Auf der Suche nach der Wahrheit

Mit Robert Menasses „Die Hauptstadt“ auf dem Reportagen Festival in Bern

Von Valerie HantzscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Valerie Hantzsche

„Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen.“

Ist es Zufall, mit Robert Menasses Die Hauptstadt in der Tasche am wohl letzten Sommerwochenende 2019 – einem bedeutenden Wahlwochenende für zwei deutsche Landtage – das erste Reportagen Festival in Bern (30.08.-01.09.19) zu besuchen?

Unter dem Titel „Erzählte Welten“ werden dort Reporterinnen und Reporter aus der ganzen Welt begrüsst, um von ihrer täglichen Arbeit, ihren Texten und den Geschichten dahinter zu erzählen. An unterschiedlichen Orten in der beschaulichen Berner Altstadt werden die journalistischen Werke greifbar, die Journalistinnen und Journalisten lassen große Themen für die Zuhörer lebendig werden, die aus der täglichen Berichterstattung allzu bekannten Fakten werden Erzählung. – Wir alle wissen um die syrischen Kriegsschrecken, die Informationszensur in China oder die Repressionen gegen freien Journalismus in Russland. Doch wenn Rania Abouzeid, Mikhail Ratgauz und Wu Qi dem Thema der „Unfreien Presse“ bei der gleichnamigen Panel-Diskussion ein Gesicht verleihen, dann realisiert man, was auf dem Spiel steht, wenn es nur noch eine Wahrheit gibt. Als Daniel Howden, Taina Tervonen, Annalisa Camili und Giacomo Zandonini über die „Gefährlichen Routen“ der Flüchtlinge und ihre ganz persönlichen Erlebnisse mit den Menschen vor Ort auf den Booten im Mittelmeer, in den Sammelpunkten oder unterwegs im nördlichen Afrika berichten und dem Publikum einen Einblick in diese Parallelwelt ermöglichen, werden die teils phrasenhaften Diskurse der europäischen Politik reale Geschichten und sind doch brutale Realität.

Das Bühnenstück Sotschis Soundtrack, inszeniert als szenische Lesung von Michael Schönert im Theater am Käfigturm, kommt zunächst als kunstvolle und vielstimmige Erzählung daher, ist aber doch die Realität hinter Putins Prestige-Projekt, den Olympischen Spielen am Schwarzen Meer. Dmitrij Gawrisch hat in seinem als Vorlage dienenden Reportagen-Text ausschließlich den O-Ton der Menschen vor Ort verwendet. Die Berner Bühnenfassung zeigt damit auf virtuose Weise das spannungsvolle Verhältnis von Fakten und Fiktion, was das Textgenre Reportage ausmacht. Moritz Aisslinger, Mitarbeiter im Dossier der ZEIT, berichtet von seiner Reportage über den Neurowissenschaftler Nikos Logothetis, der bahnbrechende Grundlagenforschungen zu degenerativen Hirnerkrankungen durchgeführt hat. Diese hat er nach einer öffentlichkeitswirksamen Enthüllungsstory durch Stern-TV und den TV-Sender RTL über angeblichen Tiermissbrauch eingestellt. In der ZEIT-Reportage, die auch für den True Story Award des Festivals nominiert war, versucht Moritz Aisslinger, das mediale Bild des Forschers zu hinterfragen, ohne selbst eine abschließende Version von ihm zu präsentieren.

Sich im Kleinen mit dem beschäftigen, was das Große ausmacht; den bekannten Fakten ein Gesicht verleihen, die Geschichte „dahinter“ erzählen, zeigen, dass es nicht nur die eine „wahre“ Geschichte gibt – das zieht sich wie ein roter Faden durch all die Texte und Geschichten an diesem Wochenende in Bern, das damit den Kernbegriff unserer Tage zu umkreisen scheint: Wahrheit.

Was ist Wahrheit? Wer beansprucht sie für sich? Wer „erzählt“ die „wahre Geschichte“? – Wahrheit, deren Verständnis und der Umgang damit ist unter dem Schlagwort der „fake news“ fester Gegenstand unserer politisch-öffentlichen Debatte, hat aber auch jüngst in der Rezeption verschiedener Romane wie auch Menasses Die Hauptstadt öffentlichkeitswirksam, da mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichnet, eine neue Konjunktur erfahren. Die Frage nach dem Verhältnis von Fakten und Fiktion ist in der literarischen Rezeption nicht neu, gewinnt aber in ungewissen Zeiten wie den unsrigen eine neue Dimension.

„In Brüssel laufen die Fäden zusammen – und ein Schwein durch die Straßen.“ – Was erzählt Menasses Werk, was will es sein? Der erste EU-Roman? Eine Parodie auf die Europäische Union? Ein Abgesang auf dieses große supranationale Gebilde? Oder gar ein Bekenntnis zu Europa in Zeiten, in denen viele das Ende dieser einmaligen Staatengemeinschaft längst eingeleitet sehen?

Menasses Thema – die Europäische Union – umgibt uns täglich und bleibt vielen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner gleichwohl fremd. Kann ein derartig komplexes Gebilde wie die EU möglicherweise nur als abstraktes, durchbürokratisiertes Gefüge Bestand haben? Im Roman wird diese Komplexität nicht negiert, vielmehr zum poetologischen Prinzip des Textes erhoben: Menasses Europabild entfaltet sich dem Leser als ein Flickenteppich aus Einzelgeschichten, aus individuellen Biographien, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch alle im europäischen Brüssel zusammenlaufen. Damit gelingt etwas, das auch jenseits des literarischen Felds beachtenswert sein müsste: Die oftmals unfassbare EU bekommt Gesichter – nicht ein Gesicht, sondern eine Vielzahl an Gesichtern. Von Fenia Xenopoulou, der griechisch-zypriotischen berechnenden Karrieristin, über David de Vriend, einen der letzten Auschwitz-Überlebenden, der zwischen Erinnern und Vergessen in einem Brüsseler Altenheim lebt und nun zum Ehrengast des als Prestigeprojekt geplanten Jubilee Project werden soll, zu Martin Susman, Beamter der Generaldirektion „Kultur und Bildung“, der ausgerüstet mit EU-richtlinienkonformer Thermounterwäsche auf den Gedenkfeierlichkeiten in Auschwitz die Idee zum genannten Projekt entwickelt.

In dieser Vielzahl an Einzelgeschichten und biographischen Exkursen braucht es einen aufmerksamen Leser, der sich so zugleich der Komplexität des europäischen Verwaltungsapparats stets bewusst ist. Zugleich sind es gerade die skurrilen erzählerischen Nebenprodukte wie die Beschreibung der EU-Cycling-Group, in der jeder beitretende Beamte mit einem eigenen Personal Trainer den sichersten Arbeitsweg per Rad eruiert und gleichzeitig darin geschult wird, wie am geschicktesten im Vorbeifahren „Sie-stehen-im-Weg“-Kleber auf falsch parkende Autos zu kleben sind, die das Verwaltungskonstrukt EU vorstellbar machen. In diesen teils parodistischen Passagen macht Menasse, der für den Roman eine intensive Recherche vor Ort durchgeführt hat, seine Sichtweise auf vermeintlich überbürokratische Abläufe und starre Strukturen in Brüssel deutlich. Auch das zum Teil immer noch vorherrschende Denken in nationalen statt in europäischen Dimensionen wird nicht verschwiegen.

Menasse liefert so mit seinem Werk – genau wie viele der in Bern präsentierten Reportagen –  kein auf einen einzelnen Begriff zu bringendes Bild, in diesem Fall von Europa, keine abschließende Antwort auf die Frage danach, was die EU denn eigentlich sei. Doch gerade das ist es, was den Leser nach der Lektüre mit dem Eindruck zurücklässt, dass genau das das „wahre Europa“ ist: zerrissen und doch geeint in einer mehr oder minder diffusen europäischen Idee. Menasses Protagonisten machen deutlich, dass diese Idee von Europa noch immer als "work in progress" zu verstehen ist. – Eine hoffnungsvoll stimmende Diagnose, wenn man wie Martin Susman, eine der Romanfiguren, verhindern will, dass das vielbeschworene Europa lediglich zur Phrase wird.

Ob EU-Kritiker oder -Befürworter, sie alle bekommen bei Menasse ein wahrscheinlich treffenderes Bild der Europäischen Union präsentiert als die meisten bekannten. Was dieses Bild aber genau ist, darauf sollte jeder – wie die Romanfiguren – eine eigene Antwort finden; der tatsächliche Wert besteht darin, dass genau dies möglich ist. Die europäische Idee lebt von ihrer Vielfalt und ihrem Möglichkeitsspektrum!

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen