Flucht vor den Farbenfrohen

In „Männer in meiner Lage“ schreibt Per Petterson über Entfremdung und die dunklen Seiten der Melancholie

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es beginnt mit einem Anruf mitten in der Nacht. Arvid Jansen wird von seiner sichtlich unter Schock stehenden Exfrau gebeten, sie abzuholen, doch kann sie ihm nicht richtig vermitteln, wo sie sich überhaupt befindet. Er bekommt noch die Information, sie sei irgendwo an einem Bahnhof in der Nähe von Oslo; aufgrund seiner großen Vertrautheit mit der Topographie der norwegischen Hauptstadt gelingt es Jansen, den alten, verlassenen Bahnhof ausfindig zu machen und seine offensichtlich verwirrte Exfrau nach Hause zu fahren. Die Kinder, für die sie das Sorgerecht hat, seien bei einer Freundin, doch wie sie mitten in der Nacht an diesen seltsamen Ort gekommen ist, will er gar nicht wissen.

Auch der Leser wird im Laufe des Romans nicht erfahren, was genau vorgefallen ist. Vielmehr dient diese erschütternde Episode als Einstieg in die Gedankenwelt Arvid Jansens, der schon in früheren Romanen des norwegischen Schriftstellers Per Petterson die Hauptfigur war, und bei dem es sich um das Alter Ego des Autors handelt. Anhand eingestreuter Rückblicke gewinnt der Leser nach und nach ein Bild der gescheiterten Ehe Jansens. Seine Frau, unzufrieden mit ihrem Dasein, lernt damals neue, betont lebensfrohe Menschen kennen, die Jansen nur leicht despektierlich als „Die Farbenfrohen“ bezeichnet.

Nie erfährt man, ob es sich bei dieser Gruppierung um eine Art Sekte oder einfach um eine lose Vereinigung von Freunden beiderlei Geschlechts handelt, die es sich zum Ziel gesetzt haben, der typisch norwegischen Melancholie und Düsterheit abzuschwören und ‚mehr Farbe‘ in ihr Leben zu lassen. Jansen ist zunehmend genervt von den oberflächlichen, teils intriganten neuen Bekannten; allerdings lässt er sich von der auch sexuell offenen Atmosphäre anstecken und küsst auf einer Party eine der ‚Farbenfrohen‘. Doch wird ihm das Ganze immer mehr zuwider und seine Frau beginnt, sich von ihm, dem Grübler und Melancholiker, zu distanzieren.

In der erzählten Gegenwart wiederum versucht Jansen das Verhältnis zu seinen Töchtern zu kitten, die, aufgehetzt von der Mutter und ihren farbenfrohen Freunden, sich entschieden von ihm abgewendet haben. Jansen sucht keine Schuldigen außer sich selbst, und genau diese überzogene Selbstkritik ist es auch, die ihn noch weiter weg von Exfrau und Kindern treibt.

Per Petterson ist einer der wenigen Autoren der jüngeren norwegischen Literatur, deren Werk fast vollständig ins Deutsche übersetzt ist. Dies verwundert nicht, denn trotz der melancholischen Schwere, die über vielen seiner Romane, insbesondere über Männer in meiner Lage, liegt, ist die existenzielle Verzweiflung längst nicht so groß wie etwa in den Romanen Tomas Espedals. Sein bisweilen filmisches Erzählen und seine Sorgfalt bei der Konstruktion des Plots ermöglichen es ihm, seine Leser zu fesseln, ohne jedoch ihre Erwartungen vollständig zu erfüllen. Und es ist genau diese Leerstelle, dieses Nicht-Wissen, das in diesem Fall vor allem um die Eingangsszene kreist, das auch diesen Roman zu etwas Besonderem macht. Leichter zugänglich als viele seiner Landsleute, aber nahezu genauso bewegend.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Per Petterson: Männer in meiner Lage. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ina Kroneberger.
Carl Hanser Verlag, München 2019.
285 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446263772

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