Im Nebel

Hendrik Otremba bewegt sich mit seinem Science-Fiction-Roman „Kachelbads Erbe“ schwebend zwischen Diesseits und Jenseits, Krankheit und Gesundheit, Gut und Böse, Sinn und Wahnsinn

Von Christina BickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Bickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Science-Fiction-Roman Kachelbads Erbe ist nach seinem 2017 erschienenen Debütroman Über uns Schaum das zweite Werk des 35-jährigen Autors Hendrik Otremba. Es handelt von der „Kryokonservierung“, das heißt der Kältekonservierung kürzlich Gestorbener durch Stickstoff, um sie in der Zukunft mittels fortgeschrittener Technologie wiederbeleben zu können. Der Tod wäre dann nicht mehr das Ende des irdischen Leibes und Lebens, sondern würde dem leblosen Winterkoma der Frösche ähneln, die im Frühling wieder aktiv werden. In den USA kam es zur ersten Konservierung eines Menschen im Jahr 1967. Bisher werden meist nur einzelne Organe konserviert.

Durch die Thematik der „Kryonik“ bekommt der Roman einen philosophischen Charakter, denn mit ihr gerät die Sinnfrage in den Fokus. Mittels Kryonik, so die Hoffnung, lässt sich vielleicht das unvollkommene gegenwärtige Leben heilen.

In dieser Hinsicht ist das Projekt der Wiederbelebung auf Erden, an dem der Protagonist und Kryoniker Kachelbad zusammen mit anderen „WissenschaftlerInnen“ arbeitet, zugleich auch eine Art Sinnmaschine im dunklen Nebel des Lebens. Es ist eine Hoffnung, von der Kachelbads Assistentin Rosary zeugen soll, indem sie alles – quasi als Offenbarung – für die Zukunft aufschreibt. Ein Anhänger aus Schraube und Muttern als Talisman, vielleicht von einem der Kryoniktanks soll sie daran erinnern.

Der Name des Protagonisten, Kachelbad, erinnert an Bäder früher Zeiten, an solche, wie auch der Protagonist eines besitzt, mit frei-stehender Badewanne – auf vier Füßen schwebend. So wie Kachelbads Badewanne schweben auch die Romanfiguren einschließlich Kachelbad selbst zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und Kachelbad schwimmt selbst durch aufsteigenden Nebel im gekachelten Hallenbad, dem Ort, an dem sich die Katastrophe – das Jüngste Gericht – ankündigt, als er eines Tages beim Schwimmen, ausgelöst durch ein Erdbeben, gegen die Kacheln gedrückt wird.

Im Gegensatz zu den ursprünglich aus dem Orient stammenden Kacheln wirkt der Protagonist äußerlich überhaupt nicht exotisch und auffallend. Vielmehr wird er wie ein Handelsvertreter in einer Haut wie einer Verkleidung beschrieben, vielleicht 50 Jahre alt, nicht wirklich greifbar. Jedoch besitzt er – wie auch andere Figuren des Romans – die ungewöhnliche Gabe, sich für seine Umwelt unsichtbar zu machen – jedenfalls so lange, bis ihm diese besondere Eigenschaft durch ein Verbrechen verloren geht.

Den Blick auf einen Sekt im „Kachelbad“, das Ende nicht sichtbar, davon singt der 35-jährige Autor dieses Romans, Hendrik Otremba, auf experimentelle Weise mit seiner Berliner Postpunkband Messer. Doch außer den Bezügen auf die zu feiernde Unendlichkeit und der Bedeutung des Experimentes – sowohl als Motiv im Roman als auch als Stilmerkmal –, der Transgender-Romanfigur „Kim der Messerkiller bzw. die Messerkillerin“ und der dunklen Atmosphäre lassen sich keine größeren Gemeinsamkeiten ausmachen. Vielmehr scheint es dem Autor Vergnügen zu bereiten, intermediale Bezüge in seinem Werk herzustellen, die zum Assoziieren, Rätseln und Herstellen von Verbindungen einladen. Davon zeugt das Cover mit einem schwarzen, schwebenden Stein – schwarz und geheimnisvoll, jedoch keinesfalls langweilig; schwarz wie ein Teil des Granits, den die Tschernobyl-Überlebende Yulia Lisowskiy Kachelbad geschenkt hat. Davon zeugen auch die Schwarz-weiß-Fotografien des Bildkünstlers Otremba, die mit dem literarischen Werk hinsichtlich der geheimnisvoll-schwebenden Stimmung und der Handlung korrespondieren: Eine Abbildung zeigt einen Lieferwagen wie den im Roman, der die Leichen oder die zukünftigen sogenannten „Kalten Mieter“ in die Lagerhalle des sogenannten „Instituts“ Exit-US bringt, um diese zunächst im kryonischen Verfahren in eine Stasis zu versetzen und in Stickstofftanks zu konservieren, damit sie in der Zukunft wiederbelebt werden können.

Ein anderes, unscharfes Foto lenkt den Blick des Betrachters in die New Yorker Straßen von Chinatown. Es ist der Ort, an dem der Protagonist in den 80er Jahren mit David, dessen Leben tragisch von Aids überschattet wird, die Liebe seines Lebens findet. Es ist das Viertel, in dem auch der Literat und Ganove Krekov lebt, ehemals Kallmann, ein gefeierter Wiener Literat. An der mexikanischen Grenze hat Kallmann Krekov getötet, dessen Identität angenommen und als buckliger Rattenmann im Pelzmantel eine neue literarische Karriere begonnen. Das Besondere der beiden Figuren ist, dass beide drogenabhängig sind, was mit der Unschärfe des Bildes Otrembas korrespondiert.

Es ist überhaupt das Unscharfe, Nebulöse und Geheimnisvolle, was den Roman, insbesondere die Figuren, ausmacht, Spannung erzeugt und hält. So zeichnen sich viele der Figuren – Kachelbad selbst, dessen Assistentin Rosary, Auftragskiller und Transvestit Kim und Autor Kallmann – wie bereits erwähnt durch die Fähigkeit aus, sich für die Gesellschaft unsichtbar zu machen, das heißt sich so anzupassen, dass sie so unauffällig, konturlos, unscharf sind, dass sie von ihren Mitmenschen nicht bemerkt werden; eine Fähigkeit, die ihnen besondere Macht verleiht und die sie sich geschickt zunutze machen. Auch hier kommt die Sinnfrage ins Spiel, denn nur im Wechselspiel mit anderen Menschen bekommt unser Leben Sinn. Sobald wir unsichtbar bleiben, übersehen werden, verliert unser Dasein auch an Sinnhaftigkeit. Demgegenüber schaffen sich die bewusst unsichtbaren Figuren ihren eigenen Sinn in der Unsichtbarkeit.

Die Figuren bleiben durch Heroinsucht, Wahnsinn, Aids, Unglück und Verbrechen gebrochene, stigmatisierte und leidende Antihelden. Die Welt, die im Roman gezeichnet wird, bleibt unerlöst und unvollkommen, was durch die Tschernobylkatastrophe illustriert wird. Vielleicht kommt es zu einer Auferstehung, zu einem Wiedersehen in einer fremden Zeit?

Kachelbads Erbe ist ein Roman, der die Leserin beziehungsweise den Leser in seinen dunklen atmosphärischen Sog hinein in den Nebel zieht. Bisweilen kommt der Wunsch auf, die Nebelschwaden mögen sich endlich verziehen oder zumindest lichten. Doch gerade derartiger Harmonisierung, Glättung und Plattitüde entgeht Otremba, indem er nicht so schreibt wie seine Figur Dr. Wong-Hong, Chef von Exit-US, spricht: ausschließlich in abgenutzten Bildern. Vielmehr findet er seine ganz eigene, bildhafte Sprache, die teilweise auch auf bekannte Bilder rekurriert. Er pflegt dabei einen schwebenden Stil wie auch seine Romanfigur Kallmann, der ebenfalls als Autor tätig war. Sprache und Inhalt ergänzen sich damit im Roman auf gelungene Weise.

Titelbild

Hendrik Otremba: Kachelbads Erbe. Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019.
430 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455006186

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch