Aus der Werkstatt in die Praxis

Franz Schultheis berichtet von der konkreten Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu

Von Markus Oliver SpitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Oliver Spitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franz Schultheis, in Paris bei Pierre Bourdieu habilitiert, hat sich insbesondere in seiner Funktion als  Mitherausgeber der Schriften um die Bekanntheit Bourdieus im deutschsprachigen Raum verdient gemacht. Als Herausgeber der Reihe édition discours beim Universitätsverlag Konstanz und als Mitglied des Redaktionskomitees von Actes de la recherche en sciences sociales ist er sozusagen ein Weggefährte, wenn nicht der ersten Stunde, so doch ab den 1980er Jahren.

Sein nunmehr erschienener „Erfahrungsbericht“ ist in gewisser Weise ein Werkstattbericht der Zusammenarbeit mit dem französischen Kollegen, der auch Einblicke in die Person Pierre Bourdieu vermittelt, ohne dabei jedoch eine Hagiografie zu sein. Knapp, aber aussagekräftig werden die Projekte Bourdieus zum Zweck der Einbindung kritischer Intellektueller in kollektive Strukturen vorgestellt.

In Das politische Feld, 2001 auf Deutsch erschienen, hatte Bourdieu formuliert: „Wenn ich wünsche, dass Wissenschaftler und Künstler im politischen Feld Fuß fassen, dann nicht deshalb, damit sie dort die Macht ergreifen. […] Man müsste heute eine Internationale von Intellektuellen schaffen, die in einer kritischen Instanz zusammenarbeiten würden“. Einzig auf diese Weise sei es möglich – so heißt es an anderer Stelle, nämlich in Intellektuelle, Markt und Zensur – , eine „Gegenmacht zu den nationalen und supranationalen ökonomischen, politischen und  massenmedialen Mächten zu setzen“, also dem Neoliberalismus Paroli zu bieten.

Konstatieren lässt sich in diesem Zusammenhang erstens, dass die politisch neutrale Position des Intellektuellen als Wissenschaftler zugunsten einer engagierten Haltung geräumt worden ist, dies allerdings nicht ohne das Wissen, dass der Habitus der Intellektuellen sie leicht dazu verleiten kann, das Ausmaß an subjektiver Freiheit zu über- und die Einflussnahme seitens Ökonomie, Politik und der Medien auf das intellektuelle Feld zu unterschätzen.

Zweitens hatte diese Sicht konkrete Auswirkungen auf Bourdieus eigene Arbeitsweise. War er zu Beginn seiner Karriere bei seinen Feldforschungen in Algerien noch weitgehend auf sich allein gestellt gewesen, so sammelte er in der Folgezeit einen Mitarbeiterstab um sich, bestehend unter anderem aus Jean-Claude Passeron, Jean-Claude Chamboderon und Luc Boltanski. Dies ist deutlicher Ausdruck der Einsicht, dass die Zeit der Universalgelehrten passé ist und es für die wissenschaftliche Bearbeitung selbst eng definierter Fragestellungen der Zusammenarbeit mit anderen bedarf.

Drittens die Gewissheit, dass eine derartige Internationale der Intellektuellen unmöglich störungsfrei konstituiert werden kann. Ein schlagendes Beispiel für die Verständigungsschwierigkeiten selbst unter  Intellektuellen mit vergleichbarem Primär-Habitus gibt Schultheis, wenn er über das von ihm organisierte Treffen zwischen Günter Grass und Bourdieu berichtet, das später von Arte ausgestrahlt werden sollte: „Grass hatte freundlicherweise die deutsche Ausgabe von Das Elend der Welt […] auf dem Tisch platziert und begann das Gespräch auch mit wohlwollenden Anmerkungen zum Buch. Als er aber im weiteren Verlauf fragte, warum in diesem Werk so wenig gelacht wurde […], verschlug es Bourdieu endgültig die Sprache und er konnte nicht wirklich wieder Fuß fassen“. Der Genese dieses von Grass offenbar oberflächlich rezipierten Werkes, das im deutschsprachigen Raum neben Die feinen Unterschiede die wohl größte Wirkung erzielte, widmet Schultheis den Anfang seines Kapitels „Forschen mit Bourdieu“, das am Centre de Sociologie Européenne angesiedelte Projekte thematisiert.

Ein ungleich gravierenderes Hindernis stellen allerdings Intellektuelle dar, welche sich medial zu Fragestellungen äußern, für deren Beantwortung sie wissenschaftlich nicht ausgewiesen sind, denn dies trägt laut Bourdieu letztlich zur Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse bei. Zu bedenken sind in diesem Zusammenhang die Extremfälle des Einkaufens von Wissenschaftlern seitens politisch oder ökonomisch motivierter Thinktanks mit dem Ziel, die mühsam erworbene wissenschaftliche Autorität kritischer Intellektueller im medial vermittelten Eilverfahren zu diskreditieren.

Eingedenk all dieser potenziellen Schwierigkeiten unternahm Bourdieu es dennoch frühzeitig, seine Idee in die Praxis umzusetzen. Die Actes de la recherche en sciences sociales, eine bereits 1975 von ihm mitgegründete Fachzeitschrift, sind Ausdruck dessen, was Schultheis zu Recht als „kollektives Produkt“ bezeichnet. Er weist nach, dass viele der umfangreicheren Arbeiten Bourdieus dort angelegt und dann überarbeitet worden sind. Auch die von Bourdieu ins Leben gerufene Reihe Le sens commun diente als Plattform für die Veröffentlichung allerdings nicht nur eigener, sondern auch von nationalen wie internationalen FachkollegInnen verfasster Arbeiten.

Die Entwicklung und Programmatik sowie die enormen organisatorischen Schwierigkeiten von Liber, der internationalen Buch-Revue, die zwischen 1989 und 1998 mit der Absicht erschien, die Selbstgenügsamkeit der im jeweiligen nationalen Feld Forschenden zu überwinden, zeichnet Schultheis gleichfalls nach. Er zieht jedoch das ernüchternde Fazit, dass dieses Projekt letztlich „an genau den Problemen interkultureller Kommunikations(un)fähigkeit scheitern sollte, gegen die es angehen wollte“. Weitaus mehr Breitenwirkung als mit der Revue erzielte Bourdieu mit seinen Veröffentlichungen im Verlag Raisons d’agir. Sur la télévision (1996) und Contre-feux 1 et 2 (1998 bzw. 2001) stießen im Original wie auch in Übersetzung selbst jenseits des Fachpublikums auf breites Interesse.

Auch wenn viele dieser Projekte insofern gescheitert sind, als dass sie – wie beispielsweise das internationale Forschungsnetzwerk ESSE (Pour un espace des sciences sociales européennes) – nicht von Dauer waren oder die soziologische Nabelschau nicht zu überwinden vermochten, so bleibt besagtes „Scheitern“ dennoch insofern relativ und produktiv, als dass sowohl die Actes als auch Raisons d’agir fortbestehen und eine Inspirationsquelle für Autoren wie Verleger darstellen. Nicht zuletzt trägt auch die 2005 ins Leben gerufene Stiftung Pierre Bourdieu mit Sitz in Genf, deren Präsident Schultheis seit ihrer Gründung ist, dazu bei, Forschung und Publikationen, auch und gerade des wissenschaftlichen Nachwuchses, im Geiste ihres Namensgebers zu ermöglichen.

Titelbild

Franz Schultheis: Unternehmen Bourdieu. Ein Erfahrungsbericht.
Transcript Verlag, Bielefeld 2019.
104 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783837647860

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