Ein wagemutig erzähltes Stück norwegischer Langeweile

Mit „T. Singer“ wird der bekannteste Roman des norwegischen Schriftstellers Dag Solstad endlich ins Deutsche übertragen

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dag Solstad gilt als einer der größten und auch beliebtesten Gegenwartsschriftsteller Norwegens, doch sind seine Texte in Deutschland noch weitestgehend unbekannt geblieben. Dabei gehört der 1941 in Sandefjord geborene Solstad keineswegs zur Generation der (auch nicht mehr so jungen) Wilden um Karl Ove Knausgård und Tomas Espedal, sondern kann durchaus als moderner Klassiker bezeichnet werden. Auch haben seine Bücher wenig mit der Bekenntnisliteratur jener norwegischen Schriftstellergeneration zu tun, sondern sind vielmehr komplexe postmoderne Textgebilde, die sich jeder Kategorisierung entziehen. Spuren von Kafka, aber auch von amerikanischen Postmodernisten wie Pynchon und Barth sind in seinen Werken zu finden. Unter seinen mittlerweile achtzehn Romanen ist der ursprünglich 1999 veröffentlichte, aber erst 20 Jahre später ins Deutsche übertragene T. Singer einer der beliebtesten.

Dass der kleine Schweizer Verlag Dörlemann sich erbarmt hat, diesen großen Schriftsteller endlich auch einem deutschsprachigen Publikum näher zu bringen, ist also aller Ehren wert. Zuvor hatte Dörlemann schon vier weitere Solstad-Romane veröffentlicht, doch erst mit T. Singer (und natürlich dem norwegischen Auftritt als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2019) wird dem Autor größere Beachtung geschenkt. Dass er diese verdient hat, zeigt dieses wunderbare Buch, das sich konsequent zwischen alle Stühle setzt. Nicht zuletzt, weil in T. Singer mindestens vier verschiedene Romane stecken, die hintereinander erzählt werden. Zwar berichtet Solstad relativ linear vom Leben seines Protagonisten zwischen dessen 31. und ca. 51. Lebensjahr, doch gibt jede Lebensphase des Titelhelden dem Roman eine vollkommen andere Richtung. Was zunächst als Roman über Kindheitstraumata erscheint, wandelt sich zu einer kafkaesken Parabel über die Industrialisierung und den ökonomischen Wandel Norwegens, wird zum biographischen Portrait eines langweiligen Jedermanns, bis schließlich, durch eine dramatische Wende, dieser Jedermann ein neues Leben beginnen muss, was den letzten, längsten und dunkelsten Teil des Romans einleitet, eine Reflexion über das Älterwerden und ein Leben voller verpasster Chancen.

Das alles wäre ziemlich trostlos, würde Solstad sich nicht für einen bewusst distanzierten Erzählstil entscheiden. Der die Figur immer nur aus der Ferne beobachtet, sie bewusst nicht charakterisiert, sondern stets nur als Archetyp begreift, dem jedoch solch seltsame Dinge im Leben geschehen, dass sich aus diesen wiederum seine Persönlichkeit (und damit die Nähe zum Leser) entwickelt. Das klingt ebenso angestrengt wie distanziert, ist es aber nicht. Meisterhaft etwa ist Solstads Gabe, den Leser im Unklaren darüber zu lassen, ob das Erzählte nun mit Humor, einem Hauch Ironie oder bitterem Ernst verstanden werden soll. Auch das postmoderne Spiel, sich selbst manchmal in den Roman einzuschreiben, indem dem Leser das Konstruktionsprinzip erläutert wird, trägt zum Gefühl der Entfremdung bei.

Das Faszinierendste an T. Singer ist allerdings, dass man als Leser bis zuletzt im Unklaren bleibt, was Solstad überhaupt bezweckt. Möchte er eine Sozialstudie über das moderne Norwegen schreiben, eine Parabel über Entfremdung und Anonymität in der Industriegesellschaft? Oder geht es dem Autor schlichtweg um gar nichts? Ist der Roman einfach nur eine Aneinanderreihung skurriler Episoden, ein wagemutig erzähltes Stück norwegischer Langeweile? In jedem Fall ist es schmerzhaft, dass Autor und Hauptfigur sich verbünden in ihrer Kälte und Gefühllosigkeit, in ihrer Unfähigkeit, Empathie oder Liebe zu empfinden. Und gerade das macht dieses Buch so wundervoll.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Dag Solstad: T. Singer. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Dörlemann Verlag, Zürich 2019.
280 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783038200659

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