Mit Sehnsucht getränktes Material
Paul Kahl schließt seine Quellensammlung zur Geschichte des Goethehauses ab
Von Stefan Höppner
Das ockergelbe Haus, in dem Goethe am Weimarer Frauenplan lebte, hat eine wechselvolle Geschichte. Das gilt nicht nur für das halbe Jahrhundert, in dem der Dichter dort wohnte, es gilt noch mehr für die Zeit nach seinem Tod. Schon 1832 gab es eine erste, erfolglose Initiative, es zum Museum umzuwandeln, und so ging es jahrzehntelang weiter, immer gegen den Widerstand der noch lebenden Enkel. Sie konnten sich wohl vorstellen, Goethes umfangreiche Sammlungen zu veräußern, nicht jedoch das Gebäude, das sie als Zuflucht und Stammsitz ansahen, auch wenn sie teilweise an völlig anderen Orten lebten. Die Enkel hatten jedoch keine Nachkommen, und als das Goethehaus 1885 per Testament an das Großherzogtum Weimar überging, schien die Umwandlung in eine Gedenkstätte nur logisch.
Wie schon gegen Ende von Goethes Lebenszeit avancierte das Goethe-Nationalmuseum schnell zur Pilgerstätte. Und so schrieben dann Besucher wie Betreiber über das Haus meist im Ton der Heiligenverehrung. Das Goethehaus erfüllte aber von Anfang an auch politische Zwecke – und zwar in dem Maße, wie die Weimarer Klassik für das jeweilige Selbstverständnis des Staates vereinnahmt wurde. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart gibt es keinen deutschen Staat, der sich nicht auf Goethe und Schiller berufen hätte, auch wenn die Werte, für die sie dabei standen, jeweils ganz andere waren. Und die Gedenkstätten, allen voran das Haus am Weimarer Frauenplan, dienten als wichtigste Kristallisationspunkte des Klassikerkults. Damit konnten auch die Geburtshäuser in Frankfurt und Marbach nicht konkurrieren.
Paul Kahl hat die wechselvolle Geschichte des Weimarer Goethehauses bereits vor vier Jahren nachgezeichnet. Seine Monografie Die Erfindung des Dichterhauses basierte auf jahrelanger Archivarbeit und wertete auch hunderte von Quellen aus, die bisher nirgendwo berücksichtigt worden waren. In seiner Akribie ist das Buch ein Meilenstein der Goetheforschung. Es trägt aber auch unübersehbar Elemente einer Streitschrift, denn Kahl geht insbesondere mit der Instrumentalisierung des Klassikergedenkens im Nationalsozialismus und in der DDR ins Gericht. Insbesondere in Teilen des Weimarer Bürgertums traf Kahl damit auf erbitterte Ablehnung. Kristallisationspunkt war vor allem der ehemalige Museumsleiter Hans Wahl (1885–1949), der dem Haus von den letzten Tagen des Kaiserreiches bis in die Zeit der sowjetischen Besatzung vorstand. Gerade in der DDR galt Wahl als integrer Philologe, der es geschafft hatte, die Klassiker-Gedenkstätten durch schwere Zeiten zu steuern, ohne sie zu kompromittieren. Kahl zeichnete dagegen ein ganz anderes Bild – bei ihm diente sich der Nationalkonservative Wahl den verschiedenen Regimes je nach Bedarf an und fiel besonders nach 1933 durch eine große Nähe zum Nationalsozialismus auf. Dass Wahls Rolle sehr viel zweifelhafter war, als dieser nach 1945 zugab, war keine ganz neue Erkenntnis. Kahl ist längst nicht der einzige, der solche Thesen vertritt – ähnliches kann man im Band Hans Wahl im Kontext der Publications of the English Goethe Society oder in W. Daniel Wilsons Der faustische Pakt nachlesen, einer Studie zur Geschichte der Goethe-Gesellschaft im „Dritten Reich“. Andere hielten dagegen, namentlich Volker Wahl als ehemaliger Leiter des Goethe- und Schiller-Archivs. Er bezeichnete die Kritik an Hans Wahl als „historischen Exorzismus“ und sah dessen Aussagen vorwiegend „in ihrer Zeit- und Zweckgebundenheit und in der ihm aufgezwungenen Rolle“ begründet. In Weimar hatte die Kontroverse ebenso sichtbare wie umstrittene Konsequenzen, nämlich die Umbenennung der Hans-Wahl-Straße in den historischen Namen Über dem Kegeltore. Keine Kleinigkeit, denn dort lag und liegt das zeitweise gleichfalls von Hans Wahl geleitete Goethe- und Schiller-Archiv, das seine Anschrift als Reaktion auf die Umbenennung an die benachbarte Jenaer Straße versetzen ließ.
Kahls Dichterhaus-Projekt besteht aber nicht nur aus der Monografie. Dazu gehören auch zwei monumentale Bände mit mehr als zweitausend Quellen zur Geschichte des Goethehauses, die von Goethes Lebzeiten bis zur Jahrtausendwende reichen. Der erste erschien 2015 zugleich mit der Monographie, der zweite – der Anlass dieser Rezension – erst jetzt. Diese Verzögerung ist dem gewaltigen Umfang geschuldet; dabei ist das, was Kahl auf zusammen annähernd 2.000 Seiten bietet, bereits ein Destillat aus einer viel größeren Menge von Texten.
Was Hans Wahl angeht, kann Kahl seine Thesen anhand der Quellen plausibel untermauern – ohne dass diese Rezension ein letztgültiges Urteil über Wahls Verhalten fällen will. Mit der Frage nach der jeweiligen Instrumentalisierung Goethes berührt Kahls Projekt in der Tat einen wunden Punkt. Dass es sie gegeben hat, ist unbestritten – aber ist sie verschwunden? Seine Quellensammlung legt eher das Gegenteil nahe. In der ersten Dekade nach der Vereinigung war es vor allem der Konflikt zwischen „Ossis“ und „Wessis“, der dominierte. Das galt für westdeutsche Feuilletonredakteure, die mit dem DDR-Funktionärswesen und seinem sozialistischen Goetheverständnis ins Gericht gingen. Es galt aber auch für die Thüringer Landeszeitung aus Erfurt, die sich 1999 über den damaligen Museumsdirektor Gerhard Schuster echauffierte – man glaube sich „auf einen ostelbischen Gutshof zurückversetzt, wo ein mokanter Herrenreiter seine Leibeigenen kujoniert. […] Schuster wähnt sich durch Herkunft, Studium und Arbeit im Westen seinen Mitarbeitern weit überlegen; die von ihm kaltgestellten Kollegen sind Ostdeutsche; ihnen mutet er offenbar gerade mal Laufburschendienste zu“. Ist es übrigens möglich, dass der lokale Widerwille gegen die Thesen des im Westen aufgewachsenen Kahl ähnlich motiviert war?
Eine andere Frage ist, ob sich eine ‚Instrumentalisierung‘ Goethes überhaupt vermeiden lässt, solange sich der jeweilige Staat auf die ‚wahren Werte‘ der Weimarer Klassik beruft, und zwar auf jeweils andere. Schließlich lassen sich sehr unterschiedliche Ansichten durch Goethe-Zitate untermauern, wenn man ihn nicht historisch und differenziert betrachtet, sondern zum Bannerträger und Stichwortgeber verkleinert. Dieses ‚Sich-Berufen-auf‘ gibt es nach wie vor, auch wenn Kahl in der Monografie unter Berufung auf Dieter Borchmeyer argumentiert hatte, die heutige Bundesrepublik sei der erste deutsche Staat seit 1871, der sich nicht auf die Weimarer Klassik als zentrales Kulturparadigma stütze. Das mag zwar stimmen in dem Sinn, dass es kein einheitliches, staatlich vorgegebenes Dogma zur Goethe-Rezeption mehr gibt, dennoch berufen sich politische Akteure weiterhin auf Goethe. Ein schlagendes Beispiel liefert Kahls Textsammlung selbst: Als der damalige Stiftungspräsident Bernd Kauffmann den chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng 1994 im Goethehaus empfing, begrüßte er den Gast mit einer Rede, in der er das Goethehaus ein „Stein gewordenes Zeugnis der deutschen Klassik, eines Denkens und einer Haltung“ nannte, „die der Würde, der Freiheit und der Unverletzlichkeit der Person auf das tiefste und höchste verbunden ist“. Peng verstand diese Botschaft sehr wohl, unterbrach Kauffmann und beendete seinen Besuch auf der Stelle – ein Eklat, mit dem sich die Stiftung nicht nur Freunde machte, insgesamt aber doch Rückhalt von der Bundesregierung und dem Land Thüringen bekam. Umgekehrt kann man wetten, dass eine „Entsiffung“ des deutschen Kulturbetriebs, wie sie AfD-Kulturpolitiker Marc Jongen in einem Tweet androhte, sich wesentlich auf Goethe und Schiller berufen würde – nur eben nicht auf deren Humanität und Toleranz. Sie müssten wohl als Beispiele einer unhinterfragbaren Größe deutscher Kultur herhalten, ganz nach den gängigen Topoi der Zeit zwischen 1871 und 1945.
Aber auch wo es nicht direkt um eine politische Instrumentalisierung Goethes und des Goethehauses geht, ist es erhellend, die immer wiederkehrenden Konflikte um adäquate Formen des Gedenkens nachzulesen. Erstaunlich oft verlief diese Linie zwischen innovationsfreudigen Erbverwaltern und auf die Gewohnheit pochenden Besuchern. In abgemilderter Form war das selbst in den 1990er Jahren noch der Fall, als man alle nicht-authentischen Objekte aus dem Gartenhaus im Ilmpark entfernte und eine karge, aber verbürgte Innenausstattung zurückließ. „Das überheblich Korrekte“ wollte eine Besucherin nicht gelten lassen und fragte: „Warum, warum nimmt man den wenigen Menschen, die noch für Vergangenes Muße haben die Illusionen?“. Noch kontroverser wurde es, als man 1999 zum Kulturhauptstadtjahr wagte, eine exakte Kopie des Gartenhauses neben das Original zu stellen (die man heute im nahen Bad Sulza besichtigen kann). Auch diesen Sturm der Entrüstung kann man hier noch einmal nachlesen.
Wie gerade die Beispiele aus den 1990er Jahren zeigen, enthält Kahls Textsammlung nicht nur Dokumente, die seine eigenen Thesen aus der Monografie stützen – sondern gerade auch widersprechende Stimmen. Seine Quellensammlung ist ein Großmosaik, das von seiner Vielstimmigkeit und Differenziertheit lebt und in der sich viele Perlen finden, die noch gar nicht zur Sprache kamen – wie die Auszüge aus Franz Kafkas und Max Brods Reisetagebüchern oder ein Traum Walter Benjamins, in dem er an einer langen Tafel mit Goethe Platz nimmt, in einem Goethehaus, das mit dem realen keine Ähnlichkeit hat. Noch dazu werden viele Quellen hier erstmals zugänglich gemacht, einschließlich Erinnerungen von früheren Thüringer Landesoberhäuptern wie Bernhard Vogel und seiner Nachfolgerin Christine Lieberknecht, die eigens für diesen Band niedergeschrieben wurden. Streiten kann man sich darüber, ob man die Quellen in der Folge der geschilderten Ereignisse anordnen sollte, wie es Kahl tut, oder ob man sie in der Reihenfolge des Entstehens hätte abdrucken sollen, denn mitunter liegen Jahre oder sogar Jahrzehnte zwischen einem Vorfall und seiner Niederschrift. Letztlich hat Kahl aber wohl die richtige Entscheidung getroffen. Alles andere hätte den Lesefluss deutlich gehemmt; zudem ist es die Geschichte des Hauses, die im Mittelpunkt steht, nicht die seiner Betrachtung – ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. Manche Quellen hätte man sich weniger zusammengekürzt gewünscht; viele „Auszüge“, die aus Platzgründen auf drei, vier Zeilen eingedampft sind, hätten deutlich mehr Kontext vertragen. Vermutlich hätte das Material gereicht, um es auf zwei etwas umfangreichere Bände zu verteilen. In jedem Fall ist auch der zweite und letzte Band von Kahls Quellensammlung ein wichtiges und gelungenes Buch, an dem nicht vorbekommt, wer sich mit der Weimarer Klassik und ihrem Nachleben beschäftigt.