Vergleich mit Goebbels, aber Grass hat in Zunge zeigen wieder damit geschwungen. Der Schriftsteller  befindet sich in diesem Buch in Kalkutta, wohin er infolge der Rezeption der Rättin geflohen ist. Er sei von Deutschland und der Qualität der dortigen Debatten satt gewesen und habe eine reiche Ansammlung von Werken deutscher Philosophen mit auf die Reise genommen, auf welche er sich bei seinen Reflektionen zum festgefahrenen Projekt der Aufklärung stützen wolle. Plötzlich drängt sich eine Parallele zur Gegenwart auf:

… nach dem Wolkenbruch heute Nacht dampft der Garten. Vorsicht! Keine überflüssige Bewegung! Allenfalls Lichtenberg lesen, dessen Prosa kühlt. Wie er die Kritiker zu seiner Zeit (mit Nachhall bis heute) trifft, wie er sich immer wieder – und nicht ohne Genuß – den „Frankfurter Rezensenten“  vornimmt. Gleich kommt mir, wie aufgerufen, ein gegenwärtiges Exemplar in die Quere, dessen eloquenter Pfusch sich ungeschmälerter Wirkung erfreut, weil weit und breit kein Lichtenberg dem Beckmesser sein einzig gültiges Werkzeug, die Meßlatte des Sozialistischen Realismus, nachweist. Dabei erinnere ich mich an seine umtriebige Präsenz während der letzten Treffen der Gruppe 47: ein amüsanter Literaturnarr, liebenswert noch in seinen Fehlurteilen. Erst als ihm die Chefetage der FAZ Macht zuschanzte – das große Geld weiß, was frommt –, wurden seine Verrisse übellaunig bis bösartig, mißriet er zu Lichtenbergs „Frankfurter Rezensenten“.[34]

Der Hinweis auf Sozialistischen Realismus dient unter anderem als Erinnerung daran, dass Reich-Ranicki aus dem kommunistischen Polen herkommt. Der Vorwurf, dass er sich vom „grossen Geld“ korrumpieren ließ, ist infam, zumal Grass auch sehr gut von seiner Feder lebte. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass der Schrifsteller absichtlich auf die jüdische Identität seines Rivalen hier anspielt, aber der Kritiker mag zwei klassische antisemitische Tropen wiedererkannt haben. Und warum bekennt er sich in Zunge zeigen zum preußischen Schriftsteller Theodor Fontane, dessen Leben und Werk ihn in Ein weites Feld beschäftigen wird, als er sich gleichzeitig von Canettis Blendung distanziert? Grass hat in diesem Zusammenhang oft ein taubes Ohr gehabt. Er hielt sich 2002 nicht davor zurück, Martin Walser zu  unterstützen, als er unter Beschuss für den roman à clef Tod eines Kritikers geriet. Der in diesem fiktionalen Werk vorkommende Kritiker, der von einem Schriftstellerr umgebracht wird, dessen Buch er kritisiert hat, ähnelt Reich-Ranicki ziemlich genau. Reich-Ranicki bezeichnete den Roman als antisemitisch. Grass verteidigte  Walser im Fernsehen.[35]

Grass machte 1994 die Literaturkritik im Allgemeinen zur Zielscheibe in einem hoch unterhaltungsvollen und von köstlicher Ironie beladenen Aufsatz „Über das Sekundäre aus primärer Sicht“. Seine These kommt im Titel klar zum Ausdruck: Der Autor hat Vorrang vor seinen Interpreten, seien sie Wissenschaftler aus Universitäten, Verwalter aus dem Kulturbetrieb oder Zeitungsrezensenten. Er greift Das Literarische Quartett erneut direkt an, als er den „einzelne[n] Entertainer, der sich als Quartett aufspielt“, invoziert.[36] Der Schriftsteller regte wieder eine sofortige Antwort des Kritikers an: „Der gute Grass und die böse Kritik. Polemik aus gegebenem Anlaß“. [37] Zehn Jahre später wiederholte Grass, in einem Gespräch mit Uwe Wittstock, seine   Ansicht und fügte hinzu, dass der Kritiker eine entgegengesetzter Meinung vertrete, weil für ihn die „Kritik als Kunstform, gleichberechtigt neben der Literatur, und in dürren Zeiten der Literatur überlegen“ sei.[38]

Mitte der 1990er Jahre ging dieser Kampf um Vormachtstellung in der literarischen Welt über persönliche Feindseligkeiten oder Konkurrenz hinaus. Es ging um den Status von Schriftstellern und die Rolle von Literatur im wiedervereinigten Deutschland. Reich-Ranicki stand hinter der FAZ, die unter dem Chefredakteur Frank Schirrmacher das Selbstverständnis politisch engagierter Schriftsteller auf beiden Seiten des ehemaligen Eisernen Vorhanges aggressiv hinterfragte. Es war  Schirrmacher, der 2006 Grass’ „Bekenntnis“ seiner SS-Mitgliedschaft medial einrahmte, als dieser der FAZ  ein Gespräch vor der Veröffentlichung von Beim Häuten der Zwiebel gönnte.[39] Reich-Ranicki hat sich zu diesem „Skandal“ nicht geäußert und blieb seinem Prinzip treu,  sich nur auf die  Bücher und nicht auf die  Person ihrer Autoren einzulassen.

1995 deutete Reich-Ranicki zuerst an, dass er positiv auf Ein weites Feld reagieren würde, nachdem er Grass im April ins Zentrum der Frankfurter Jüdischen Gemeinde einlud, aus dem Manuskript des Romans vorzulesen. Als der Roman im August desselben Jahres veröffentlicht wurde, denunzierte Reich-Ranicki diesen groß angelegte Epos der Wendejahre als tendenziös, schlecht geschrieben und unzureichend sachkundig.[40] Im Laufe seiner Lektüre hatte er seine Meinung revidiert. Wohl als Folge Reich-Ranickis Verriss wird dem Roman bis heute nicht der Platz im literarischen Schaffen von Günter Grass eingeräumt, den er unter Umständen verdient hätte. Ein weites Feld behandelt ein paar kontroverse Thesen und weist einige ästhetische Schwächen auf, wie es bei bedeutenden literarischen Werken oft der Fall ist, aber der Roman hat weder aus literarischen noch inhaltlichen Gründen Reich-Ranickis Kritik verdient. In Berichten, die für das Feuilleton geschrieben wurden, sowie in Biographien über die beiden Männer wird Reich-Ranickis Umdenken als Beweis seiner Unberechenbarkeit angeführt.[41] Die Affäre ließ seinen eigenen Ruf nicht unbschädigt. Die dramatische Meinungsänderung war vor allem ein Indiz, dass etwas in ihrer Beziehung fundamental schief lag. Es war die emotionelle Reaktion eines Kritikers, den der Schriftsteller beruflich und persönlich mehrmals gekränkt hatte.

Soviel ist ziemlich gut bekannt und wird von Biographen und Literaturhistorikern mehr oder weniger ausführlich erörtert.[42] Ich behaupte, dass der Kritiker dem Schriftsteller nie verziehen hat, dass er im Mai 1958 versäumte, ihn zu seiner Person und Vergangenheit auszufragen. Grass machte die Situation nicht besser, als er eine zentrale und von ihm nicht richtig verstandene Episode aus der Vergangenheit des Kritikers in einem Werk der Fiktion sich aneignete und umwandelte. Reich-Ranicki mag nie gesagt haben, was er von Aus dem Tagebuch einer Schnecke gehalten hat, aber Grass wusste, dass die  Angelegenheit heikel war. Wie man jetzt in der Korrespondenz nachlesen kann, suchte er vor der Veröffentlichung  Reich-Ranickis Absegnung. Reich-Ranicki hatte ihn vorher um einen Beitrag für eine Anthologie deutscher Gegenwartsprosa gebeten.[43] Grass nutzte die Gelegenheit, ihm die Druckfahnen von Aus dem Tagebuch einer Schnecke anzubieten, mit dem Hinweis, dass er etwas daraus für die Anthologie nehmen solle, und in der Hoffnung, „daß ich Ihrer Geschichte literarisch gerecht geworden bin“.[44] Zwei Wochen später bringt er die Fahnen zur Post und schreibt: „Ich bin gespannt, ob Sie Ihre Geschichte in meiner Geschichte wiederfinden und akzeptieren können“.[45] Reich-Ranicki antwortet mit einem etwas längeren Brief, der sein Unbehagen sanft ausdrückt.Dieser Brief vom 4. Juni 1972 ist es wert, in seiner vollen Länge wiedergegeben zu werden:

Lieber Günter Grass,

ich danke für Ihren Brief vom 19.Mai und das Umbruchexemplar Ihres Buches. Ich habe das Buch sehr aufmerksam gelesen, und ich übertreibe keineswegs, wenn ich Ihnen sage, dass ich tief beeindruckt bin. Es ist – und das scheint mir heute sehr selten – ein Buch für Erwachsene, endlich. Ob es gefallen wird, weiss ich nicht. Viele werden vermutlich nicht merken, wie raffiniert das Ganze komponiert ist. Der permanente Kontrapunkt – Wahlkampf heute, Judenverfolgung gestern – ist ausgezeichnet durchgeführt. Grossartig, was Sie über Barzel, Wehner, Bahr, Brandt schreiben. Die Nürnberger Rede wird, befürchte ich, als Zugabe oder Zuwaage verstanden werden, indes bildet sie, meine ich, den logischen und organischen Abschluss. Meine Geschichte habe ich natürlich wiedererkannt, sie fügt sich glänzend in das Ganze ein. Für mich besonders interessant und bemerkenswert der Umstand, dass Sie dem Thema Judenverfolgung wieder ganz unkonventionell beikommen und ihm wieder neue Seiten abgewinnen, was zynisch klingen mag, doch natürlich sehr ernst gemeint ist. – Leider ist aber Ihr Buch eine so in sich geschlossene Einheit – und eben allem Anschein zum Trotz keine Aneinanderreihung von Prosastücken –, dass es falsch und ungerecht wäre, daraus etwas für meine Anthologie zu nehmen. Hier bildet alles einen Zusammenhang, und die Stücke, die sich eventuell herauslösen liessen – Wehner-Porträt etwa –, sind keine Geschichten. Übrigens wirken auch diese Stücke auch stärker innerhalb des Zusammenhangs. Kurz und gut: Ich habe auf den ursprünglichen Plan, etwas aus dem Buch für meine Verteidigung der Zukunft zu nehmen, doch verzichtet. Nun geht es aber natürlich nicht, dass Sie in einer repräsentativen Anthologie deutscher Geschichten seit 1960 fehlen. Ich habe daher – Ihr Einverständnis voraussetzend – eine Episode aus den HUNDEJAHREN genommen, und zwar die von mir besonders geliebte Geschichte des Lehrers Brunies. Sie beginnt auf S. 330 der Erstausgabe mit den Worten: „Im Spätherbst einundvierzig – Sondermeldungen über Erfolge im Osten blieben aus – konnte das Conradinum …“ – und sie endet auf Seite 338 mit den Worten: „ … Wenn er das nur übersteht!“ – Als Titel habe ich vorläufig genommen: STUDIENRAT BRUNIES. Ich hoffe sehr, dass Sie nichts dagegen haben. Der Vertrag wird natürlich von Piper mit Luchterhand abgeschlossen.

Ich muss jetzt rasch abschliessen, weil ich morgen früh über Djakarta nach Australien fliege. In Australien und in Neuseeland werde ich an insgesamt vierzehn Universitäten Vorträge über die zeitgenössische deutsche Literatur halten, eines meiner Themen lautet übrigens: „Günter Grass“. Ab 1. August bin ich wieder in Hamburg.

Ja, und was Ihr neues Buch noch betrifft: Immerhin ist es nun doch nachweisbar, dass ein Kritiker einen Romancier inspirieren kann. Darauf werden Sie antworten: Gewiss, aber er hat es ja nicht in seiner Eigenschaft als Kritiker, sondern … usw. Und damit hätten Sie wieder recht.

Alles Gute und viele herzliche Grüße / von Ihrem / Marcel Reich [46]

Der Kritiker will  gute Beziehungen mit dem Schriftsteller aufrechterhalten. Er bittet letztendlich um ein Gefallen, denn er weiß, dass seine Anthologie einen Beitrag von dem berühmtesten lebenden Romancier Deutschlands auf jeden Fall braucht. Es gibt deswegen nichts in dem Brief, das verletzen könnte, aber sein Lob des neuen Werkes ist schwach und verallgemeinernd. Reich-Ranicki erklärt mehrmals in seiner Autobiographie, dass Schriftsteller einer eitlen Spezies angehören; und wenn man etwas von ihnen wolle, sei es immer von Vorteil, ihnen zu sagen, wie gut man ihre Bücher finde. Zu behaupten, er sei „tief beeindruckt“ durch „ein Buch für Erwachsene“, das er „ausgezeichnet durchgeführt“ und „grossartig“ finde, ist nach den Regeln des Lobspieles schwacher Toback. Dann macht er einen Rückzieher mit der Bemerkung, dass er nicht wisse, ob das Buch die Gunst anderer Leser finden werde, denn ihnen werde die kluge Struktur nicht auffallen und sie würden den Vortrag über Albrecht Dürer (die „Nürnberger Rede“) nicht zu schätzen wissen. In anderen Worten und gegen Reich-Ranickis professionelles Glaubensbekenntnis, dass Literatur für Leser geschrieben werden müsse, bedeutet das: Wenn andere Leser das Buch nicht mögen, wird es ihre Schuld sein und nicht die des Autors. Zu sagen, dass Grass seine eigene Geschichte „glänzend in das Ganze“ einfügt, kann nur ein Kompliment sein, wenn er eine hohe Meinung von dem ganzen Buch hat. Die Bemerkung über die Verfolgung der Juden ist genauso doppelbödig, denn kann man nicht entgegen seine Beteuerung ernst und zynisch zugleich sein? Der Brief dreht sich dann um das Wort „leider“: Es sei bedauerlich, dass sich kein Auszug in Grass’ nächster Veröffentlichung finden lasse, der in die Anthologie reinpasst. Reich-Ranicki schlägt stattdessen vor, eine Episode aus den Hundejahren zu nehmen, die die Verfolgung von andersartigen Individuen darstellt. Papa Brunies ist wie Hermann Ott ein Lehrer, der in Konflikt mit den Nazis gerät. Im Unterschied zu Ott wird Brunies verhaftet und ins Konzentrationslager am Stadtrand von Danzig verschleppt. Man sieht ihn nicht wieder. Der Holocaust-Überlebende Reich-Ranicki deutet damit darauf hin, dass Grass in Hundejahre dieses Thema richtig getroffen hat. Im vorletzten Absatz des Briefes wird der weltberühmte Schriftsteller daran erinnert, dass auch Kritiker Einladungen aus dem Ausland bekommen. Der Anflug von Unsicherheit, der ihn dazu führte, seine Termine aufzulisten, kommt in der Abschlussbemerkung wieder zum Vorschein, wenn er darauf eingeht, wie ein Kritiker einen Schriftsteller beeinflussen kann. Dann folgt eine Ellipse, die das fehlende Herz in ihrer Kommunikation und die Lücke im Kern ihrer Beziehung andeutet. Wenn der Kritiker den Schriftsteller beeinflusst hat, allerdings nicht in seiner Rolle als Kritiker,  mit welchen Teilen seiner Persönlichkeit dann? In diesem Fall ist es Reich-Ranicki als Mensch und Jude, als Zeuge des Abtransports seiner Eltern und ungezählter anderer Morde im Warschauer Getto,der die nationalsozialistischen Verbrechen selbst nur knapp überlebt hat. Das ist der Teil, den Grass nicht zu verstehen schien und der wenigstens teilweise die häufig zornigen und unberechenbaren Reaktionen Reich-Ranickis auf Grass’ literarische Werke und seine Bemerkungen zur Person und seinem persönlichen Verhalten erklärt.

Anmerkungen

Ich bin Dieter Stolz und Harro Zimmermann dankbar, die mich auf Materialien für diesen Artikel aufmerksam machten, den ich ursprünglich im Frühjahr 2017 auf Englisch verfasste, weil der Exkurs zu dieser Beziehung in meine kurze Grass-Biographie nicht reinpasste (Julian Preece, Günter Grass. London: Reaktion 2018). Ich konnte damals nicht ahnen, dass kein anderer als Volker Weidermann sich das gleiche Thema schon vorgenommen hatte. Die Korrespondenz, die ich im Deutschen Literaturarchiv Marbach und im Archiv der Akademie der Künste auswertete, ist inzwischen von Uwe Neumann veröffentlicht worden (Kein weites Feld. Zum Briefwechsel zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki, Freipass 3 / 2018, S.142-95). Eine englische Urfassung meines Artikels soll bald erscheinen und zwar in dem Band mit dem geplanten Titel Die große Mischkalkulation: Aufsätze zum deutschen Literaturbetrieb, hrsg. von William Collins Donahue und Martin Kagel. München: Fink.

[1] Siehe Der Fall Fonty. “Ein weites Feld” von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen: Steidl 1996, hrsg. von Daniela Hermes.

[2] Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben. München: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S.388.

[3] Neumann, Kein weites Feld, S.180.

[4] Günter Grass, Aus dem Tagebuch einer Schnecke, Werkausgabe, hrsg. Volker Neuhaus, Bd. 7. Göttingen: Steidl 1997, S.22, S.41, und S.156.

[5] Reich-Ranicki, Mein Leben, S.286-87.

[6] Ebenda,S. 290.

[7] W.G. Sebald, Konstruktionen der Trauer: Zu Günter Grass Aus dem Tagebuch einer Schnecke und Wolfgang Hildesheimer Tynset, Der Deutschunterricht 35 (1983), pp.32-46. Siehe auch Uwe Schütte, Interventionen. Literaturkritik als Widerspruch bei W.G. Sebald. Munich: edition text + kritik 2014, S.369-84. Auch Schütte fällt der Bezug nicht auf aber reiht Grass bei der älteren Generation deutscher Nachkriegsautoren ein, die ‘Leichen im Keller’ hatten, weil Grass erst spät in Beim Häuten der Zwiebel (2006) bekannt machte, dass er im Alter von sechzehn Jahren, kurz nach der Befreiung von Warschau, zur SS anstatt zur Wehrmacht einberufen wurde, wie er seine Leser bis dann zu glauben gegeben aber nie explizit behauptet hatte. Mir scheint die taktlose Aneignung von Reich-Ranickis Erfahrung bedeutungsschwerer.

[8] Günter Grass, Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen: Steidl 2006, S.147.

[9] Aus dem Tagebuch einer Schnecke, S.139.

[10] Ebenda, S. 22.

[11] Neumann, Kein weites Feld, S.158-59.

[12] Reich-Ranick an Grass, 16.01.1982, zitiert ebenda, S. 167.

[13] Die dreizehnjährige Eva Hofmann gehörte zu ihnen. Siehe Eva Hofman, Ankommen in der Fremde. Lost in Translation, übersetzt von Gesine Strempel. Frankfurt: Fischer 1995.

[14] Rückblick auf Die Blechtrommel, oder der Autor als fragwürdiger Zeuge (1973), in Werkausgabe, Bd.15, S.123-32, hier S. 132.

[15] Zum Rabelais Bezug, siehe Peter Arnds, Grass’s Die Blechtrommel and Rabelais’ Gargantua and Pantagruel: Translating the Picaresque into a German Context after 1945, Oxford German Studies (2019) 48:3.

[16] Siehe Sven Hanuschek, Elias Canetti: Biographie. Wien / München: Hanser 2005, S.488 und Canetti an Rudolf Hartung, 26.06.1960, in Elias Canetti, Ich erwarte von Ihnen viel. Briefe, hrsg. von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger. Wien / München 2018, S. 137.

[17] Reich-Ranicki, Mein Leben, S. 12.

[18] Ebenda, S. 460.

[19] Aus Heiner Müller, Zur Lage der Nation (Im Interview mit Frank M. Raddatz) (Berlin: Rotbuch 1990), zitiert im Spiegel 26. März 1990 unter dem Titel Polnische Reminiszenzen.

[20] Im Kapitel „Junger Mann mit mächtigem Schnurrbart“, Mein Leben, S. 381-92. Siehe auch „Ein Buttessen mit Folgen“ (2002), in Unser Grass, S.183-88.

[21] War Grass ein bulgarischer Spion? (1990), in Unser Grass, S.123-32, hier S.129 und S.130.

[22] Ebenda, S.131.

[23] Marcel Reich-Ranicki, Günter Grass: Aufsätze. Zurich: Ammann 1992.

[24] Hans Joachim Schädlich, Versuchte Nähe. Reinbek: Rowohlt 1977.

[25] Deutsche Literatur in West und Ost. Prosa seit 1945. München: Piper 1963 und Literatur der kleinen Schritte. Deutsche Schriftsteller heute. München: Piper 1967.

[26] Es ist ein ekelhaftes Gedicht. Ein Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki, aus erzwungenem Anlaß, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. April 2012.

[27] Siehe Stuart Taberner, Was gesagt werden muss: Günter Grass’s Israel/Iran Poem of April 2012, German Life and Letters 65:4 (2012), S. 518-31.

[28] Unser Grass, S. 35-36 and S. 53.

[29] Ebenda, S. 164.

[30] Fritz J. Raddatz, der sich im pro-Grass Lager ortete, hat seine gesammelten Rezensionen auch in einem Buch zusammengebündelt, aber er beginnt mit einer Besprechung von Der Butt einige achtzehn Jahre später als sein Kollege, Riech-Ranicki. Fritz J. Raddatz, Günter Grass. Unerbittliche Freunde. Ein Kritiker. Ein Autor. Zurich: Arche 2002.

[31] Reich-Ranicki, Unser Grass, S.13-18: (Auf gut Glück getrommelt, 1960) und S.19-26 (Selbstkritik des „Blechtrommel“-Kritikers, 1963).

[32] Heinz Ludwig Arnold, ”Antrag auf Scheidung von meinen Kritikern”. Gespräch mit Günter Grass, in Als Schriftsteller leben. Gespräche mit Peter Handke, Franz Xaver Kroetz, Gerhard Zwerenz, Walter Jens, Peter Rühmkorf, Günter Grass. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979, S. 140-155.

[33] Zitiert in Neumann, Kein weites Feld, S. 166.

[34] Günter Grass, Zunge zeigen. Darmstadt: Luchterhand 1988, S. 31.

[35] Siehe Stuart Parkes, Martin Walser’s Tod eines Kritikers: A “Crime“ of Anti-Semitism?, in German Text Crimes. Writers Accused, from the 1950s to the 2000s, German Monitor 77 (2013), hrsg. von Tom Cheesman, S. 153-74, besonders S. 155 und S. 156.

[36] Günter Grass, Über das Sekundäre aus primärer Sicht, Werkausgabe, Bd. 16, Essays und Reden III. 1980-1997, S . 405-11, hier S. 409.

[37] In Unser Grass, S.143-50, zuerst in der FAZ 13. Mai 1994.

[38] Uwe Wittstock, Marcel-Reich-Ranicki: Die Biografie. München: Blessing 2015, S. 265

[39] Siehe Martin Kölbel (Hrsg.), Ein Buch. Ein Bekenntnis: Die Debatte um Günter Grass’ Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen: Steidl 2007.

[40] Siehe Der Fall Fonty, pp.31-33.

[41] Zum Beispiel, Herbert Riehl-Heyse, Der Feldzug der Tontaubenschützen, Süddeutsche Zeitung, 7.9.1995, in Der Fall Fonty, S. 305-309.

[42] Siehe Wittstock, Marcel-Reich-Ranicki, S. 260-65, und Michael Jürgs, Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters. München: Bertelsmann 2002, S.127-28.

[43] Verteidigung der Zukunft. Deutsche Geschichten seit 1960.München: Piper 1972, hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. Dieser Band, der Auszüge aus den Werken einer Reihe führender deutschsprachiger Autoren beinhaltet, wurde im Laufe des nächsten Vierteljahrhunderts mehrfach aufgelegt.

[44] Grass an Reich-Ranicki, 4.5.1972, zitiert in Neumann, Kein weites Feld,S. 156.

[45] Grass an Reich-Ranicki, 19.5.1972, ebenda, S.157.

[46] Ebenda, S. 157-58.