Verdichtung der Existenz

Die abgedruckten Gespräche und Interviews über einen Zeitraum von nahezu sieben Jahrzehnten ermöglichen Aufschlüsse über Entwicklungen wie auch Konstanten in Ernst Jüngers Denken

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Lebenswerk Ernst Jüngers (1895–1998) ist auf ungewöhnliche Weise mit den Abgründen und Widersprüchen des 20. Jahrhunderts verknüpft. Es ist somit unvermeidbar, dass im vorliegenden Band Gespräche im Weltstaat. Interviews und Dialoge 1929–1997 bestimmte biografische Fixpunkte mehrfach zur Sprache kommen. So war es für Jünger in gewisser Weise bedeutsam, dass im Jahr seiner Geburt etwa die Röntgenstrahlen entdeckt wurden oder in Frankreich die Dreyfus-Affäre ihren Lauf nahm. Er sah in diesen Ereignissen sowohl das kommende Atomzeitalter angelegt, wie auch das Obsiegen einer kritischen Öffentlichkeit. Jünger hatte in seinem Leben an zwei Weltkriegen aktiv teilgenommen und zwei Mal – 1910 und 1986 – durfte er den an der Erde vorbeiziehenden Halleyschen Kometen erblicken. Dieser Fingerzeig des Kosmos stellte für Jünger mehr als lediglich ein außergewöhnliches Ereignis dar, zumal er bis ins hohe Alter kosmische Kräfte mit den Titanen im Wettstreit sah.

Als der 100-jährige Ernst Jünger nach seiner Lektüre befragt wird, nennt er neben Victor Hugo auch die Stanzen von Ariost, die er manchmal anstelle des Frühstücks lese: „Während des Ersten Weltkriegs hatte ich ihn immer bei mir, in meinem Brotbeutel, in der Reclamausgabe, übersetzt von Gries. Ich las ihn während der Kampfpausen und zu Zeiten der Rast“. Dann erwähnt der greise Ernst Jünger Johann Wolfgang Goethes Faust, Theodor Fontane und andere Klassiker, auf die er immer wieder mit Gewinn zurückgegriffen hat: „In meinem Leben waren die Klassiker oft die Schiffe, die mich über Zeit und Raum hinausführten. Manchmal habe ich den Eindruck, daß ich in den Büchern intensiver als in den Ereignissen meines Jahrhunderts gelebt habe“ – eine für das lange und ereignisreiche Leben Ernst Jüngers bezeichnende Schlüsselstelle.

Bei allen Phasen in Jüngers bemerkenswertem Leben lässt sich die Kontinuität der Lust auf Abenteuer, der Kultivierung von Wahrnehmung und einer intellektuellen Transzendierung der vorgegebenen Wirklichkeit nachweisen.

Jüngers literarisches Verfahren wird zutreffend mit der von ihm entwickelten „stereoskopischen Sichtweise“ umschrieben, die in einem magischen Realismus „den zwei Dimensionen des Bildes die Empfindung der Tiefe hinzufügt“. Im Gespräch mit Jacques Le Rider bringt Jünger sein Leben als Leser wie auch als Schriftsteller auf den Punkt: „Die Literatur ist für mich eine Verdichtung der Existenz“

Das mörderische 20. Jahrhundert hat Ernst Jünger als Augenzeuge durchlebt. Oft genug war er den Zentren des Geschehens näher, als ihm lieb sein konnte. Umso aufschlussreicher fallen seine Erinnerungen als Teilnehmer zweier Weltkriege und vor allem bezüglich der Jahre während der Hitlerdiktatur aus. Im Laufe seines langen Lebens hatte Jünger Bekanntschaft mit etlichen bedeutsamen Weggefährten und Zeitgenossen gemacht. Seine Auskünfte über Begegnungen mit so unterschiedlichen Charakteren wie etwa Ernst Niekisch, Alfred Kubin, Gerhard Nebel, Valeriu Marcu, Martin Heidegger und selbstverständlich Carl Schmitt kommen immer wieder zur Sprache. Zudem äußert sich Jünger über seine Bekanntschaft mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand, den er wiederholt getroffen und auch in seinem Haus in Wilflingen als Gast empfangen hatte.

Stichworte aus den Gesprächen mit Ernst Jünger umkreisen so unterschiedliche Komplexe wie die Skizzierung eines künftigen Weltstaates, Überlegungen zur Rolle der Religion und des mythischen Denkens aber auch kulturkritische Einlassungen zum Kino.

Die in den Jahren 1996/1997 von Björn Cederberg unter dem Titel Letzte Gespräche mit Jünger wie auch seiner Frau Elisabeth geführten Unterhaltungen greifen in erhellender Weise auf Jüngers lebenslange Beschäftigung mit der Welt der Käfer auf: „Das ist die Familie innerhalb der Zoologie, die die meisten, größten und merkwürdigsten Variationen aufweist“. Jünger unterstreicht neben der Schönheit der Coleoptera den Wert des Sammelns an sich, welchen er als „Ordnungsvorgang, der die ganze Weltordnung berührt“ hervorhebt.

Gespräche im Weltstaat bietet eine vorzügliche Ergänzung zu den beiden aktuellen Jünger-Biografien von Helmuth Kiesel und Heimo Schwilk, indem sie Jünger selbst in Äußerungen und Gesprächen im Zeitraum von 1929 bis 1997 zu Wort kommen lassen. Ein authentischer Ernst Jünger lässt sich somit vernehmen, sprudelnd in seinen Einfällen, treffend in seinen Charakterisierungen und nachdenklich im Gewirr der Zeiten: „Je mehr die Vermassung wächst, desto größer ist der Wert und die geistige Kraft jener sehr wenigen, die fähig sind, sich ihr zu entziehen“.

Titelbild

Ernst Jünger: Gespräche im Weltstaat. Interviews und Dialoge 1929-1997.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019.
575 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783608961263

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