Die Insel und die Hütte

In „Berge“ berichtet Jan Kjaerstad von einem brutalen Anschlag, der zum norwegischen Staatstrauma wird

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jan Kjaerstad ist einer der wandelbarsten Autoren der norwegischen Gegenwartsliteratur. In den letzten Jahren hat er mit seinem leicht surrealen, fiktiven Reisebericht Der König von Europa sowie dem epischen Roman Das Norman-Areal auch in Deutschland zumindest für ein wenig Aufsehen gesorgt und den Lesern bewiesen, dass es auch eine originelle norwegische Literatur jenseits von Karl Ove Knausgård gibt.

Mit dem haben die Texte Kjearstads wenig gemein; tatsächlich verbreiten die meist dicken Romane des 1953 in Oslo geborenen Schriftstellers nicht im Ansatz die melancholische, dunkle Stimmung, die viele gegenwärtige Autoren Norwegens – neben Knausgård etwa Tomas Espedal, Geir Gulliksen, Per Petterson oder Mona Høvring – bevorzugen. Kjaerstads Ton ist lockerer, er liebt das ausführliche Erzählen, Figuren, die ihre Gedanken schweifen lassen, die zweifeln, aber stets auch agieren. Oder es zumindest versuchen.

Mit Berge hat sich Kjaerstad an die Kunst des kontrafaktischen Romans gewagt, obwohl einem das auf den ersten Blick, zumal als Nicht-Norweger, gar nicht so auffallen mag. Die Handlung findet im Jahr 2008 statt und wird sukzessive aus drei Perspektiven erzählt. Im Mittelpunkt steht der grausame Mord an einem hochrangigen Mitglied der Arbeiterpartei, dem Verkehrsminister Arve Storefjeld, sowie dessen Lebensgefährtin, seiner Tochter (einem aufstrebenden Politstar), deren französischen Freund und, besonders schrecklich, dessen achtjähriger Tochter. Den Opfern wurde in Storefjelds abgelegener Waldhütte die Kehle durchgeschnitten, die Polizei sieht sich mit einem beispiellosen Blutbad konfrontiert. Die Antwort scheint eindeutig: Es waren islamistische Terroristen; ein Zeuge behauptet umgehend, er habe einen ausländisch aussehenden Mann mit langem Bart im Wald herumstreunen gesehen.

Der erste Teil wird erzählt aus der Perspektive der Journalistin Ina Wang. Diese war einst ein aufstrebender Stern am Pressehimmel, der jedoch in den letzten Jahren viel an Leuchtkraft verloren hat. Eher aus Langweile hat sie in den letzten Jahren an einer Biografie Storefjelds gearbeitet und sieht in den Morden ihre Chance zum großen Comeback. Tatsächlich gelingt es Wang nicht nur, ihre Karriere zu revitalisieren, sondern auch, den Mord, der ganz Norwegen monatelang in Atem hält, durch einen Zufall aufzuklären: Es war der Exfreund von Storefjelds Tochter Gry, auch er ein gescheiterter Jungpolitiker und Schriftsteller, wohl aus Eifersucht? Oder welche Bedeutung hat sein Blog, der einem Manifest gegen all das gleicht, wofür die Arbeiterpartei zu stehen behauptet? Ist jener Nicolai Berge demnach ein irrer, rechtsextremer Fanatiker, wie die Presse beginnt zu behaupten?

Nach der spektakulären Entdeckung, dass Berge hinter den Morden stecken könnte, endet Ina Wangs Bericht. Der Roman wird nun aus der Perspektive des Richters weitergeführt, der mit der Anklage gegen Berge betraut wird. Anders als der rasante erste Teil, der sich tatsächlich liest wie ein raffinierter skandinavischer Thriller, verlangsamt Kjaerstad mit dem Bericht des Richters erheblich das Tempo und verliert sich leider zu oft in Redundanzen. Am Ende dieser knapp 200 Seiten weiß man viel über den Kleidungsstil und die extravaganten Gewohnheiten jenes Peter Malm, für die Entwicklung des Romans selbst ist dies aber erschreckend irrelevant.

Doch der dritte Teil, erwartungsgemäß geschildert aus der Perspektive Berges, entschädigt für den etwas zähen Bericht des Richters. Teils Kritik an der Sensationsgier der Medien und der fehlenden Reflexionsfähigkeit der Menschen, die sich umgehend einer öffentlichen Mehrheitsmeinung anschließen, ohne diese zu hinterfragen, teils eindringliches psychologisches Porträt eines jungen Menschen, der sich aufgegeben hat, vor allem aber literarisches Verwirrspiel par excellence: Nicolai Berges Bericht ist tief berührend und spannend zugleich. Dazu kommt, dass er sich wie eine Hommage an Roberto Bolaño liest: Berges verzweifelte Suche nach seiner schriftstellerischen Identität, dargestellt anhand dutzender gesammelter Ideen für Romane und Kurzgeschichten, die regelmäßig in seinen Bericht eingestreut werden, erinnert an die Beschreibung des Wirkens jenes Benno von Archimboldi aus 2666. Am Ende jedenfalls steht die Frage, ob Berge überhaupt der Täter ist. Der Roman gibt jedenfalls, soviel sei gesagt, keine eindeutige Antwort.

Warum ist diese spannend geschriebene Kriminalgeschichte – in der es viel und oft um die Frage der norwegischen Identität geht, um das Verhältnis, dass die Bürger zu ihrem Land haben, um die historische Rolle der Arbeiterpartei sowie den notwendigen Wandel einer Volkspartei in einer globalisierten Welt und die sich daraus ergebenden Grabenkämpfe – nun eine Kontrafaktur? Weil die Parallelen zu Anders Breiviks Morden auf der Insel Utøya allzu offensichtlich sind. Und es sind diese bewusst konstruierten Ähnlichkeiten auf mehreren Ebenen – der Täter, die Opfer, die Rolle der Medien, die Politik, die Suche nach Gründen angesichts einer irrationalen Tat, selbst die Insel Utøya wird immer wieder erwähnt, da sie in der Vergangenheit Berges eine entscheidende Rolle spielt –, die den Roman zu einem großen Werk machen, das zum Nachdenken anregt und dabei teilweise sehr unangenehme Fragen stellt. Stellenweise könnte man sogar annehmen, Kjaerstad habe ein Plädoyer für Anders Breivik und die Relativität einer Schuldzuschreibung geschrieben. Auf jeden Fall berichtet er über die norwegische Realität mit Hilfe einer Fiktion, und dies entfaltet, auch außerhalb seines Heimatlandes, einen unheimlichen Sog.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jan Kjaerstad: Berge. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel.
Septime Verlag, Wien 2019.
500 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783902711847

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch