„Norwegern fällt es schwer, ‚Ich‘ zu sagen“

Ein Gespräch mit Tomas Espedal

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Tomas Espedal behauptet von sich, er würde in jeder Lebenslage schreiben. Immer führe er sein Notizbuch mit sich: „Es ist meine Arbeit. Ich bin ein Schreib-Arbeiter“. Auch als wir ihn in der Bar eines Kölner Hotels treffen, liegt ein vollgeschriebenes Notizbuch vor ihm, in das er gerade noch geschrieben hat. Auch unser Gespräch wird sich in der kommenden Stunde fast ausschließlich um die lebenswichtige Bedeutung des Schreibens drehen. Dabei stellt sich Tomas Espedal als offener, schonungsloser Gesprächspartner heraus, der ohne Schwierigkeiten von sehr intimen Dingen sprechen kann. Demnach gleicht der norwegische Schriftsteller dem Erzähler seiner autobiographischen Romane, von dem er vorgibt, seinem wahren Ich zu entsprechen – soweit das im fiktionalen Spiel um Identität möglich ist.

 

Leider können wir nur über jene ihrer Bücher sprechen, die ins Deutsche oder Englische übertragen wurden, verzeihen Sie also die Wissenslücken…

Ich bin sehr froh, dass nicht alle meiner Bücher übersetzt wurden. Ich habe 15 geschrieben, aber nur neun davon sind gut. Sie wollten auch die anderen übersetzen, aber ich habe es ihnen untersagt. Sie sollen bitte nur die guten Sachen übertragen.

Auf dem Weg hierher habe ich nochmal Gehen gelesen, das 2006 erstmals erschienen ist. Da schreiben Sie über lange Spaziergänge, um zu sich selbst zu finden. Machen Sie das immer noch?

Ja, es ist Teil meiner Arbeit. Im Grunde tue ich das, weil ich in der Regel zwei Jahre an einem Buch sitze. Wenn ich aber ein Buch schreibe, trinke und rauche ich, also geht es mir gesundheitlich danach sehr schlecht. Also gehe ich nach diesen zwei Jahren mit einem Freund einfach los. Das ist nicht so romantisch, wie es klingen mag, es geht primär darum, meine Gesundheit wiederzuerlangen. Aber es ist auch ein Privileg, denn Gehen ist so eng mit Denken und Sehen verbunden, und es entstehen immer neue Ideen in diesen Zeiträumen. Also mache ich es immer noch. Ich habe keine Wahl, ich wäre wahrscheinlich längst tot, wenn ich es nicht machen würde.

Geht es Ihnen beim Gehen denn vor allem darum, eins mit Ihrer Umwelt zu werden und neue Eindrücke aufzunehmen, die in Ihre Kunst fließen können, oder auch darum, Erinnerungen hervorzurufen und zu sammeln? Denn darum geht es in Ihren Büchern, um Erinnerungen…

Es gibt ja verschiedene Arten des Gehens. Philosophen haben ja immer kurze Spaziergänge unternommen, denn wenn sie ein philosophisches, oder auch literarisches Problem lösen wollen, sollte das Gehen den Körper nicht zu sehr fordern. Wenn ich aber, und darum geht es ja in dem Buch, schwere, lange Wanderungen unternehme, in den Bergen etwa oder zu Fuß ein Land durchquere, da denkt man an ganz andere Dinge. Meistens sogar an gar nichts, ich entspanne einfach. In Städten zu gehen ist natürlich eine andere Sache, da wimmelt es nur so von Eindrücken und Ideen, man ist den Dingen näher. Ich liebe es aber, ein Land zu durchqueren, ich war schon in Deutschland, Spanien, der Türkei oder Rumänien. Man wird politisch radikaler, wenn man zu Fuß ein Land erkundet. Fliegt man nach Rumänien, bekommt man nichts vom Land mit. Fährt man mit dem Zug, sieht man ein bisschen was. Läuft man durch Rumänien, sieht und lernt man eine Menge über das Land. Europa ändert sich, und man sieht die Armut und versteht einfach mehr.

Ihre Bücher handeln von Erinnerung. Würden Sie sagen, dass Ihre Texte Versuche darstellen, die eigene Erinnerung greifen zu können. Mit ihr leben zu lernen?

Ja. Beim Gehen kann ich Erinnerung nicht strukturieren, wenn ich am Schreibtisch sitze und mich konzentriere, geht das. Erinnerung ist für mich nichts Wissenschaftliches, sondern etwas, das durch den Geist erschaffen wird. Stellen Sie sich vor, Sie wollen sich an Ihre Kindheit erinnern, aber da ist erstmal nichts. Zumindest nichts Zusammenhängendes. Also denken Sie an die Erste Klasse, den ersten Schultag. Wo waren Sie? Saßen Sie in der Mitte, hinten oder ganz vorne am Lehrerpult? Wer saß vor Ihnen? Ah ja, dieses Mädchen mit den langen Haaren. Und wer saß neben Ihnen? Es ist wie eine Kettenreaktion, bei der immer mehr offenbart wird. Genauso arbeite ich, und das Schreiben selbst ist ein wichtiger Teil dabei.

Einer der faszinierendsten Aspekte Ihres Schreibens ist, dass Ihre Bücher sich immer um die gleichen Themen in Ihrer Vergangenheit drehen. Die Geschichten wiederholen sich, doch stets unter einem anderen Blickwinkel.

Es sind die Themen, die mich auswählen. So war das schon mein ganzes Leben lang. Meine Mutter ist gestorben, als ich sehr jung war. Meine Frau ist gestorben, Freunde sind gestorben und ich schreibe über diese einschneidenden Dinge, die mir wiederfahren sind. So haben sich die Themen langsam entwickelt: Der Tod, Liebe, Familie. Ich habe aber auch aus der Literatur gelernt: Marguerite Duras sagte einmal, dass man gut auf seine Themen aufpassen soll, sie immer weiterentwickeln und immer tiefer gehen muss. Ich habe nicht in Afghanistan gekämpft. Ich muss mich auf die paar Dinge konzentrieren, die ich weiß.

Wenn Sie über die Vergangenheit schreiben: Tun Sie dies, um den Schmerz am Leben zu erhalten oder verfolgt Sie der Schmerz so sehr, dass Sie ihn durch das Schreiben lindern wollen?

Es geht nicht darum, den Schmerz am Leben zu erhalten, sicher nicht! Aber es ist richtig, ich möchte diese Toten bei mir behalten, denn ich vermisse meinen Großvater, meine Großmutter, meine Mutter. Ich hatte eine schöne Kindheit, und doch habe ich sie verloren, und das Schreiben erhält sie am Leben. Und trotzdem ist das nichts rein Persönliches, dass ich meine Mutter in der Erinnerung am Leben erhalten will, denn jeder von uns hatte eine Mutter, Großeltern, eine Kindheit, und wer sehr subjektiv ist, erreicht irgendwann den Punkt, an dem er wieder objektiv wird. Ich habe das aus den Bildern Edvard Munchs gelernt: Er malt seine sterbende Schwester, und es ist sehr persönlich, sehr subjektiv, aber er geht so tief hinein, dass sich jeder darin wiedererkennen kann, wenn er sich darauf einlässt. Und das versuche ich zu bewerkstelligen: Auf eine Art über meine Familie zu schreiben, dass es zu Literatur wird.

Manchmal sind Sie dabei schonungslos. Etwa wenn Sie, in mehreren Ihrer Bücher, den Tod Ihrer Frau beschreiben.

Es war schrecklich. Menschen fragen mich, wie ich nur darüber schreiben kann, aber tatsächlich war es noch viel schlimmer, denn ich habe darüber geschrieben, während sie im Sterben lag. Sie war bei mir zuhause, sie wollte zuhause sterben, und ich war im Nebenzimmer und habe darüber geschrieben. Wenn ich gefragt werde, wie ich so etwas nur tun kann, antworte ich: Weil ich Schriftsteller bin. Ich schreibe immer, unter jeder Bedingung. Das ist mein Beruf. Als ich zwei Kinder alleine großzog, habe ich geschrieben, wenn ich reiste, habe ich geschrieben, wenn ich mich stritt, habe ich geschrieben, ebenso, wenn ich jemanden verloren habe. Es ist eine Perversion, dass ich immer arbeiten muss.

Wie schreiben Sie denn?

Ich schreibe erstmal nur per Hand in meine Notizbücher. Dann korrigiere ich es und tippe es auf einer Schreibmaschine ab. Dann korrigiere ich es noch einmal und tippe es wieder auf einer Schreibmaschine ab. Ich merke sofort, wenn ein Autor sein Buch auf dem PC geschrieben hat. (lacht) Denn: Kein Mensch schreibt den gleichen schlechten Satz dreimal auf. Im PC würde er stehen bleiben, bei meinem Vorgehen wird er enttarnt und fliegt raus. Dann setze ich mich in den Zug nach Oslo und gebe das Manuskript meinem Verleger. Der sagt dann immer: ‚Tomas, Deine Manuskripte gehören ins Museum.‘ Und schickt es nach Indien, wo irgendein armer Teufel das in den PC tippt und zurücksendet. Und dann kann ich es weiterkorrigieren…

Es scheint in Ihrem Schreiben keine Grenze zwischen Fiktion und Autobiographie zu geben. Könnten Sie auch über rein fiktionale Dinge schreiben?

Am Anfang sagte ich ja, dass ich nicht will, dass meine frühen Werke übersetzt werden. Das ist der Grund, es sind recht konventionelle, fiktionale Romane. Sie sind nicht schlecht, aber immer in der dritten Person geschrieben, einer ist sogar ein politischer Roman. Weil ich mir die Frage gestellt habe, ob Bücher zu schreiben nicht eine gewisse Verantwortung mit sich bringt. Es hat aber eh keinen interessiert. Aber dann war ich in Bergen auf der Schreibakademie und habe mit anderen sehr talentierten Autoren eine Gruppe gegründet, in der wir diskutiert haben, wie wir die norwegische Literatur verändern können. Und als das Wichtigste erschien uns der Mut, ‚Ich‘ zu sagen. In Norwegen sind die meisten Bücher in der dritten Person verfasst, weil es Norwegern sehr schwerfällt, ‚Ich‘ zu sagen. Also haben wir in der Gruppe – Karl Ove Knausgård war auch dabei – gesagt: Wir machen die Literatur jetzt ungemütlich, weil wir ‚Ich‘ sagen. Aber damit nicht genug. Wir haben uns am realistischen Roman orientiert, an Autoren wie Balzac, die sehr genau ihre Umwelt beschrieben haben: Straßen, Wohnungen, Menschen. So wollten wir auch schreiben. Mit einem Unterschied: Wir wollten nicht nur ‚Ich‘ sagen, sondern auch die echten Namen nennen. Wir hätten natürlich niemals erwartet, was daraus werden würde. Knausgård hat seine Bücher verfasst und einige wirklich kranken Sachen sind passiert: Klagen, Morddrohungen. Für mich – und für ihn auch – ist dieses große Projekt nun aber vollendet. Ich habe zehn Bücher geschrieben in diesem Stil, einen Romanzyklus. Und es tut gut zu sagen, jetzt ist es vorbei.

Warum glauben Sie können die Leser überhaupt eine so enge emotionale Beziehung zu solch subjektiven Büchern aufbauen?

Weil es gute Literatur ist. Ich habe mit 17 Doris Lessings Martha Quest gelesen. Da ging es um ein Mädchen in Südafrika, aber ich musste weinen, weil bei aller Lokalität in dieser Geschichte universelle Themen behandelt wurden: Kindheit, Erziehung, Rebellion gegen die Eltern. Bestimmte Themen gehören nicht zu einem Mann oder einer Frau oder einem älteren Menschen oder einem jüngeren Menschen.

In jedem ihrer Bücher dieses Zyklus probieren Sie eine andere Gattung aus. Ihr neuestes Werk, Das Jahr, ist ein langes Gedicht.

Ja. Gehen ist ein Reisebericht, Bergeners sind Kurzgeschichten. Dazu gab es ein Tagebuch, einen Briefroman, usw. Das neueste, noch nicht übersetzte Buch, das letzte in der Reihe, ist ein Essay, der den Namen Elsken trägt. Nur Theaterstück und Krimi fehlen, aber das sind nicht so meine Metiers. Das Jahr war ein Experiment. Ich wollte ein Buch über Petrarca schreiben, also nahm ich den Rhythmus des Canzionere, nicht die Reime, den Rhythmus (imitiert den Rhythmus). Ich habe meine eigene Sprache auf vielerlei Arten geändert, bis zur Unkenntlichkeit, was wiederum für mich viel verändert hat. Ich war sehr überrascht von meinem eigenen Schreiben. Und genau deswegen macht man das ja auch, um sich selbst zu überraschen. Ich könnte nicht das gleiche Buch zweimal schreiben. Es musste also ein langes Gedicht sein, das hatte ich zuvor noch nie probiert. Und es fügt sich in das Universum ein, das ich mit diesen zehn Büchern erschaffen wollte.

Und doch würden Sie es als Roman bezeichnen?

Unbedingt! Ich nenne all diese zehn Bücher ‚Romane‘. Der Roman ist ursprünglich eine experimentelle Gattung, Sterne, Cervantes. Es ging darum, die Realität auf neue Arten zu beschreiben. All diese Bücher, die Sie in den Auslagen der Buchläden sehen, das sind doch eigentlich keine Romane. Der Roman muss experimentell sein und sich stets weiterentwickeln. Man kann nicht wie Balzac, Proust, Duras oder Friedericke Mayröcker schreiben, sondern muss seinen eigenen Weg finden. Deswegen bin ich auch so stolz auf dieses Projekt. Die zehn Bücher zusammen sind EIN Roman. Und sie zeigen zehn verschiedene Arten, wie ein Roman aussehen kann.

Petrarcas Canzionere ist aber auch inhaltlich der Referenzpunkt.

Ja, ich habe so etwas aber schon in mehreren Büchern gemacht. Ich trete in den Dialog mit klassischen Texten. In Wider die Natur bin ich etwa in einen Dialog mit Abélard und Héloise getreten. Überhaupt kann ich Lesen und Schreiben nicht voneinander trennen. Ich war damals schon ein älterer Mann und hatte ein viel jüngere Freundin. Und wurde immer wieder mit dem Klischee des alten Mannes und er jungen Frau konfrontiert. Und Abélard ist auch viel älter als Héloise, was für ein Schock, dass der Text 1162 geschrieben wurde und meiner Lebensrealität entsprach. Also habe ich das Thema für Wider die Natur übernommen. Tatsächlich war das Mädchen, Janne, die erste große Liebe, die ich in meinem Leben hatte. Also habe ich sie Jahre später in Petrarcas Laura wiedererkannt. Auch Petrarca sagt, Laura sei seine einzige Liebe gewesen und er werde sie ewig lieben. Ist das aber überhaupt möglich, jemanden ewig zu lieben? Also habe ich mich an eine Untersuchung der ewigen Liebe, basierend auf Petrarca gemacht. Und so fallen Literatur und persönliche Erfahrung in meinen Texten zusammen.

Vielleicht noch ein Wort zur norwegischen Literatur. Der Trend in ihrem Land scheint zur sehr persönlichen, subjektiven Bekenntnisliteratur zu gehen. Neben Ihnen und Knausgård wären etwa Geir Gulliksen, Mona Høvring oder Per Petterson zu nennen. Oder ist das nur eine Beobachtung, weil das eben die Bücher sind, die übersetzt werden?

Nein, im Moment scheint das tatsächlich so zu sein. Es ist eine Phase der norwegischen Literatur. Aber ich bin da der falsche Ansprechpartner, ich lese seit etwa fünfzehn Jahren fast nur noch Lyrik, denn Lyrik ist für meine Arbeit sehr wichtig. Daher interessiere ich mich nicht für den zeitgenössischen norwegischen Roman, die Sprache reizt mich einfach nicht. Norwegische Lyrik ist aber sehr gut, leider wird sie kaum gelesen. Ich hoffe, dass auf der Buchmesse Norwegen auch seine Lyrik in den Fokus stellen wird. Sie wird natürlich nicht ins Deutsche übertragen. Ich werde oft gefragt, was der Sinn des norwegischen Auftritts auf der Frankfurter Buchmesse ist. Und ich frage mich auch: Ist das Ziel, Touristen anzulocken, Lizenzen zu verkaufen, ist es einfach ein wirtschaftliches Ding? Andererseits können wir stolz auf die zeitgenössische norwegische Literatur sein, und das liegt nicht zuletzt auch an der staatlichen Unterstützung. Wir sind reich, weil wir viel Öl haben, und das wird teilweise auch in die Förderung von Literatur gesteckt. Ich habe jahrelang Stipendien gehabt, so wie andere Autoren auch. Deswegen haben wir gut ein Dutzend wichtige Schriftsteller in Norwegen, weil sie vom Staat das notwendige Geld bekommen, um ihrer Arbeit nachzugehen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz